Bibelvers der Woche 12/2024

Absalom aber floh. Und der Diener auf der Warte hob seine Augen auf und sah; und siehe, ein großes Volk kam auf dem Wege nacheinander an der Seite des Berges.
2 Sam 13,34 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Anatomie eines Falls

Es ist eine jener Erzählungen, die man nicht so oft hört in Gottesdienst oder Schule. Absalom, der dritte Sohn Davids, hatte alle seine Brüder auf ein großes Fest ausserhalb der Stadt Jerusalem geladen. David selbst hatte die Einladung abgelehnt. Nun erreicht den König in der Stadt die Botschaft, sein Sohn Absalom habe alle Brüder ermorden lassen. David glaubt es sofort, und er zerreißt seine Kleider — verrückt vor Schmerz windet er sich nackt auf der Erde. 

Davids Bruder Jonadab aber sagt: Nein! Absalom habe nur Amnon umgebracht, den ältesten Bruder. Den hasse er unsäglich, seitdem Amnon Absaloms Schwester Tamar vergewaltigt hat. 

Zwei Geschichten treffen hier aufeinander. Eine, die Geschichte Jonadabs, entspringt der Vergangenheit. Der anderen, Davids Interpretation, gehört die nahe Zukunft:

Blutrache (2 Samuel 13)
Ein jeder der sechs Söhne, die David in Hebron zeugte, hatte eine andere Mutter. Das Mädchen Tamar war Absaloms Schwester in vollem Sinne, mit Amnon war sie nur über den Vater verwandt. Amnon aber begehrte seine Halbschwester. Mit einem Vorwand lockte er sie in seine Gemächer und vergewaltigte sie. Dabei kam auf die sexuelle Gewalt noch Blutschande. Amnon entehrte seine Schwester noch weiter. Der Ekel packte ihn, er stieß sie von sich und ließ sie von den Dienern aus dem Haus jagen. Es wäre nun an König David gewesen, die Tat zu sühnen. Er war Vater des Mädchens und zudem oberster Richter. Aber Amnon war sein erster Sohn, und so hielt der König still. Damit ist es jetzt an ihrem Bruder Absalom, die Blutschuld zu rächen…

Aufruhr (2 Samuel 15)
Absalom wiegelt das Volk auf gegen seinen Vater David. Er sammelt ein großes Heer und lässt sich zum König ausrufen. Mit seinen Getreuen flieht David aus der Stadt und beginnt einen Guerillakrieg gegen seinen Sohn. Absalom vergewaltigt demonstrativ, vor den Augen aller, die zehn Nebenfrauen Davids auf dem Dach des Königspalasts. Aber David gibt den Kampf nicht auf. Schließlich nimmt der Krieg eine überraschende Wende…

Als die Katastrophennachricht in Davids Palast eintrifft, halten die Interpretationen einander in magischer Weise die Waage. Blutrache — Aufruhr — was ist hier Wirklichkeit? Beides? Der Vers beendet den Schwebezustand, so wie eine Messung in der Quantenphysik es tut. Von ihren Türmen aus sehen die Wachen eine große Menge Volks kommen. Bald erkennt man die Königssöhne. Sie leben, und nur Amnon ist tot, wie es Jonadab gesagt hat, der es vielleicht vorher wusste… Absalom aber flieht. 

Im Film Anatomie eines Falls stirbt ein Mann, er fällt vom dritten Stock. Er könnte das Opfer seiner Ehefrau geworden sein. Ebenso aber ist Selbstmord möglich. Bis zuletzt bleibt es offen, auf sonderbare Weise ist beides wahr. Das Gerichtsurteil beruht schließlich auf der Aussage des zehnjährigen, fast blinden Sohns, der sich für eine der beiden Interpretationen entscheidet. Ich habe den Film vor ein paar Tagen gesehen, in der vergangenen Woche bekam er den Oskar 2024 für das beste Originaldrehbuch. 

Diesen Oskar hätten die Autoren der uralten Samuelbücher auch verdient! Davids Interpretation trägt gerade so viel Wirklichkeit in sich wie die Jonadabs. An welchem Punkt hat Absalom sich eigentlich gegen Aufruhr entscheiden? Als David die Einladung ausschlug und in der stark befestigten Stadt blieb? Was ist Wirklichkeit? Ist beides nicht am Ende dasselbe, der spätere Aufruhr die Folge der Gewalttat des Bruders, gedeckt durch den Vater?

Die Begründungszusammenhänge verschränken sich. Die Bibel kann das… Rund tausend Jahre nach Absalom kommt Jesus nach Jerusalem, auch er ein Sohn Davids. Auf dem Weg in die Stadt wird er verehrt wie ein König. Die Menschen streuen Palmzweige für ihn, den sie als ihren Messias erkennen, und lassen seinen Esel über ihre Kleidern gehen. In der Stadt aber erwartet ihn der Foltertod und eine Krone aus Dornen.

König? Delinquent? Was ist wahr? Beides verschränkt sich.

Der Herr segne unsere Woche,
Ulf von Kalckreuth

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