Bibelvers der Woche 15/2021

Laban antwortete und sprach zu Jakob: Die Töchter sind meine Töchter, und die Kinder sind meine Kinder, und die Herden sind meine Herden, und alles, was du siehst, ist mein. Was kann ich meinen Töchtern heute oder ihren Kindern tun, die sie geboren haben?
Gen 31,43

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die Macht der Perspektive

In dieser Woche bin ich in der Nutzung meiner Augen ein wenig eingeschränkt, soll nicht lesen und auch möglichst wenig schreiben… Wie schön ist es da, dass ich vor fast drei Jahren Gen 31,42 gezogen habe, der dem Vers dieser Woche unmittelbar vorangeht. In jenem Vers erfährt eine lange schwelende Konfliktsituation ihre letzte Zuspitzung. Ein Gewaltausbruch scheint zwingend. In dem für diese Woche gezogenen Folgevers verwandelt einer der Antagonisten die Situation tiefgreifend. Hier gibt es Näheres zu dieser faszinierenden Szene und einen Kommentar.

Es ist wie ein Wunder: Laban erhält seinen Anspruch aufrecht, und dies durchaus mit gewissem Recht. Dies alles ist seins. Aber statt sich mit diesem Anspruch weiter gegen seinen Schwiegersohn zu wenden, fragt er plötzlich, wie er seinen Töchtern und deren Nachkommen am besten dienen kann. Die Antwort ist klar — sicher nicht, indem er den Schwiegersohn umbringt. Er bietet diesem statt dessen ein Bündnis an. Und den beiden Skorpionen in einer Flasche, Laban und Jakob, gelingt eine friedliche Trennung. 

Das ist mehr als Zauberei. Zauberei ist nämlich unmöglich, Perspektivwechsel nicht! 

Der Herr sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 14/2021

Und weil sie den HErrn auch fürchteten, machten sie sich Priester auf den Höhen aus allem Volk unter ihnen; die opferten für sie in den Häusern auf den Höhen.
2 Kö 17,32

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Ungleiche Geschwister

Manchmal ist die Bibel nicht so großherzig, wie ‚man‘ sie gern hätte. Gottes Wort ist sie, überliefert aber von Menschen, die in ihrem eigenen Leben stehen und in dem ihrer Gemeinschaft. Da tut sich gelegentlich ein Spalt auf.

Der Abschnitt, in dem unser Vers steht, berichtet von der Entstehung der samaritanischen Gemeinschaft. In der letzten Woche war schon die Rede davon: das Nordreich Israel war im Jahr 720 v. Chr. vom assyrischen König Sargon II im Rahmen einer Strafaktion erobert und als selbständiger Staat zerschlagen worden. Teile der Bevölkerung wurden deportiert und andere Bevölkerungsgruppen auf dem Land um die frühere Hauptstadt Samaria angesiedelt. Im 2. Buch der Könige wird berichtet, dass alle Einwohner des Nordreichs deportiert wurden und die Bevölkerung vollständig ausgetauscht wurde. Das ist schwer vorstellbar, aber es hat klare Konsequenzen: ihre Nachfahren waren nicht Volk Gottes, sie gehörten nicht ‚dazu‘. Die zehn der zwölf Stämme Israels, aus denen sich das große Nordreich zusammensetzte, gelten in der Tradition als ‚verschwunden‘. Aber viele Jahrhunderte später, zu Jesu Zeiten, selbst heute noch, leben im Norden Palästinas „Samariter“, oder Samaritaner, die den Gott Israels verehren und eine hebräische Torah haben — die fünf Bücher Mose, mit einigen Unterschieden zur jüdischen Fassung. Sie sind Nachfahren der Bevölkerung, die sich nach dem Untergang des Nordreichs herausbildete. Die Samaritaner haben einen Tempel auf dem Berg Garizim, in dem der traditionelle Opferbetrieb während der letzten zweieinhalb Tausend Jahre nie ganz eingestellt wurde, und sie sehen sich als Träger einer Tradition, die unverfälscht ist von späteren Zusätzen. 

Später brach auch das Südreich Juda zusammen, auch dort mussten viele Menschen die Heimat verlassen. Das Exil und dann die Rückkehr bedeutete eine schwierige Zeit der Identitätsfindung, der Wiedergeburt und des Neubeginns. In dieser Zeit entstanden die Bücher der Könige. Die Samaritaner waren für das sich neu formierende Judentum eine Herausforderung. Sie hatten eine Tradition und einen Anspruch, der ebenso weit zurück reichte wie der eigene. Und sie vertraten das größere der Brudervölker.

Der Abschnitt aus 2. Kö weist diesen Anspruch schlicht von der Hand. Die Samaritaner seien gar keine Nachfahren Abrahams, Isaaks und Jakobs. Dass sie dennoch Gott den Herrn verehren, erklärt der Text so: die neuen Siedler aus fremden Völkern wurden ständig von bösartigen Löwen angegriffen. Die Assyrer führten die ungewöhnlichen Attacken darauf zurück, dass der Herr des Landes, der Gott Israels, nicht ordnungsgemäß verehrt werde, und der assyrische König befahl daher seine kultische Verehrung. Ein Priester des früheren Nordreichs sei entsandt worden, eine Priesterkaste auszubilden. Daneben aber führten die neuen Einwohner ihre eigenen, spezifischen Kulte fort. „So fürchteten diese Völker den Herrn und dienten zugleich ihren Götzen. Auch ihre Kinder und Kindeskinder tun, wie ihre Väter getan haben, bis auf diesen Tag“ (2.Kö.17,41). Der Text delegitimiert die Samaritaner, und er ist Grundlage für fortwährende Aus- und Abgrenzung, in biblischer Zeit und weiter bis heute.

In der vergangenen Woche hatten wir einen Vers gezogen, in dem Gott nach seinen Kindern im untergegangenen Nordreich ruft. Und ich schrieb, dass der Ruf ohne Antwort blieb. War das richtig? Kam nicht die Antwort von den Samaritanern? 

Die Fortexistenz dieser uralten Gemeinschaft über die Jahrtausende hat in meinen Augen Zeugnischarakter. Ihre Anzahl ist heute auf 800 Menschen geschrumpft. Aber geschichtlich sind sie — beständig über die Zeit — Kinder einer uralten Katastrophe, des Untergangs des Nordreichs im Jahr 720 v. Chr. Das Judentum in seiner heutigen Form ist Ergebnis einer anderen Katastrophe, des Untergangs des Südreichs 586 v. Chr. und des Exils. Und ist das Christentum, als eigenständige Religion jedenfalls, nicht teilweise Ausfluss einer dritten Katastrophe: der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Römer im Jahr 70, gepaart mit massenhafter Vertreibung? 

Hier liegt ein Geheimnis, eine Art geistliche Dialektik. In der Konsequenz sind diese drei gleichartigen Katastrophen identitätsstiftend, werden Grund für neues geistliches Leben, auf je verschiedene Art. Neue Welten auf den Trümmern der alten. Gottes Treue zeigt sich darin auf sehr eigene Art. Verweist dieses Muster etwa auch auf die Auferstehung? 

Frohe Ostern!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 13/2021

So kehret nun wieder, ihr abtrünnigen Kinder, so will ich euch heilen von eurem Ungehorsam. Siehe wir kommen zu dir; denn du bist der HErr, unser Gott.
Jer 3,22

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Ruf ohne Antwort

Früh im Buch Jeremia spricht Gott zu seinen beiden Völkern, Israel und Juda. Israel, das Nordreich mit Hauptstadt Samaria, war reichlich 100 Jahre zuvor von den Assyrern in seiner staatlichen Existenz ausgelöscht worden. Viele Menschen waren deportiert worden, umgekehrt hatten die Assyrer auf dem Gebiet des Nordreichs fremde Völker angesiedelt, deren Nachkommen nun neben den Nachkommen der Hebräer lebten. Juda, dem Südreich mit Hauptstadt Jerusalem, steht ein ähnliches Schicksal durch die Babylonier kurz bevor. Das ganze Buch handelt davon, die ersten Kapitel stehen im Zeichen einer Warnung.

Gott will Israel verzeihen und ruft sein Volk. Die Abschnitte enthalten eine vorweggenommene Vision von der Rückkehr aus dem Exil. Wo sie auch sind, sollen sie kommen und sich in Jerusalem versammeln und dort gemeinsam mit Juda Leuchtturm aller Völker sein. Wer eine frohe Botschaft sucht, kann sie hier finden — noch 100 Jahre nach dem Untergang gedenkt der Herr seines Bundes und seines Volks. 

Im ersten Satz ruft Gott sein Volk, es möge zurückkommen. Im zweiten Satz imaginiert er die Antwort: ein freudiges Ja, verbunden mit tiefer Reue. In der Übersetzung von 2017 lautet der Text im Zusammenhang der folgenden beiden Verse:

Kehrt zurück, ihr abtrünnigen Kinder, so will ich euch heilen von eurem Ungehorsam. »Siehe, wir kommen zu dir; denn du bist der Herr, unser Gott. Wahrlich, es ist ja nichts als Betrug mit den Hügeln und mit dem Lärm auf den Bergen. Wahrlich, es hat Israel keine andere Hilfe als am Herrn, unserm Gott. Der schändliche Baal hat gefressen, was unsere Väter erworben hatten, von unsrer Jugend an, ihre Schafe und Rinder, Söhne und Töchter. So müssen wir uns betten in unsere Schande, und unsre Schmach soll uns bedecken. Den wir haben gesündigt wider den Herrn, unsern Gott, wir und unsere Väter, von unsrer Jugend an bis auf den heutigen Tag, und haben nicht gehorcht der Stimme des Herrn, unseres Gottes.«

Die in der neuen Übersetzung hinzugefügten Anführungszeichen erhellen den Text und verdunkeln ihn zugleich. Sie trennen sauber zwei Ebenen: das Rufen Gottes und die imaginierte Antwort seines Volks. Eigentlich ist beides eines: Gott ruft, weil er diese Antwort erhofft. Wie ein Vater, der nach seinem Kind ruft. 

Der Vers ist tragisch. Die Antwort kommt nicht. Es kommt gar keine Antwort. Vielleicht ist auch niemand mehr da, der antworten könnte. Gott, der Herr der Welt, zeigt sich hier hilflos und verletzlich. Er, dessen Wort die Wirklichkeit schöpft, spricht, und was er sagt, kommt leer zurück. Ich muß an König Lear denken, wie er auf der Heide im Sturm seine Töchter ruft — und Jeremia ist Zeuge, als hilfloser Narr.

Der Herr geleite uns durch diese Karwoche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 12/2021

Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.
Mat 10,16

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Von Schafen und Wölfen

Wir stellen uns Jesus gern inmitten seines Gefolges von Jüngern vor. Aber die Evangelien berichten von einer Zeit, in der die Jünger ohne ihren Meister unterwegs waren, selbständig predigten und Wunder wirkten, schon vor Ostern. Im Matthäusevangelium steht die Begebenheit etwas isoliert: die Jünger werden mit einer langen Rede ausgesandt, sind aber in den folgenden Kapiteln weiter bei Jesus,. Von ihrer Rückkehr und ihren Erlebnissen erfährt man nichts. Lukas berichtet von zwei Aussendungen, einmal der Zwölf (Lk 9), ein anderes Mal von 72 Jüngern (Lk 10). Bei der zweiten Aussendung fallen viele der Worte, die wir auch bei Matthäus finden. 

Was Jesus seinen Jüngern in der Aussendungsrede sagt, ist harte Kost — Passionskost. Sie werden Verfolgung erleiden, sagt er ihnen, von ihren nächsten Verwandten verraten, und alle Welt wird sie hassen. Wenn sie vor Gericht gestellt würden, sollten sie sich nicht sorgen, der Heilige Geist werde ihnen eingeben, was zu sagen sei. Wie ernst das gemeint war, konnten die Jünger nicht wissen. Ich muss an Stephanus denken, an seine große Rede und an sein Ende, siehe den BdW 3/2019

Unser Vers stellt eine schwer zu erfüllende Forderung. Sie wird in ein Paradoxon gekleidet, ein Bild mit vier Tieren. Jesu Jünger seien wie Schafe, die unter Wölfen leben müssten. Sie sollen daher listig sein wie Schlangen, aber doch wie Tauben, ganz ohne Falsch. Sie sollen sein, was sie sind, dabei aber ihre Fähigkeiten und ihr Wissen um menschliches Verhalten bestmöglich nutzen. 

Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir ein Held meiner Jugend ein, ein bekennender Atheist übrigens: Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Nach einer Bilderbuchkarriere in der KPdSU wurde er Generalsekretär des ZK. Nach zwei rasch verstorbenen Interimsführern wollte die Partei Reformen, aber in Maßen — alles sollte sich ändern, damit alles so bleiben könne, wie es war. Gorbatschows Auftrag war, den Repressionsapparat zu stabilisieren und zukunftsfähig zu machen. Er kannte diesen Apparat genau, konnte sich frei darin bewegen, konnte ihn steuern und für seine Ziel nutzen. Mental war er zu gewaltsamen Lösungen durchaus fähig.

Und — oder besser aber — auf fast magische Weise setzte er Jesu Forderung um. Seine Ziele legte er offen, ohne Falsch wie die Tauben, und wie eine Schlange gelang es ihm, das Wichtigste davon umzusetzen und so lange an der Macht und am Leben zu bleiben, bis der Prozess unumkehrbar war. Ein Wunder in Zeitlupe, vor laufenden Kameras. Das Risiko kannte er, auch sein persönliches. Sechs Jahre nach seinem Amtsantritt war die Gewaltherrschaft in Ost- und Mitteleuropa fast gewaltfrei beendet und die Länder konnten ihren Weg selbst wählen. „Fast“ — denn in Litauen und in Aserbaidschan setzte er die Armee tatsächlich ein und hunderte Menschen starben. 

Gorbatschow war nicht wirklich Schaf im Wolfspelz, eher wohl Leitwolf unter Wölfen, der verstanden hatte, dass Schafe besser leben. Ein Wolf mit einer großen Idee. Der Bezug auf ihn aber mag zeigen, wie schwer die Forderung Jesu ist. Fast eine Quadratur des Kreises: in der Welt leben und überleben mit dem Wissen um die Welt, doch aber dem treu, worum es wirklich geht. Und diese Forderung richtet sich an uns alle, jeden Tag neu. In unserem eigenen Leben und dem unserer Nächsten sind wir die Spitzenpolitiker. Die nötige Kraft aber muss der Herr verleihen.

