Und die Kinder Israel, die aus der Gefangenschaft waren wiedergekommen, und alle, die sich zu ihnen abgesondert hatten von der Unreinigkeit der Heiden im Lande, zu suchen den HErrn, den Gott Israels, aßen…
Esr 6,21
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Zirkuläre Zeit
…und hielten das Fest der ungesäuerten Brote sieben Tage mit Freuden; denn der Herr hatte sie fröhlich gemacht und das Herz des Königs von Assyrien zu ihnen gewandt, daß sie gestärkt würden im Werk am Hause Gottes, der der Gott Israels ist. (Vers 22, Lutherbibel 1912).
So die Fortsetzung des begonnenen Satzes. Er hat so viele Bestandteile, dass auch ein deutscher Muttersprachler leicht ins Schleudern kommen kann, aber sein Kern ist die schlichte Aussage: „Und die Kinder Israel aßen.“ Was aßen sie? Das Passamahl, das schon so lange nicht mehr regelrecht gefeiert worden war. Es gab wieder einen — notdürftigen — Tempel, es gab wieder Leviten für die Opferdienste. Das Leben Tür an Tür mit Gott hat wieder begonnen. Mit dabei waren Nichtjuden, die sich zum Gott dem Herrn bekannten, auch das sagt der Vers. Gültiges Recht: Ex 12,48 lässt die Teilnahme von beschnittenen Nichtjuden ausdrücklich zu.
Tür an Tür mit Gott: Darum geht es im Tempel. Er wurde als Seine Wohnstatt betrachtet. Und als immer größere Teile der nach Babylon verschleppten Elite wieder nach Jerusalem zurückkehrte, bauten die Juden einen neuen Tempel.
Wie einst die Stiftshütte, welche die Kinder Israels auf ihrer Wanderung begleitete, noch in der äußersten Entfremdung, als der Herr beschloss, dass die ganze Generation derer, die aus Ägypten geflohen war, in der Wüste sterben sollten. Erst ihre Kinder würden das gelobte Land sehen. Wie einst der salomonische Tempel, den dann die Babylonier in Flammen aufgehen ließen. Wiederum äußerste Entfremdung: die Juden verloren alles, nicht nur Gott und seinen Wohnsitz, sondern auch ihre Freiheit und ihre Heimat.
Der Vers und sein Umfeld erzählen vom Ende dieser Phase. Gott und sein Volk waren wieder zusammengekommen. Nicht dauerhaft, wieder nicht: Im Jahr 70, wiederum an einem Passafest, begann Titus seinen Angriff auf Jerusalem. Er endete mit der völligen Zerstörung des Tempels und der Zerstreuung des jüdischen Volks im römischen Reich. Flavius Josephus berichtet, dass sich wegen des Passafests während der Belagerung etwa 3 Millionen Menschen in der Stadt befanden, von denen 1,1 Millionen ums Leben kamen.
Die alte hebräische Sprache kennt keine Zeitformen, nur Aspekte: Handlungen können entweder punktförmig und faktisch sein, oder sich auf einen Zeitraum beziehen, Möglichkeitscharakter haben oder Regelmäßigkeiten beschreiben. Vergangenheit und Zukunft sind dabei keine eigenständigen Kategorien. Im alten Judentum waren sie nicht wesentlich unterschieden: In der Wahrnehmung der Menschen vollzog Zeit sich in Zyklen, die sich nicht exakt wiederholten, sondern spiralförmig verliefen. Vergangenes blieb relevant für die Zukunft, die nahe und ferne Geschichte des Volks hat stets Bedeutung auch für das Leben des Einzelnen.
Hier also, mit unserem Vers, treffen Gott und sein Volk sich wieder, und eine glückliche Phase der jüdischen Geschichte setzt ein. Wie die Bewegung eines Pendels, der Schlag eines gigantischen Herzens. Diese Bewegung, hin und her, bestimmt die ganze Bibel, bis hin zu den letzten Kapiteln der Offenbarung. Wer oder was treibt das Pendel? Wann kommt es zur Ruhe?
Der Herr sei mit uns in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth