Bibelvers der Woche 27/2025

Denn die, so irrigen Geist haben, werden Verstand annehmen, und die Schwätzer werden sich lehren lassen.
Jes 29,24

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Unsere Kinder sehen

Lesen Sie den Vers zweimal und atmen Sie tief ein und wieder aus: Die, so irrigen Geist haben, werden Verstand annehmen und die Schwätzer werden sich lehren lassen!

Das Buch Jesaja speist sich aus mindestens drei verschiedenen Quellen und unterlag einem Redaktionsprozess, der sich über viele Jahrhunderte hinzog. Aber in allen seinen Teilen ist es gekennzeichnet durch einen Wechsel von Gericht, Untergang und Errettung — ein Wechsel, der manchmal so schnell geschnitten ist, dass eine Art Gleichzeitigkeit entsteht: die drei werden eins. Unser Abschnitt entstammt den ältesten und ursprünglichsten Teilen. Er richtet sich an Jerusalem, von Jesaja hier „Ariel“ genannt. Ariel bedeutet „Löwe Gottes“, ist also eigentlich ein Kampfname. Aber schnell zeigt sich, dass Jesaja üblen Spott im Sinn hat: Der Held ist hohl und leer und bar aller Kraft und wird am Ende wahrhaftig zu „Ariel“ — das Wort kann nämlich auch Opferschale bedeuten (V.2).

Aber auch hier: wenn die Ränke und Ausflüchte versagt haben, wenn die Lage militärisch unhaltbar geworden ist und gleichzeitig alle inneren Strukturen zerbrechen, wenn die trübe Wahrheit offenkundig ist — dann wird Gott retten. Und die Rettung gipfelt in unserem Bibelvers. 

Spannend und ein wenig geheimnisvoll ist der unmittelbar vorangehende Vers: Geschehen wird dies alles, wenn wir — gemeinsam, als Volk Gottes — unsere Kinder betrachten, die Gott geschaffen hat als Werk seiner Hände, und wenn wir daraufhin seinen Namen heiligen und ihn fürchten. 

Ich habe manchmal Angst, was aus unseren Kindern wird, welche Chancen sie haben, und wie wichtig Menschen überhaupt noch sind in einer Welt, die verzahnt ist durch KI und nicht mehr durch Beziehungen lebender Menschen. Die uralte Vision Jesajas ist überraschend und zutiefst hoffnungsvoll: Wir betrachten unsere Kinder, sehen sie, erkennen sie als großartige Schöpfung Gottes, wir loben Gott und die Welt wird neu, klar und hell, durch uns, aber mit seiner Kraft. Und das Geschwätz verstummt! 

Es ist eine Frage der Perspektive. Was wir sehen, hängt davon ab, wie wir schauen. Aber wie geschieht, was uns Jesaja verspricht? Hat es mit den Kindern selbst zu tun? Was ändert es, wenn sie erfahren, dass sie Gottes großartiges Werk sind und von uns so gesehen werden?

Gern will ich meine Kinder so betrachten, in der kommenden Woche und immer. Auch wenn es nicht immer leicht ist.

Gottes Segen sei mit uns allen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 26/2025

Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist obgelegen.
Gen 32,29

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Namen

Halbzeit, Sommersonnenwende. Willkommen auf dem Gipfel, von hier führen alle Wege bergab.

Gestern dachte ich, dass ich die Betrachtung zum Vers eigentlich schon geschrieben habe, vor gut zwei Jahren nämlich. Der Bibelvers 33/2023 geht dem Vers dieser Woche unmittelbar voran, und eigentlich ist alles gesagt, dachte ich. Gucken Sie bitte rein, wollte ich Ihnen deshalb einfach zurufen.

Aber jetzt sitze ich in einem Zug. Er fährt in meine Heimatstadt. Ich will ein Grab besuchen, und die Landschaft zieht vorüber. In ein paar Tagen habe ich Geburtstag. Und vielleicht lässt sich doch noch etwas sagen. 

Da erhält jemand einen neuen Namen — von Gott. Nachdem er gekämpft hat, mit Gott, mit den Menschen und mit sich selbst. Die meisten von uns behalten ihren Namen ein Leben lang, zumindest den Vornamen. Ulf ist Ulf ist Ulf — aber ist das so? Bin ich derselbe wie vor einem Jahr, vor zehn, vierzig, sechzig? Sicher nicht. Mit diesen früheren Verkörperungen teile ich Erinnerungen. Sie können auf Ereignisse zurückgreifen, die mir auch zugänglich sind. Mehr oder weniger — ich erinnere mich anders, als sie das tun, und die Menge der gemeinsamen Erfahrungen wird mit zunehmendem Abstand schnell kleiner. Immerhin: wir, ich heute und meine Verkörperungen in der Zeit, wir tragen denselben genetischen Code mit uns herum, er konstituiert und limitiert unsere Entwicklungsmöglichkeiten. Und es gibt Konventionen: wir haben dieselben biographischen Daten, dieselben Eltern — wirklich dieselben? — und Geschwister, die denselben Namen tragen.

Eine Ähnlichkeit, also, die mit zunehmender zeitlicher Distanz abnimmt. Eigentlich müsste man von Ulf (2025), Ulf (2015), Ulf (1985) und Ulf (1965) sprechen. Das wäre nützlich. Ulf (2025) könnte sich dann mit Ulf (2015) streiten, ohne dass dabei Missverständnisse entstehen… Aber solange die Diskontinuität das normale Maß nicht überschreitet, ignorieren wir sie einfach. Auch ein Toter behält seinen Namen. Name steht für Identität. Identität ist eine nützliche Fiktion. 

Es gibt Brüche, die über das normale Maß hinausgehen. Solche Brüche können mit einem neuen Namen markiert werden. Jemand wird geadelt. Jemand wird zum Papst gewählt. Jemand wird aus der Fremdenlegion entlassen. Konvertiten erhalten oft einen neuen Namen, wenn sie mit der Taufe das Christentum annehmen. In der Bibel wird Abram zu Abraham, Sarai zu Sarah, Simon zu Petrus, Saulus zu Paulus. Und Jakob, der ‚Hinterlistige‘, wird zu Israel, ‚der mit Gott streitet‘ — oder für den Gott streitet?

New game, clean slate. Gibt es das? Im Leben nicht wirklich. Die abnehmende Ähnlichkeit mit den früheren Verkörperungen bleibt, auch wenn jemand zum Papst gewählt wird. Und die gemeinsame Erinnerung an vergangene, prägende Abscheulichkeiten auch. 

„Freut euch, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind!“. So stand es auf der Traueranzeige für meinen Vater. Im Reich Gottes werden wir vielleicht einen neuen Namen empfangen. Von Gott, wie Jakob. Beunruhigeńd ist diese Vorstellung, und schön. Wie könnte er klingen, dieser Name?

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 25/2025

Des Königs Herz ist in der Hand des HErrn wie Wasserbäche, und er neigt es, wohin er will.
Spr 21,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Der Mensch denkt, Gott…

Als Kind hatte ich eine Modelleisenbahn. Es gab einen Bahnhof mit ein paar Häusern daran, einen Berg mit Tunnel, ein Wäldchen, eine Straße. Und man könnte sich auch einen Fluß vorstellen und einen Bach dazu, der ihn speist. Montiert war die Eisenbahn mit Trafo auf einer Spanholzplatte, die man auf einen Tisch stellen konnte

Wenn Konfirmanden fragen, warum Gott das viele Leid der Welt zulässt, bekommen sie heutzutage eine moderne, aufgeklärte Antwort: Weil die Menschen ihren freien Willen nutzen, um die Welt zu einem üblen Ort zu machen. Gott kann nichts dafür. Aber warum zeigt sich Gott nicht deutlicher, fragt der Konfirmand dann weiter. Wenn Gott und seine Macht offen sichtbar wären, könnten die Menschen sich doch gar nicht für das Böse entscheiden. Sie entscheiden sich für das Böse, weil es attraktiv erscheint. Ja, und weil das so ist, hält Gott sich bedeckt, bekommt der Konfirmand dann zur Antwort. Der freie Wille des Menschen wäre doch sonst zerstört…! 

Dies Argument macht den freien Willen des Meschen zum höchsten Gut der Schöpfung, nicht das Gesetz Gottes, das die Liebe umfasst, das Vertrauen, die Geborgenheit. Gott verschwindet bis zur Selbstverleugnung hinter diesem freien Willen.

Etwas altmodischer könnte man aber meinen, dass Gott doch auch mächtig ist, allmächtig sogar. Wie übt er seine Macht aus, wenn der Wille frei bleiben soll? 

Unser Vers gibt eine interessante Antwort. Der Wille des Menschen — hier: des Königs — ist frei, aber Gott kontrolliert das Bezugssystem. Das Herz ist im Alten Testament nicht der Sitz der Gefühle, sondern des Verstandes. Ich stelle mir Herz und Verstand dieses Königs vor wie die Spanholzplatte meiner Modelleisenbahn. Flüsse, Bäche, und Seen sind darauf montiert. Die Bewegung des Wassers sind seine Gedanken. Wo wird das Wasser das Meer erreichen? Neige die Platte, und du bestimmst den Ausgang. Neige die Platte, und die Prioritäten verschieben sich. Der König sieht, was er sieht, aber je nach Neigung der Platte macht er etwas anderes, etwas neues daraus. 

Stellen wir uns Wladimir Putin vor. Er sieht die Gebiete, die er erobern will. Er muss Erfolg haben, um sein Gesicht nicht zu verlieren, um die Macht zu behalten. Er sieht die hohen Staatsausgaben, die der Krieg kostet, er sieht, wie die Kriegswirtschaft sein Land immer ärmer macht und vom Rest der Welt isoliert. Er sieht die Menschen, die auf beiden Seiten sterben. 

Auf all das kommt es nicht an, kann er denken. Dem Starken gehört die Zukunft, er kann sich die Zukunft formen nach seinem Willen. Dieser freie Wille entscheidet. Opfer müssen gebracht werden. Ich ziehe das durch bis zum Ende. 

Das ist es nicht wert, kann er denken. Mit der Ukraine leben, Handel treiben, sich ergänzen, macht beide reich. Und weiter: mit den Europäern läßt sich eine Gegenmacht aufbauen zu China und den USA. Rußland ist Teil von Europa. Dort ist unsere Zukunft.

Dieselben Fakten, dieselben Wasserwege, aber anders geneigt. Anders geneigt fließt der Jordan ins Mittelmeer, nicht ins Tote Meer. 

Und ich kann vor mir sehen, wie Gott die Spanholzplatte des Herzens von Benjamin Netanjahu neigt, oder von Donald Trump. Sie sind Könige, sie entscheiden, aber sie tun dies in einem Bezugssystem, das sie selbst nicht wirklich kontrollieren, das nicht ihr Werk ist. 

Würden sie dies bemerken? Der biblische Autor vergleicht Informationsverarbeitung und Entscheidung mit einem Flußsystem — hat dies System ein Sensorium für die Neigung im Raum? Wie frei sind wir wirklich?

Geben wir Gott Verantwortung zurück. Beten wir, dass er die Herzen neigt: von Putin, von Netanjahu, von Trump. Und auch von uns.

In dieser Woche noch…! Amen!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 24/2025

Siehe, seine Kraft ist in seinen Lenden und sein Vermögen in den Sehnen seines Bauches.
Hiob 40,16

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Behemoth und Leviathan

Es geht um ein mythisches Tier von enormer Kraft und Gewalt, den „Behemoth„, mit Betonung auf der letzen Silbe. In der Bibel wird es nur hier beschrieben. Der Behemoth ist das „erste der Werke Gottes“ — anders, als es die Schöpfungsgeschichte darlegt — blindwütige Kraft aus einer Zeit vor aller anderen Zeit. Der Behemoth beherrscht Land und Fluß, sein Gegenstück, der Leviathan, ist ein riesiges Meeresungeheuer. Sie beide sind Geschöpfe Gottes und zeugen von seiner Größe. Wer solche Wesen in die Welt setzt, ist selbst noch viel größer. Darum geht es hier. 

Der Behemoth wird gern mit dem Nilpferd in Verbindung gebracht — manche Ausgaben der Bibel setzen „Nilpferd“ an die Stelle des hebräischen Namens des Ungeheuers oder verweisen in einer Fußnote darauf. Die Beschreibung vom Leben des Behemoth im Fluß lassen in der Tat an ein ins Gigantische projiziertes Nilpferd denken. Hier finden Sie einen Link zur Beschreibung des Nilpferds in „Brehms Tierleben„, einem großen Klassiker der deutschen Sprache. Brehm beschreibt darin seine eigenen Erlebnisse mit dem Untier und die Erfahrungen, die andere damit gemacht haben. 

Schauen Sie auf den Vers. Da steht er, der Behemoth, strotzend vor Kraft und Potenz, wie der Minotaurus auf der anderen Seite des Mittelmeers

Aus Hiob hatten wir zuletzt den BdW 15/2025 gezogen. Hiob wird von Gott und dem Teufel absichtlich ins Unglück gestürzt und er begehrt auf — das habe er nicht verdient, er selbst sei gerecht und Gott daher ungerecht. Der größte Teil der vorangegangenen Diskussion Hiobs mit seinen Freunden wälzt ein einziges Argument: Gott sei vollkommen gerecht, allwissend und allmächtig — wenn es Hiob also schlecht geht, hat er sich das selbst zuzuschreiben.

Die Diskussion hat sich festgefahren, Gott steht unvermittelt unter einer Anklage, die besser begründet ist als die Streitenden wissen können — Gott selbst hat Hiob nämlich dem Teufel gegenüber als gerecht bezeichnet. In dem Abschnitt, der unseren Vers enthält, spricht Gott persönlich. In einem poetischen Monolog, der sich ins rauschhafte steigert, offenbart er seine Größe, indem er auf die empirisch erfahrbare Größe seiner Schöpfung verweist. Diese Größe macht es nicht möglich, in derselben Weise über Gottes Gerechtigkeit zu urteilen wie über die eines Menschen — werden die Regeln eingehalten? Weil Menschen die kosmischen Verzweigungen des Weltzusammenhangs nicht überblicken, in denen Gottes Handeln gerecht sein kann, obwohl es ungerecht scheint. Oder, noch grundsätzlicher, weil es für Gerechtigkeit gar kein Maß gibt, das Menschen an Gott legen könnten. 

Gott ist größer. Und wichtiger noch: Gott ist anders. Kein Mensch eben, eher eine in allen Welten aller Zeiten gleichzeitig wirkende Kraft, die alles zusammenhält und alles bedingt. Behemoth und Leviathan sind Wächter und Sinnbilder dieser unfasslichen Größe. Wir sollen uns kein Bild machen. Ist Gott gerecht oder ungerecht? Das ist wie die Frage, ob Gott ein Mann ist oder eine Frau — oder nichtbinär?

Ich wünsche uns ein frohes Pfingstfest! Der Heilige Geist sei mit uns,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 23/2025

Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen
Tit 2,11

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Gnade — für wen?

Paulus schreibt an Titus und setzt ihn als geistlichen Führer in Kreta ein. Dabei gibt er ihm Richtlinien mit, denen seine Führung folgen soll. Hier ist zunächst der ganze Satz, dessen Teil unser Vers ist: 

Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und nimmt uns in Zucht, dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilands Jesus Christus, der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken.

Über die Gnade Gottes sagt dies weniger als der überreiche Vers vom ‚Gnadenstuhl‘ in der letzten Woche — aber auch mehr. Die Gnade impliziert, ja fordert ein gottesfürchtiges Verhalten. Und dann ist da noch etwas. Jesus schafft durch das Erlösungswerk am Kreuz sich selbst ein „Volk zum Eigentum“, gereinigt und eifrig zu guten Werken — so wie es Gott durch Mose getan hat, beim Auszug der Israeliten aus Ägypten, der Gabe der Torah am Sinai und der vierzigjährigen Wanderung in der Wüste. 

Ein neues Volk Gottes? Im Vers selbst ist die Rede von „allen Menschen“. Paulus war intensiv mit seiner doppelten Identität als Jude und Christ beschäftigt, mit den Widersprüchen und wechselseitigen Verstärkungen, die das mit sich brachte. Kann er von einem neuen Volk Gottes schreiben? Aber das ist es doch, was Christen glauben, oder? 

Der Friede Gottes sei mit uns,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 22/2025

…welchen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut, damit er die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, darbiete in dem, dass er Sünde vergibt, welche bisher geblieben war unter göttlicher Geduld;…
Röm 3,25

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Gnadenstuhl

Jede Woche ziehe ich zufällig einen Vers und versuche mich in einer Betrachtung. Nie habe ich versprochen, dass der Versuch immer glückt. Heute kann er nicht glücken, aus zwei Gründen. 

Die Bibel ist nicht Theologie, Theologie wird „über“ die Bibel gemacht. Das ermöglicht auch Nichttheologen einen vollgültigen Zugang, und nur so kann etwas wie der „Bibelvers der Woche“ gelingen. Es gibt eine Ausnahme — Paulus. Paulus sammelt nicht nur, er reflektiert, ordnet und systematisiert das, was er über Jesus gehört hat, weiss und selbst erfahren hat. Paulus ist Theologe — neben dem, was er sonst ist: Missionar, Kirchenpolitiker, Gründer vieler Gemeinden und bei Licht betrachtet der ganzen Weltkirche. Unser Vers ist reine Theologie, Wissenschaft von Gott. Viele Fäden nimmt er auf und verknüpft sie, sie laufen zusammen in diesem einen Vers. Die Botschaft des neuen Testaments in einer Nussschale. Der Vers und sein zentrales Bild, der Gnadenstuhl, haben eine eigene große Webseite in Wikipedia. Es kann mir nicht gelingen, die zentralen Aspekte leicht fasslich auf einer Seite zu reflektieren. Allein die Sprache ist eine Herausforderung…

Ich selbst stehe unter den Nachwirkungen eines seelischen Schlags und habe nicht die Kraft und Souveränität, einen Aspekt herauszugreifen und darin das Ganze aufscheinen zu lassen, vielleicht mit einem Lied oder einem Bild. Immerhin kann ich die Fäden benennen, die hier zusammenlaufen: 

  • Gottes Gerechtigkeit — sie verlangt Bestrafung von Sünde und Vergehen;
  • Gottes Gnade und Vergebung — sie beinhalten das Gegenteil, nicht wahr?
  • Gottes Geduld — Aufschub der Strafe, aber bis wann? 
  • das Blut Christi und sein Opfertod — wie kann das gerecht sein?
  • Glauben — den Weg gehen;
  • Versöhnung — von Mensch und Gott.

Alles dies kommt zusammen im Bild des „Gnadenstuhls“. Das ist Luthers Übersetzung des hebräischen Worts für eine goldene Platte, welche die Bundeslade im Allerheiligsten des Temples bedeckt, ohne selbst ein Teil von ihr zu sein. Das Wort „Stuhl“ steht hier für „Sitz, Örtlichkeit“, nicht für ein reales Sitzmobiliar. Gott selbst wird über dem Gnadenstuhl als anwesend gedacht. Beim Opfer am Versöhnungstag, Jom Kippur, spritzt der Priester das Blut des Opfertiers in Richtung des Gnadenstuhls. 

Bildlich findet dort die Versöhnung statt. Für Paulus ist Jesus Christus selbst dieser Gnadenstuhl: in ihm laufen die Fäden zusammen, findet die Versöhnung statt. Und nun kann ich ihnen doch eine Gemme geben: Wie dieser Gnadenstuhl ist irgendwie der Vers selbst: er nimmt all diese Fäden auf, in ihrer Widersprüchlichkeit, und verwebt sie zu einer festen Struktur. Der Vers kann also für den Gnadenstuhl stehen, dieser steht für Jesus Christus, und der wiederum steht für die Versöhnung von Mensch und Gott — er ist diese Versöhnung. 

Versöhnung — der Friede Gottes sei mit uns,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 21/2025

Und Salomo opferte auf dem ehernen Altar vor dem HErrn, der vor der Hütte des Stifts stand, tausend Brandopfer.
2 Chr 1,6

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Weisheit und Opfer

Salomo ist König geworden. Brutale Kampfe mit seinen Brüdern waren der Machtübernahme vorangegangen. Sein Weg zum Thron war nicht vorgezeichnet: Salomo war der vierte Sohn Davids mit seiner zweiten Frau Batseba, von den neunzehn Söhnen Davids war er der zehnte (1 Chr 3). Salomo bringt ein großes Opfer. Eintausend Opfertiere, wohl Rinder zumeist, das ist selbst für einen morgenländischen König außergewöhnlich. Der eherne Altar vor der alten Stiftshütte war klein, es war der Altar, den die Israeliten bei ihrer Wanderung durch die Wüste mitgeführt hatten. Einen Tempel gab es noch nicht.

Dies sind die Bilder, die er noch vor Augen hatte, als er sich zum Schlafen legte. In der Nacht erschien Gott ihm, und forderte Salomo auf, einen Wunsch zu äußern,der Wunsch werde erfüllt. Wie im Märchen. Und Salomo wünscht sich nicht Sicherheit vor seinen Rivalen, nicht Geld und Gut, nicht Glück auf dem Schlachtfeld und Macht über die Völker ringsum, sondern er wünscht sich Weisheit. Ein weiser Wunsch, und darin liegt ein Rätsel — muß man nicht weise sein, um sich Weisheit zu wünschen? Ein Regress. Es ist ein wenig wie mit Glauben — man muß glauben, um glauben zu wollen, und man muß glauben wollen, um glauben zu können.

In einem früheren Bibelvers der Woche, BdW 47/2023 habe ich die Erzählung zum Anlass genommen, darüber nachzudenken, worauf es ankommt im Leben. Salomo bekommt Weisheit vom Herrn geschenkt, und auch das, was er sich nicht gewünscht hat. Entscheidend aber war sein Wunsch. Was steht hinter diesem Wunsch? Wo kommt er her?

Unser Vers gibt einen Hinweis: Salomos Opfer. Opfer ist Verzicht und Gemeinschaft mit dem Herrn, diese zwei. Sie können uns zu dem führen, worum es wirklich geht. 

Der Herr segne uns in der Woche, die vor uns liegt. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 20/2025

Und Ruth, die Moabitin, sprach zu Naemi: Lass mich aufs Feld gehen und Ähren auflesen dem nach, vor dem ich Gnade finde. Sie aber sprach zu ihr: Gehe hin, meine Tochter.
Rut 2,2

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Letzte Ressource: Vertrauen

Rut ist angekommen in einem fremden Land. Dies Land ist ihrer Heimat Moab seit alter Zeit feindlich gesinnt, die heiligen Schriften sind voller Schmähungen. Sie kennt niemanden. Sie ist Witwe. Und sie ist nicht allein — sie sorgt für ihre Schwiegermutter Noomi, auch sie Witwe, eine alte Frau. Immerhin ist Noomi aus der Gegend, und kennt Sitten und Gebräuche. Ruts Sprache ist dem Hebräischen ähnlich genug, dass sie sich verständigen kann, aber mit jedem Wort, das sie redet, weist sie sich als Aussenseiterin aus, als Objekt. 

Für den Rahmen der Erzählung hier ein Link zum Bibelvers der Woche 28/2021

Die beiden Frauen haben Hunger. Rut bleibt eine letzte Ressource: Vertrauen. Sie vertraut auf zwei Dinge. Da ist die sonderbare Sitte des fremden Landes, von der die Schwiegermutter erzählt hat — die Ärmsten haben das Recht, Getreide aufzulesen, das bei der Ernte liegengeblieben ist, siehe den Bibelvers der Woche 48/2019. Und sie vertraut darauf, sie muss darauf vertrauen, dass ihr unter den Knechten und Erntehelfern nichts geschehen wird.

Das ist der Inhalt des Verses: Rut bittet ihre Schwiegermutter um Erlaubnis, dies Vertrauen als Ressource einzusetzen, „dem nach, vor dem ich Gnade finde“. Sie trifft dabei auf Boas, der wegen verwandtschaftlicher Verhältnisse zur Schwiegermutter eine Schutz- und Garantenpflicht für sie hat. Damit konnte sie nicht rechnen. Es gab es eigentlich keine günstige Entwicklung, mit der sie rechnen konnte, als sie hinausging, einige ausgesprochen ungünstige Möglichkeiten dagegen waren klar konturiert.  

Ihr Vertrauen setzt sie in die Lage, sich zu bewegen, mit der Außenwelt zu interagieren, eine Lösung zu suchen, der tödlichen Starre zu entgehen. Aber es gibt keinen „Grund“ für dies Vertrauen. Es gab auch keinen „Grund“, die Schwiegermutter in dies fremde Land zu begleiten. Die andere Schwiegertochter hatte das nicht über sich gebracht und war schließlich umgekehrt, auf Bitten und mit dem Segen Noomis. Beide sind eng verwandt: die grundlose Loyalität Ruts und ihr grundloses Vertrauen ins Getragensein. Das eine aktiv, das andere passiv, aber im Wesen gleich. Denkt man beides zusammen, gibt es ein Wort dafür: Glaube.

Und so wurde Rut Ahnfrau Davids und Jesu.  

Der Herr segne uns in der Woche, die vor uns liegt. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 19/2025

Und Josua tat, wie Mose ihm sagte, dass er wider Amalek stritte. Mose aber und Aaron und Hur gingen auf die Spitze des Hügels.
Ex 17,10

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Kampf und Kampf und Kampf und Kampf

Den Titel dieser Betrachtung muß ich erklären. Es gibt eine Schlacht, in der die Israeliten gegen die Amalekiter kämpfen, die erste Schlacht in der neugewonnenen Freiheit. Die Israeliten sind am Horeb, dem Gottesberg angelangt, nicht weit vom Schilfmeer, über das sich die Israeliten vor den Wagen des Pharao gerettet haben. 

Die Schlacht kämpfen auf der ersten Ebene die Krieger. Befehligt werden sie von Josua, auch er kämpft. Mose selbst steht mit seinem Bruder Aaron und einem Gefährten namens Hur auf „dem Hügel“ (dem Horeb?) und hält die Hände zum Gebet erhoben. Israel siegt, solange er das tut, aber sobald er den Arm sinken lässt, gewinnen die Amalekiter die Oberhand. So geht es viele Stunden. Auch Mose kämpft also, unter Einsatz all seiner Kräfte. Seine Gefährten stützen ihn. Und eigentlich und in vierter und letzter Instanz kämpft Gott der Herr selbst. 

Das ist ein wichtiges Bild und es soll nach dem Willen Gottes erhalten bleiben. Mose soll die Geschichte aufschreiben, damit Josua und das Volk sich erinnern. Das ist sehr interessant, richtig spannend: der Text selbst gibt späteren Redaktoren eine klare Anweisung. Was immer ihr auch tut; diese Geschichte muß bewahrt bleiben. 

Es gibt ein eigentümliches Moment der Ungleichzeitigkeit. Josua ist Oberbefehlshaber der Israeliten. Erst zwei Jahre später tritt er wieder in Erscheinung, und zwar als Späher, der im Auftrag Mose das Heilige Land erkundet, siehe Num 13 und 14, und BdW 40/2018. Die Amalekiter, so berichten die ausgesandten Späher, wohnen im Süden des Gelobten Landes. Dann dauert es noch einmal fast vierzig Jahre, bis die Invasion tatsächlich beginnen kann, und zwar unter Josua. Mose hatte ihn vor seinem Tod zum Oberbefehlshaber ernannt. Zu dieser Zeit haben nur zwei Menschen — Josua und Kaleb — die Flucht aus Ägypten selbst erlebt. Kann Josua damals schon General gewesen sein? Und wenn die Amalekiter im Süden Kanaans wohnen, wie kommt es zu einer Schlacht unweit des Schilfmeers? Passt die Beschreibung der Schlacht zu einer großen Zahl entlaufener Bausklaven, waffenlos und militärisch völlig unerfahren?

Die Geschichte würde viel besser in die Zeit der Landnahme passen, mit Josua als Führer eines kampferprobten Heeres und den Amalekitern als militärische Gegner im Süden des Heiligen Lands. Aber da lebte Mose nicht mehr, so erzählt es die Torah.

Ich habe eine Freundin, die Religion grundsätzlich ablehnt. Sie fragte mich einmal, wie ich mit solchen Inkonsistenzen umgehe. Ich habe geantwortet, dass ich Widersprüche genau betrachte, weil man dabei über die Entstehung eines Texts und seiner Tiefendimension lernt. Und dann wende ich den Blick ab vom Widerspruch und hin zur Botschaft der Geschichte.  

Trotz der Spannung mit dem Kontext blieb die Geschichte in der Torah — weil ihre Botschaft wichtig ist: Wer betet, tut mitnichten nichts, er handelt. Gegebenenfalls kämpft er sogar. Beten verändert unsere Realität, mit Gottes Hilfe. Und manchmal brauchen wir dabei Unterstützung. 

Der Herr segne uns in der Woche, die vor uns liegt. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 18/2025

Alles, was ihr tut, das tut von Herzen als dem Herrn und nicht den Menschen,…
Kol 3,23

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Dienst am Herrn

Der Abschnitt, aus dem wir gezogen haben, ist in meiner Bibel mit „Die christliche Haustafel“ betitelt. Paulus wendet sich an eine idealisierte Tischgemeinschaft und sagt jedem, worauf es ankommt im Umgang miteinander: Männern, Frauen, Kindern — und Sklaven. Sklaven, in der Bibel auch Knechte genannt, hatten in der Antike oft eine Stellung, die nicht dem heutigen Vorstellung von Sklaverei entspricht. Auf einem Hof waren unfreie Knechte besser gestellt als die auf den Märkten tage- oder stundenweise angeworbenen Tagelöhner: war bekamen die ersteren für ihre Arbeit kein Geld, sie waren aber Mitglied des Haushalts, hatten verlässliche Versorgung und ein stabiles soziales Umfeld, und ihr Herr hatte Fürsorgepflichten. Am ehesten entspricht dem „Knecht“ der Bibel heute ein abhängig beschäftigter Arbeiter oder Angestellter.   

Und was sagt Paulus diesen Knechten? Sie sollen so arbeiten, als gelte ihre Arbeit Gott dem Herrn!

Wow! Das ist nicht trivial. Es gibt nur einen einzigen Weg dahin: sie müssen in ihrer Arbeit den Willen Gottes erkennen. Es mag etwa schlicht Wille Gottes sein, dass ich mich oder meine Familie ernähre. Oder eine wichtige Aufgabe erfülle: Paulus selbst hat als Zeltmacher hart gearbeitet, um seine Mission in Korinth fortsetzen zu können. Die Arbeit mag ihren Sinn in sich tragen — ihren Wert in den Augen Gottes. Oder es gelingt mir, ihr einen zu geben. Ich selbst hatte mein ganze Leben hindurch Arbeit, die ihren Sinn in sich trug, und heute weiss ich, dass dies kein Zufall ist. Wenn man den Sinn nicht sieht, kann man ihn suchen, und wo er sich nicht zeigt, mag man die Arbeit anders machen, dass sie einen Wert erhält in den Augen Gottes. 

Und bedenken Sie: Paulus sagt dies den Knechten — weggehen ist keine Option. Die Menschen, sagt Paulus, sollen Gott dort dienen, wo sie sind. „Blühe, wo du gepflanzt bist“, sagt Franz von Sales, Heiliger der katholischen Kirche und sehr erfolgreicher Gegenreformator. Luther seinerseits lehrte ähnliches. Wir sollen Gottes Werk dort tun, wohin er uns gestellt hat. Von liberaler Seite bekommt er dafür noch heute auf den Hut. 

Mein Konfirmationsspruch lautet: „Befiel dem Herrn deine Werke, so wird dein Vorhaben gelingen!“, Spr 16,3. So ist es — ganz empirisch. Solche Verse suchte damals der Pfarrer aus, es war seine Aufgabe, weiter zu sehen als der Konfirmand. Paulus hat recht und Franz von Sales und Luther und auch mein Pfarrer Oettermann vor fast fünfzig Jahren. Erkenne in deiner Aufgabe den Willen Gottes, und etwas Wertvolles wird daraus! 

Ich muß nicht Tierarzt in der Serengeti sein, in Lateinamerika für Bürgerrechte kämpfen, Missionar in Myanmar sein oder Arzt für die Armen in Kalkutta. Ich kann dort arbeiten und wirken, wo ich alles Wichtige kenne und verstehe, in Frankfurt zum Beispiel. Das klingt ausgesprochen brav, aber es liegt eine geheime und große subversive Macht darin: wenn ich blühen kann, wo (immer) ich gepflanzt bin und dabei den Willen Gottes tun — was kann mich vernichten? 

Der Herr schärfe unseren Blick für sein Werk im Alltag!
Ulf von Kalckreuth