In zwei Wochen ist Ostern. Der Herr geleite uns durch diese Passionszeit!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 11/2021

Seine Augen sind wie eine Feuerflamme, und auf seinem Haupt viele Kronen; und er hatte einen Namen geschrieben, den niemand wusste denn er selbst.
Off 19,12

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Namen

Die Offenbarung des Johannes beschreibt den Untergang der alten Welt und die Heraufkunft einer neuen. In Kapitel 19 hat der Endkampf den Höhepunkt erreicht. Die Hure Babylon, sie steht für das römische Weltreich, ist untergegangen. Nun tritt Christus selbst auf. Er führt seine Heiligen und Engel in den Kampf gegen „das Tier“, den Antichrist. Jener führt ein mächtiges Bündnis der Könige der Welt, er steht vielleicht für die Macht der Welt an sich. Vor ziemlich genau einem Jahr, in Woche 13 /2020, hatten wir einen Vers aus demselben Kapitel gezogen.

Vor der Entscheidungsschlacht steht die Vorstellung des Protagonisten. Wir hatten ihn kennengelernt als Heiler, Prediger, Lehrer, Prophet und leidender Gottesknecht. In diesem Abschnitt aber ist er Kämpfer, Führer, König — ganz Messias. Er richtet und kämpft mit Gerechtigkeit, so heißt es. Im Endkampf von Gut und Böse ist von Liebe, Mitleid, Erbarmen und Gnade keine Rede. Hier ist der ganze Abschnitt: 

Und ich sah den Himmel aufgetan; und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hieß: Treu und Wahrhaftig, und er richtet und kämpft mit Gerechtigkeit. Und seine Augen sind wie eine Feuerflamme, und auf seinem Haupt sind viele Kronen; und er trug einen Namen geschrieben, den niemand kannte als er selbst. Und er war angetan mit einem Gewand, das in Blut getaucht war, und sein Name ist: Das Wort Gottes. Und ihm folgten die Heere im Himmel auf weißen Pferden, angetan mit weißer, reiner Seide. Und aus seinem Munde ging ein scharfes Schwert, dass er damit die Völker schlage; und er wird sie regieren mit eisernem Stabe; und er tritt die Kelter, voll vom Wein des grimmigen Zornes Gottes, des Allmächtigen, und trägt einen Namen geschrieben auf seinem Gewand und auf seiner Hüfte: König aller Könige und Herr aller Herren. (Off 19, 11-16)

Dem Christus werden Namen beigegeben. Nach alter Tradition offenbaren Namen die Eigenschaften des Bezeichneten. Sie stehen für seine Identität, und machen ihn in gewisser Weise verfügbar. Die Nennung steht in Entsprechung, aber auch in gewissem Kontrast zu Jes 9,5: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst“. 

Die hier genannten Namen sind „Treu und Wahrhaftig“, „Wort Gottes“ und „König aller Könige, Herr aller Herren“. Im gezogenen Vers ist darüber hinaus von einem vierten Namen die Rede. Er wird nicht genannt, weil er nicht genannt werden kann, weil niemand ihn weiß denn er selbst. 

Gott hat viele Namen in der Bibel. Als er sich offenbaren, nahbar machen will, stellt er sich Mose mit seinem Eigennamen vor. Wir haben diesen Namen teilweise vergessen: Die Konsonanten kennen wir noch, nicht mehr die Vokale. Das setzt der Verfügbarkeit Grenzen. Mit der Gestalt des Christus ist es vergleichbar. Wir sind mit ihr vertraut — dafür stehen die bekannten Namen. Aber Wesentliches an ihr bleibt unverfügbar, bleibt ein Geheimnis.

Die Bilder des Abschnitts sind in mancherlei Hinsicht erschreckend. Aber ich denke an den Reiter auf dem weissen Pferd, dem die Heere des Himmels folgen, sie alle angetan mit weisser Seide, und ich empfinde in eigentümlicher Weise Trost dabei. Oh when the saints go marching in… Vielleicht kommt es am Ende auf das an, was wir nicht wissen.

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche und immer
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 10/2021

Und der HErr sandte einen Engel, der vertilgte alle Gewaltigen des Heeres und Fürsten und Obersten im Lager des Königs von Assyrien, dass er mit Schanden wieder in sein Land zog. Und da er in seines Gottes Haus ging, fällten ihn daselbst durchs Schwert, die von seinem eigenen Leib gekommen waren.
2.Ch 32,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

„Aber“-Glauben

Erinnern Sie sich noch an den Vers der letzten Woche? Der jetzt gezogene Vers führt uns in fast dieselbe Situation, aber die Ergebnisse sind spektakulär verschieden. 

Im Vers der vergangenen Woche erhält Hesekiel von Gott die Nachricht, dass die Belagerung des weit entfernten Jerusalems durch die Truppen des babylonischen Großkönigs Nebukadnezar begonnen habe. Das war der Anfang vom Ende des judäischen Reichs und König Zedekias, der versucht hatte, die Oberhoheit der Babylonier loszuwerden und die Großmächte der Zeit gegeneinander auszuspielen.

Und jetzt haben wir einen Vers, der die Errettung Jerusalems verkündet, aus derselben auswegslosen Lage. Allerdings 120 Jahre früher, im Jahr 701 vor Chr. Der judäische König ist Hiskia, der Belagerer Sanherib, Großkönig von Assyrien, und Jesaja ist der Prophet. Sanherib steht mit einem riesigen Heer vor Jerusalem, weil Hiskia ihm in den Rücken gefallen war. Die Assyrer hatten bereits eine Schneise der Verwüstung durch das Land gezogen, die Festungen waren gefallen, nur Jerusalems Mauern stehen noch. Und eigentlich ist alles vorbei. Doch dann geschieht ein veritables Wunder: Eine große Zahl assyrischer Soldaten sterben über Nacht. 2 Kön 18f gibt mehr Details. Es wird gesagt, dass 185.000 assyrische Soldaten umkommen. Sanherib bricht den Feldzug ab. Viele Jahre später wird er durch seine eigenen Söhne getötet.

Ich will nicht unerwähnt lassen, dass assyrische Quellen die Geschehnisse anders berichten und von einem Sieg mit großer Beute sprechen. Mir ist die Historizität hier weniger wichtig als die Aussage an sich, die bibelimmanente Wahrheit sozusagen. Wie in einem Laborexperiment zeigen uns die Bibelverse dieser und der vergangenen Woche zweimal dieselbe Situation, mit entgegengesetztem Ausgang. Während der babylonischen Belagerung erinnerten sich die Bewohner Jerusalems durchaus an die wundersame Errettung vor den Assyrern und zogen daraus Hoffnung, es könne auch diesmal gut gehen. Aber es ging nicht gut. 

Was will das heissen? Straft Gott oder rettet er? 

Bibelverse uneingeschränkt zufällig zu ziehen, stellt Erzählstränge nebeneinander, die sonst getrennt sind. Wenn man es aushält, kann das eine Stärke sein. Die Propheten, besonders die drei „großen Propheten“, Jesaja, Jeremia und Heskiel, verkünden ja beides — Strafe und Gnade, Vernichtung und Erlösung. Die Geschichtswerke der Bibel stützen dies Bild einerseits und versuchen es andererseits zu ordnen, zu erklären, welche Verfehlungen welcher Könige das Unheil heraufbeschwören und wie es sich immer wieder auch abwenden lässt. Wie etwa durch Hiskia übrigens, dem Reformkönig, der den Gottesdienst neu ordnet und auf dessen Gebet hin Gott die Zeiger der Weltuhr zurückdreht, siehe 2. Kön 20.

Beides also, Unheil und Erlösung. Auch im Neuen Testament ist beides präsent, am deutlichsten in der Apokalypse und bei Johannes. Gott rettet nicht ständig, sonst sähe die Welt anders aus. Aber er hat auch keinen unbedingten Vernichtungswillen. Selbst nach der Katastrophe von 586 v. Chr. fand sich das Judentum im fernen Exil geistlich neu, und 2000 Jahre nach einer weiteren Katastrophe, nach Diaspora und Shoa, gibt es einen lebendigen Staat Israel, welcher der Welt in manchem Respekt abnötigt. 

Regenfall und Sonne an der Saalburg, UvK 2021
Regenfall und Sonne an der Saalburg, UvK 2021

Unter Christen hat es sich eingebürgert, Unheil und Erlösung zeitlich und in der Realitätsebene zu ordnen — die Welt als Ganze geht dem Untergang entgegen, die Rettung erfolgt „nachher“, in der Transzendenz. Aber geht es hier nicht auch im Kern um die Bedingtheit des menschlichen Lebens zwischen Geburt und Tod, zwischen Wachstum und Katastrophe? Legt nicht immer eines den Keim des anderen, auch in den menschlichen Gemeinschaften? Gehören sie nicht zusammen wie Zwillinge und damit notwendigerweise zu Gott, wenn er Schöpfer der Welt und des Lebens ist? Muß nicht Gott Herr zugleich von Licht und Dunkel sein, wenn er Herr der Welt ist? 

Es kann also nicht genügen, in jeder Lebenslage auf Rettung zu vertrauen. Ein solches Vertrauen würde am Ende enttäuscht. Ich denke, es geht statt dessen darum, sich in beidem, Unheil und Erlösung, in Gott geborgen zu fühlen. Ein Freund von mir bezeichnet diese paradoxe Haltung als „Aber“-Glauben. In 2 Kor 4, 8-9 schreibt Paulus: Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um. 

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche, ob nun die Mauer fällt oder nicht!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 09/2021

Du Menschenkind, schreib diesen Tag an, ja, eben diesen Tag; denn der König zu Babel hat sich eben an diesem Tage wider Jerusalem gelagert.
Hes 24,2

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Den Schuss hören

Ein Vers für die Passionszeit. Er markiert den Anfang vom Ende. Im Januar 588 v. Chr schickte der babylonische König Nebukadnezar seine Truppen gegen das unbotmäßige Jerusalem, und anderthalb Jahre später, im Juli 587 v. Chr., fiel die ausgehungerte Stadt — das Ende der staatlichen Eigenständigkeit Judas und des jüdischen Volks, bis zur Staatsgründung Israels zweitausend Jahre später. Im gezogenen Vers nun eröffnet Gott dem Hesekiel / Ezechiel, dass die Belagerung begonnen hat. Er soll das Ereignis mit genauem Datum festhalten. Der Prophet Hesekiel wohnt in Tel Abib am Fluß Kebar in der Nähe von Babylon, wohin er gemeinsam mit anderen im Zuge der ersten babylonischen Eroberung rund zehn Jahre früher verschleppt wurde.

Ein Ereignis wird notiert. So weit, so gut. Das Besondere liegt darin, dass der Beobachter rund 2700 Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt lebt — das neubabylonische Reich ist wirklich ein Großreich. Zu Pferd benötigt man für diese Entfernung wohl zwei bis drei Monate. Wir haben das beinahe vergessen, aber ohne moderne Kommunikationsmittel übersetzt sich die räumliche Distanz in eine zeitliche. Das ist wie bei der Explosion eines Sterns: wenn er fünf Lichtjahre entfernt ist, erfahren wir davon erst nach fünf Jahren. Es ist heute schwer vorstellbar, wie man in der Antike Reiche dieser Größenordnung überhaupt verwalten konnte. 

Was wir also sehen, ist eine Sonderform der Prophetie. Das Ereignis, von dem Hesekiel erfährt, liegt in der Gegenwart, er ist aber dennoch mehr als zwei Monate davon getrennt. 

In der Ökonomie gibt es das auch. Daten zu sammeln und zu verarbeiten kostet Zeit, und so können Analytiker einen katastrophalen Wirtschaftseinbruch erst mit größerer Verzögerung genau beziffern. Vorher muß man sich mit mehr oder weniger guten Konjekturen behelfen. Wir konnten das sehen, als es darum ging, die Schäden zu beziffern, die Corona angerichtet hat. „Nowcasting“ — abgeleitet von „Forecasting“ — nennt man den Versuch, durch Nutzung innovativer Datenquellen und Projektionsmethoden das laufende Wirtschaftsgeschehen früher zu quantifizieren, als es auf Basis der amtlichen Statistik möglich wäre. Man kann sagen: Nowcaster erkennen die Zeichen der Zeit, noch bevor sie manifest geworden sind. 

Hesekiel hört den Schuss. Er steht in ständigem Austausch mit Gott. Er versteht, was geschieht und gibt es weiter. Schön ist das nicht für ihn. Im selben Kapitel erfährt er vom Tod seiner geliebten Frau und er darf nicht trauern — Gott verbietet es ihm. Der Austausch mit Gott ist für ihn nicht nur eine Quelle der Kraft, wir wir es gern sehen würden. Oft ist die Begegnung angsterregend und gelegentlich führt sie ihn an den Rand seiner geistigen Gesundheit. Man muss sich fragen, wie Hesekiel es so lang ertragen konnte. 

Es bedarf wohl auch des eigenen festen Entschlusses, den Schuss hören zu wollen. 

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche, und chag sameach purim!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 08/2021

Und er tat, was dem HErrn wohl gefiel, doch nicht wie sein Vater David; sondern wie sein Vater Joas tat er auch.
2.Kö 14,3

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

2+ für einen Versager

Unser Vers enthält ein zusammenfassendes Urteil über die Herrschaft von König Amazja, Herrscher von Juda, Es ist fast uneingeschränkt gut. „Nur die Höhen wurden nicht entfernt, sondern das Volk opferte und räucherte noch auf den Höhen“.

Der Leser selbst könnte zu einem ganz anderen Urteil kommen — die Regierung Amazjas war nämlich eine Katastrophe für Juda. Amazja war Sohn von König Joasch. Dieser war einer Verschwörung der Großen des Landes zum Opfer gefallen. Amazja gelang es, die Verschwörer seinerseits zu töten, er verzichtete aber darauf, wie die Bibel vermerkt, die Rache auf ihre Familien auszudehnen. Er führte einen erfolgreichen Krieg gegen die Edomiter, Judas Dauerfeind. Aber dann wollte er richtig hoch hinaus.

Israel, das große Reich im Norden, war geschwächt und hatte Gebiete an die Aramäer abtreten müssen. Amazja nun, als er sich stark genug fühlte, forderte den König des Nordreichs zu einer Feldschlacht heraus. Dieser antwortete erst blumig „Der Dornstrauch, der im Libanon ist, sandte zur Zeder im Libanon und ließ ihr sagen: Gib deine Tochter meinem Sohn zur Frau. Aber das Wild auf dem Libanon lief über den Dornstrauch und zertrat ihn.“ Aber Amazja bestand auf seiner Feldschlacht und bekam sie schließlich. Sein Heer wurde zerrieben, er selbst als Gefangener nach Jerusalem geführt, die Mauer der Stadt wurde zerstört und der Tempelschatz geplündert. Viele Jahre später fiel auch er, wie schon sein Vater, einer Verschwörung zum Opfer. Der Fluchtversuch in eine Festung an den Grenzen seines Reichs war vergeblich. Mehr zu Amazja berichtet 2. Chr 25, darunter eine sehr häßliche Geschichte über einen Massenmord an Kriegsgefangenen. 

Warum also die 2+ für Amazja? Das will so gar nicht passen. 

Die Bücher der Könige wurden verfasst während und nach dem Exil. Die Autoren suchten nach Gründen für die Katastrophe, die Auflösung der staatlichen Verfasstheit von Juda und Israel, der beiden Reiche, in denen Gott der Herr verehrt wurde. Es wird nachgezeichnet, wie sich zunächst im Reich Davids und Salomos alle Versprechen Gottes erfüllten, und danach in einer langgezogenen Abstiegsbewegung eine Entfremdung sich vollzog, weil die Könige und ihre Völker den Bund nicht halten wollten. Die Bücher lassen die Regierungszeit und das Leben der Könige Israels und Judas chronologisch Revue passieren. 

Am Anfang der Vita eines jeden Königs steht ein generelles Urteil über ihn und seine Regierung. Einen solchen Vers haben wir gezogen. Bei dem Verdikt stehen Themen im Vordergrund, denen die Autoren der Königsbücher eine zentrale Bedeutung im zerrütteten Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk beimessen. Die Könige werden danach beurteilt, wie sehr sie diesen Entwicklungen Vorschub leisteten oder ob sie etwas dagegen taten. Dabei ging es zum einen um die fortgesetzte Verehrung anderer Götter, vor allem Baals und Astartes. Ausserdem verstießen beide Länder gegen die Zentralisierung des Gottesdienstes In Jerusalem. Im Nordreich baute man eigene Tempel, die in Konkurrenz zu Jerusalem standen, in Juda wurde dem Herrn auch auf den ‚Höhen‘ geopfert und geräuchert, also auf Altären, die frei im Hügelland standen. 

Auf dieser Skala schnitt Amazja offenbar insgesamt gut ab. Und das ist interessant für mich, der ich am Frühstückstisch sitze, an einem Dienstagmorgen in Frankfurt am Main. Der Vers sagt uns nämlich, dass es am Ende nicht immer um die üblichen Erfolgsmetriken geht. Und: Hat Amazja eigentlich gewusst, was bei ihm am Ende zählt? Wahrscheinlich nicht. Was könnte es bei uns sein? Wissen wir es?

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 07/2021

Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. So jemand die Welt liebhat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters
1. Joh 2,15

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gott und die Welt

Absage an die Welt — mit diesen Worten ist in der neuen Lutherbibel der Abschnitt überschrieben, aus dem unser Vers stammt. Der Vers gibt einen Kern johannäischer Theologie wieder: den Dualismus von Göttlichem und Weltlichem. Es gibt ihn bereits im jüdischen Ursprung des Christentums, aber bei Johannes wird eine Gegnerschaft, eine Feindschaft daraus. Die Welt hat sich gegen Gott entschieden und sich ins Dunkel gewandt. Gott hat seinen Sohn geschickt, fleischgewordene Torah, er ist das Licht im Dunkel, zu dem die Menschen sich wenden können — und es zumeist nicht tun. Die Welt ist vergänglich und dem Untergang geweiht und mit ihr jeder, der sich an ihr festhält. Ewig hingegen ist Gott: wer sich dem Licht zukehrt, den nimmt er auf. 

Wir haben also die Wahl zwischen der Liebe des Vaters und dem Hang zur Welt, sagt Johannes.

Der Dualismus hatte eine ungeheure Wirkung in der Geschichte der christlichen Religion. Die Gegnerschaft von Gott und Welt festzustellen ist gleichbedeutend mit der Aufforderung, sich der Welt ab- und Gott zuzuwenden. In der Frühzeit der Kirche waren es die Eremiten und Asketen, später die Mönchsorden, die Büßer und die Ordensritter, die diesem Ruf folgten. Der große Prediger Wilhelm Busch spricht von der „verfluchten Welt“, die jeder Großstadtpfarrer kennt.

Wovon sollen wir uns abwenden? Sich von der Welt abzuwenden kann ja auch bedeuten, die eigenen ungelösten Probleme zu entsorgen, in der Gewissheit noch dazu, das Rechte zu tun. Wilhelm Busch meint eine Welt ohne Gott, die sich sinnlos um sich selbst dreht. Man kann sein Leben in Selbstmord wegwerfen, sagt er, oder in Vergnügen und Genießen. 

Aber die Welt — das sind auch Sonne, Mond und Sterne, das Meer und der Himmel über dem Gebirge, sind Ehepartner, Kinder, Eltern und Freunde, Musik und Kunst. Hat nicht Gott die Welt erschaffen? Ist sie nicht sein Interface, spricht er nicht durch sie zu uns? Die Welt als Ganze abzulehnen wirkt wie eine höhere Form der Undankbarkeit — und auch etwas arrogant. Kann ich meinen Nächsten lieben, wenn ich die Welt hasse? Gott selbst sehen wir nicht — wenn wir ihn nicht in der Welt und in den Menschen suchen, die darin leben, so können wir ihn nur in uns selbst zu finden hoffen, wie es die Mystiker taten. Kann ich das wagen? 

Wir alle sind ja auf Entzug gesetzt, was die Welt betrifft, und Fasten schärft die Sinne. Ich bin heute (Dienstag) nach mehreren Tagen wieder draussen. Es ist ein hellsonniger Tag, klirrend kalt, nach so vielen dunklen Wochen. Matsch und Morast sind überfroren von Reif, Eis und Schnee, der Boden trägt wieder und ist griffig, das Gehen fällt leicht, trotz der Rückenschmerzen. Das Eis blitzt. Kälte und Licht ergreifen nach und nach Besitz von den trüben Gedanken und machen sie bedeutungslos und unwirklich. Ich kann wieder reden mit Gott und meinen Platz sehen in der Welt. Ich schicke einer Freundin einige Bilder.

Nein, wenn ich mich gänzlich abkehre von der Welt, kann ich mich ebenso verlieren, wie wenn ich ihr verfalle. Abkehren muß ich mich von dem, was krank macht an Leib und Seele. Das ist sicherlich viel, aber ebenso sicherlich nicht alles. Denn auch Gott ist in der Welt, sonst wäre sie nicht. 

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 06/2021

Wie man einen Knaben gewöhnt, so lässt er nicht davon, wenn er alt wird.
Spr 22,6

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Wann werden wir, was wir sind?

Ja, so ist. Das meiste dessen, was wir sind, sind wir von Jugend auf. Die Kinder übergewichtiger Eltern sind öfter als andere selbst übergewichtig. Wenn in einem Haus viel Musik gemacht wird und Kinder ein Instrument spielen lernen, bleibt ihnen Musik oft ins Alter hinein erhalten. So steht es auch mit Bewegungsgewohnheiten und Sport und dem Gebrauch der Sprache, aber auch grundlegenden Persönlichkeitsmerkmalen wie Leistungsmotivation oder Frustrationstoleranz.

Wieviel von dem, was Sie heute ausmacht, waren Sie schon mit 15 oder 18 Jahren? Wir kommen zur Welt und alles an uns ist Potential, ist offen, im genetisch gegebenen Rahmen jedenfalls. In der Jugend erhält dieses Potential seine Ausprägung, koaguliert und gerinnt der fast unendliche Raum von Möglichkeiten zu dem, was wir Persönlichkeit nennen. Man mag dies als Verlust bedauern, aber die Persönlichkeit ist das Chassis für die Fahrt durchs Leben. Ohne ihre Strukturen, ihre Gewohnheiten geht es nicht. 

Der 2500 Jahre alte Merksatz trifft also den Nagel auf den Kopf. Aber führen wir wirklich nur das Skript aus, das unsere Jugend für uns geschrieben hat? Schimpansen sind uns sehr ähnlich. Bei ihnen aber schliesst sich mit der Pubertät das Fenster, in dem sie lernen können. Sie sind dann „fertig“. Der Mensch ist offener. Wir können uns aktiv mit den Problemen auseinanderzusetzen, in die unsere Gewohnheiten uns bringen, auch als Erwachsene noch. Bei manchen mögen zum Beispiel die erworbenen Essgewohnheiten zu einer Krise und zu einer bewussten Neubesinnung führen. Hier ist die Verantwortung für das eigene Leben verortet. Die Jugend ist der Aufschlag für das Spiel, aber der Punkt ergibt sich aus dem Ballwechsel. 

Zum Buch der Sprüche und seinen Eigenarten habe ich vor einigen Wochen geschrieben, und auch davon, dass seine Einsichten nicht im engeren Sinne theologisch sind, siehe den BdW 50/2020. Es geht um Weisheit für das Leben als Ganzes. Der Vers mag uns in zweifacher Weise an unsere Verantwortung erinnern. Zum einen ist es gleichermaßen schwierig und notwendig, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Nie können wir uns einfach wünschen, jemand anders zu sein — wir müssen uns mit unserer Bedingtheit auseinandersetzen. Aber tun wir es nicht, bleiben wir in unseren Routinen gefangen. 

Zum anderen tragen wir mit unserem Leben in der Familie eine Verantwortung für unsere Kinder. Die Machtkämpfe, das Geschrei, sind am Ende unwichtig — unter dem Strich bleibt, was die Kinder in ihrem Leben „danach“ stark macht oder schwach, glücklich oder unglücklich. Das kann eine wichtige Anregung sein, wenn man monatelang zu viert eingesperrt ist. 

Zuletzt mag man sich fragen, was eigentlich unsere Seele ausmacht — ist es der unendliche Möglichkeitenraum des Kindes oder die geronnene Persönlichkeit des Erwachsenen? Worin sind wir Gott näher? „Ihr sollt werden wie die Kinder“, sagt Jesus, „denn ihrer ist das Himmelreich.“ Vielleicht schließt sich da ein Kreis.

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth