Bibelvers der Woche 09/2024

Und Saul rief und alles Volk, das mit ihm war, und sie kamen zum Streit; und siehe, da ging eines jeglichen Schwert wider den andern und war ein sehr großes Getümmel.
1 Sam 14,20

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Pflugscharen zu Schwertern

Wenn man Josua liest, bekommt man den Eindruck, die Landnahme sei ein einziger Siegeszug gewesen und am Ende habe Israel das Gelobte Land vollständig eingenommen — bis auf kleine und unbedeutende Taschen, in denen Kanaaniter und Philister sich halten konnten.

Im Buch Samuel sehen wir, dass es eher umgekehrt war. Im judäischen Land, gab es Eigenständigkeit für die Israeliten nur in kleinen Taschen. Im Großen herrschten die Philister. Sie hatten mächtige Städte an der Mittelmeerküste gegründet, trieben Handel mit der bekannten Welt und — das ist sehr wichtig — beherrschten die Gewinnung und Verarbeitung von Eisen. Dieses Metall und die Waffen, die man daraus erstellen konnte, waren die Atombombe des ausgehenden zweiten Jahrtausends. Die Zeit heißt Eisenzeit aus dem selben Grund, warum wir die Zeit nach 1945 als Atomzeitalter bezeichnen. 

Der Text um unseren Vers herum weicht Brüche auf und er ist nicht leicht zu lesen. Wir sehen die folgende Grundsituation. 

  1. Auf Seiten der Israeliten besteht eine große demographische Überlegenheit — sie können potentiell 600000 kriegstaugliche Männer ins Feld schicken.  
  2. Sauls Armee ist völlig unbedeutend und besteht aus 600 Mann. Saul ist zwar König, aber sein Königtum ist noch eher ein Versprechen. 
  3. Lokal dominieren überall die Bereitschaftskräfte der Philister. Im Text sind sie als „Wachen“ bezeichnet, Sie sind stationiert in festungsartigen, strategisch wichtigen Positionen. Ihre Anwesenheit und Bewaffnung verhinderte, dass sich militärisch relevante gegnerische Konzentrationen überhaupt formieren konnten. 

Hier schwebt ein großes und nicht realisiertes Potential. Wie kann — unter den Bedingungen von 2) und 3) — die mit 1) gegebene Überlegenheit zur Geltung kommen? In der Kolonialzeit standen viele Völker vor demselben Problem 

Zu Beginn der Handlung herrscht eine Art Frieden zwischen Philistern und Israeliten, auf der Basis gefestigter Hegemonie. Um ihre Überlegenheit abzusichern, hatten die Philister den Israeliten verboten, selbst Eisen herzustellen oder zu bearbeiten. Selbst Pflugscharen mussten bei den Philistern gekauft werden. Waffen aus Eisen waren verboten. Im ganzen kleinen Heer Sauls verfügte nur sein Sohn, Jonathan, über solche Waffen.

Das vierzehnte Kapitel im ersten Samuelbuch beschreibt etwas, das man heute als Kaskade bezeichnet. Mit einem eigentlich unmöglichen Ereignis hebt Jonathan die durch 3) gegebene Überlegenheit lokal auf. Nur von einem Schwertträger begleitet klettert Jonathan eine Felswand hoch, mit Händen und Füßen, unter Hohn und Spott der Bereitschaftskräfte der Philister. Sie erwarten ihn oben, um ihn dort niederzumachen,. Sie wollen einen Schaukampf zum Vergnügen. Aber es kommt anders. Jonathan und sein Schwertträger greifen die Garnison an und machen viele der Soldaten nieder. Die kleine Streitmacht von Saul wird dieses Vorgangs gewahr — sehr spät, aber noch rechtzeitig genug, um in das Getümmel einzugreifen und den Kampf in einen Sieg für die Israeliten zu verwandeln.

Diesen Augenblick greift unser der Vers der Woche ab. Fast aus dem Nichts heraus nimmt von hier aus die Geschichte einen neuen Lauf. Denn nun sind auf einmal viele Israeliten da, die sich Saul und seiner kleinen Kerntruppe anschließen, darunter auch solche, die es vorher mit den Philistern gehalten haben. Saul nutzt die Gelegenheit, fordert von seinen Männern das Letzte und bringt schnell ein großes Gebiet unter seine Kontrolle. Auf dieser Basis kann er nun für sein Volk einen richtigen Krieg gegen die Philister führen.

Eine Kaskade, fast wie der Urknall. Nach Auffassung von Kosmologen könnte der Ausgangspunkt dieses Urknalls eine Quantenfluktuation im Nichts gewesen sein. In einem Nichts freilich, das nicht wirklich „nichts“ war, sondern ein unermesslich großes Potential. 

Wie passt das in unsere Welt? Die ukrainischen Männer fallen mir ein, die sich vor zwei Jahren ohne jede erkennbare Erfolgsaussichten Putins hochgerüsteten Invasionstruppen entgegenstellten. Und es weiterhin tun. Und Nawalnyj! Vielleicht war dies Nawalnyjs Traum, der Grund, warum er sich freiwillig in die Gewalt seiner mörderischen Häscher begab. Kristallisationskern wollte er sein, wie Jonathan. Wir werden sehen, ob es gelingt. 

Ich schreibe dies im Zug von Frankfurt nach Hamburg. Und da fällt mir plötzlich etwas drittes ein: die Konferenz, zu der ich fahre, und die ich mit anderen gemeinsam organisiert habe. Eine Konferenz, die Menschen aus ganz verschiedenen Umfeldern dazu bringen soll, eine gemeinsame Sprache zu sprechen und ein wichtiges gemeinsames Ziel zu erreichen. 

Ob wir nun religiös sind oder nicht, eins wissen wir ja alle: Schöpfung aus dem Nichts ist möglich!

Der Herr segne und behüte uns
Ulf von Kalckreuth

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