Bibelvers der Woche 04/2020

Und wie er uns deutete, so ist’s ergangen; denn ich bin wieder in mein Amt gesetzt, und jener ist gehenkt.
Gen 41,13

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Rot und Schwarz

Josef war ein Visionär, ein Träumer, den seine Träume in Sklaverei und Gefängnis gebracht haben, aber auch ins höchste Staatsamt der Supermacht Ägypten. Unser Vers berichtet davon, wie dieser Wechsel gelingt, wie Josef eine Reputation als Traumdeuter erlangt. Er sitzt im Gefängnis des Pharao, zusammen mit zwei anderen Gefangenen, dem Mundschenk und den Bäcker des Pharao. Die beiden hatten in derselben Nacht zwei unterschiedliche, aber strukturähnliche Träume. Josef deutet sie: der Mundschenk wird in drei Tagen vom Pharao wieder in sein Amt eingesetzt, und den Bäcker wird der Pharao in drei Tagen hinrichten lassen. Und so geschieht es auch, auf einem Fest für den Pharao. 

Die beiden Gefangenen, nennen wir sie B und M, sind exakt in derselben Situation, und die Begleitumstände legen nahe, dass der Ausgang entweder Tod oder Befreiung sein würde. Es gab also vier Möglichkeiten: B stirbt, M kommt frei, B kommt frei und M stirbt, beide kommen frei und beide sterben. 

Wenn Josef nichts von Träumen verstünde, wäre klar, wie er sich verhalten müsste. Er würde beiden die Freilassung voraussagen. Ist die Deutung für einen der Gefangenen falsch und wird er hingerichtet, so bliebe dies für Joseph ohne Folgen. Kommt er aber frei, so könnte er sich an die ihm günstige Prophezeiung erinnern und Josef helfen. Und tatsächlich bittet Josef den Mundschenk (nicht aber den Bäcker), nach der Begnadigung seiner zu gedenken.

Spieltheoretisch ist Josefs Vorgehen nur dann sinnvoll, wenn er tatsächlich WEISS, wie die Sache ausgeht. Im Nachhinein belegt dies seine Fähigkeiten. Der freigelassene Mundschenk vergisst ihn dennoch zunächst, erinnert sich seiner aber, als am Hof verzweifelt ein Traumdeuter gesucht wird, und er erzählt die Geschichte dem Pharao. An dieser Stelle steht unser Vers.

In unserem Vers wird der Pharao unvermittelt damit konfrontiert, dass Josef seine eigene Entscheidung (!) vorhersagt, vielleicht noch bevor er sie getroffen hat. B stirbt, M lebt. Warum nicht umgekehrt? Josef bezieht seine Traumdeutung von Gott. Gott kennt den Ausgang und lässt ihn Josef wissen. Wer nun hat den Mundschenk sterben lassen? Der Pharao? Gott? Beide? 

Unser Schicksal ist weitgehend durch das bedingt, was andere Menschen tun — und natürlich durch unser Verhalten ihnen gegenüber. Hier gibt es für mich ein geheimnisvolles Zwischenreich: Handelt Gott durch die Menschen? Oder ist er Notar? Oder beides? Die Bibel lässt die Antwort offen, nicht nur hier, auch anderswo.

Der Pharao jedenfalls, der seine eigene Autonomie in Frage gestellt sieht, ist ungeheuer beeindruckt. Nach der Deutung seines eigenen Traums von den Kühen und den Ähren setzt er den Gefangenen zu seinem Stellvertreter ein. Er beauftragt ihn mit der Planung und Durchführung von Rettungsmaßnahmen, noch bevor es den mindesten Hinweis darauf geben kann, ob Josefs Deutung trägt.

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir zu träumen wagen, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 03/2020

Safed, Nordgaliläa

Und Manasse vertrieb nicht Beth-Sean mit den zugehörigen Orten noch Thaanach mit den zugehörigen Orten noch die Einwohner zu Dor mit den zugehörigen Orten noch die Einwohner zu Jibleam mit den zugehörigen Orten noch die Einwohner zu Megiddo mit den zugehörigen Orten; und die Kanaaniter blieben wohnen im Land.
Ri 1,27

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Identität

Aus der Wüste fallen Siedler in Palästina ein. Zwölf Stämme, sie sprechen Hebräisch. Es eint sie dies und der gemeinsame Glaube an einen Gott, der ihr Volk erwählt hat und ihnen dies Land zum Erbe bestimmt hat. Das Land soll gereinigt werden von seinen Bewohnern, die dort Städte gebaut und Landwirtschaft betrieben haben, seit mehreren tausend Jahren schon. Im Gelobten Land soll niemand wohnen als das Gottes Volk.

Aber so entwickeln sich die Dinge nicht. Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte nach dem Beginn der Landnahme gibt es weiterhin Siedlungstaschen, Ortschaften und befestigte Städte der älteren Einwohnerschaft, manche davon mächtig und übermächtig, wie die Philisterstädte am Meer. Die Eroberer sind unter sich vor allem in den unzugänglichen Gebirgszügen. Woanders leben sie Seite an Seite mit den Kanaanitern, manchmal freiwillig und im friedlichen Austausch, andernorts kriegerisch oder in stabilen Machtverhältnissen, als Tributpflichtige oder als Tributempfänger. 

Das ist die Lage nach den Eroberungsfeldzügen Josuas vor rund 3000 Jahren, wie die Bibel sie beschreibt. Der gezogene Vers ist eine Anklage: der Stamm Manasse erfüllt seinen Auftrag nicht! Wie andere Stämme auch. Im nächsten Abschnitt tritt der Engel Gottes auf und beklagt den Ungehorsam der Israeliten. Sie werden den unbedingten Schutz des Herrn verlieren.

Dahinter steht ein Alptraum, der sich wie ein roter Faden durch viele Teile des Alten Testaments zieht, vor allem die Bücher Deuteronomium, Josua, Richter und Könige: Die Israeliten vermischen sich mit den Völkern, verlieren ihre Reinheit, nehmen die Gewohnheiten der Kanaaniter an, heiraten ihre Frauen und verehren schließlich ihre Götter. Sie gehen verloren. Die Bücher durchzieht ein Schrecken vor der Durchmischung, dem Verlust der Identität.

Ich schicke diesen Vers aus Israel. Er passt gut, erschreckend gut, auf Palästina hier und jetzt. Und wirklich wird die Bibel mit Versen und Abschnitten wie diesen von ultraorthodoxen Juden als Vorlage für eine unnachgiebige Siedlungspolitik genutzt. Religionsgeschichtlich ist diese Lesart nicht „falsch“, soviel Realismus ist nötig im Umgang mit der Bibel. 

Eine andere Lesart gibt es auch. Wir alle haben ein Land zum Lehen erhalten — unser Leben. Wir können fragen, welche Siedlungstaschen unsere Reinheit vor Gott heute gefährden, unsere Identität. Wer sind uns Beth-Sean, Thaanach, Dor, Jibleam, Megiddo? Sind es Fremde und ihre Kultur? Oder eher unsere eigenen Gewohnheiten und Wege? Fernsehen, Faulheit, Achtlosigkeit? Alkohol und die neue elektronische Kultur, welche die Begrenzungen des Raums aufhebt und unsere Zeit in sich aufsaugt? 

Ich wünsche uns in dieser Woche Standhaftigkeit, Neugier und Vertrauen in Gottes große Kraft zum Guten, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 02/2020

Also auch, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.
Lk 15,10

Der Vers ist uneingeschränkt zufällig gezogen aus der Lutherbibel 1912. Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Lost and found

Jeder, der regelmäßig zur Bibel schreibt, wird irgendwann über etwas schreiben wollen, zu dem er eine frühere Ausarbeitung bereits besitzt. In der Wahrscheinlichkeitstheorie gibt es sogar einen Satz dazu. Bei mir ist es heute soweit. Die Vorlage ist allerdings kein „Bibelvers der Woche“, sondern eine Lesung für den Gottesdienst vom November 2018, also vor etwas mehr als einem Jahr. Ich habe mich damals sehr intensiv mit dem Abschnitt auseinandergesetzt, und sie hat meinen Blick auf Gott und mein Leben verändert. Ich kann heute nichts Substanzielles hinzufügen. Ich will den Text aber auch nicht anpassen, glätten oder als Steinbruch verwenden. Daher gebe ich ihn hier ungekürzt wieder. Dem Anlass entsprechend ist er etwas länger und die Sprache bekenntnishafter als gewohnt. Wenn Sie möchten, können Sie ihn als Dokumentation betrachten.


Schriftlesung 11. November 2018, Kirche des Nazareners, Frankfurt Hügelstr.

Wir alle gehören zu Gott. Das ist unser Geburtsrecht. Aber was geschieht, wenn wir verloren gehen? Was geschieht mit uns, was geschieht bei Gott? 

Ich habe eine sehr alte Erinnerung. Ich war jünger als Mathilde jetzt, noch vor der Scheidung meiner Eltern, in der alten Wohnung, als mein Vater mir eines Abends erklärte, dass Eltern und Kinder immer Eltern und Kinder bleiben, und dass er stets für mich da sein werde, auch wenn ich jemanden umgebracht hätte. Ein sonderbares Bild für einen Sieben- oder Achtjährigen, vor fünfzig Jahren zumal, aber ich habe es nie vergessen! 

Jesus hat dazu drei Gleichnisse, sie stehen in Lukas 15. Die ersten beiden will ich hier lesen, das dritte steht nachher im Mittelpunkt von Lars’ Predigt. Ich lese Lukas 15, 1-10:

Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.

Vom verlorenen Schaf
Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Vom verlorenen Groschen
Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

Jesus spricht hier über die besondere Zuwendung, die er für die Verlorenen hat, die Zöllner und Prostituierten, die Gottesfernen. Er setzt voraus, dass jeder normal denkende Mensch die 99 Schafe verlässt, um nach dem einen verlorenen Schaf zu suchen. Nur dann funktioniert das Gleichnis. Es ist sein Bild, um plausibel zu machen, dass Gott es genauso hält. Also: Da ist auf der anderen Seite jemand, der sucht! Dem nichts wichtiger ist als diese Suche! Das ist die erste frohe Botschaft der Gleichnisse.

Aber da gibt es noch, etwas versteckt, eine zweite Botschaft. Das verlorene Schaf ist wichtiger als die Herde, der gefundene Groschen Grund für ein Fest, Grund zur Freude im Himmel und auf Erden. Wie kann das sein? Was ist mit den anderen Schafen? Warum diese besondere Freude? 

Geschieht vielleicht in Scheitern und Umkehr etwas Besonderes und Unersetzliches, das mehr ist als eine bloße Wiederherstellung?  

Ja, ich glaube, genauso ist es. Wer scheitert und versteht, dass er aus eigener Kraft nichts mehr vermag, der hat die Chance sich zu öffnen für die grenzenlose Kraft Gottes, in seinem Leben und durch sein Leben Veränderungen zu bewirken. Der Heilige Geist, Gottes heilige Kraft zu Veränderung, ist dort, wo jemand verloren geht und zurückfindet. 

Der Psalmist hat dafür ein sehr starkes, beinahe krasses Bild. David hat sich mit Batseba und dem Mord an Urja schwer versündigt und wird von Nathan zur Rede gestellt. David ist moralisch am Ende. Psalm 51 gibt sein Bußgebet wieder. Im zweiten Teil heißt es: 

12 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz
und gib mir einen neuen, beständigen Geist.
16 Errette mich von Blutschuld, / Gott, der du mein Gott und Heiland bist,
dass meine Zunge deine Gerechtigkeit rühme.
18 Denn Schlachtopfer willst du nicht, / ich wollte sie dir sonst geben,
und Brandopfer gefallen dir nicht.
19 Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist,
ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten.

David spricht hier von geistlicher Wiedergeburt. Wiedergeburt geschieht nicht dadurch, dass man eine Pille schluckt und plötzlich alles rosa ist. Wiedergeboren werden kann mit Gottes Hilfe jemand, der verloren gegangen ist und dies auch weiß:

Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist, 
ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten…

Geängsteter Geist, zerschlagenes Herz — vielleicht wissen Sie, was das bedeutet? Das ist überhaupt nicht attraktiv, nicht hip, auch nicht nach den Maßstäben des Alten Testaments. Ist denn das frohe Botschaft? 

Ja!  Das ist frohe Botschaft, gerade das! Am Tor zum Reich Gottes stehen die, die wissen, dass sie vor Gott nichts vorweisen können und daher alles von ihm erwarten. Vielleicht vor allem sie! Und so kann am Ende gar die Sünde selbst, die Gottesferne, in Gott einen Sinn erhalten. Hier ist Gottes Gnade, das ist ihr Kern!

Für mich hat das sogar eine ganz bestimmte Melodie. Ich kenne diese Melodie seit meiner frühesten Kindheit, die Botschaft verstehe ich erst heute. John Newton hat vor seiner geistlichen Wiedergeburt ein Sklavenschiff als Kapitän befehligt. Er geriet in einen Sturm, und die Lage war aussichtslos. Er betete und das Schiff wurde gerettet. Das hat sein Leben völlig verändert, vom Sklavenhändler wurde er zum Kämpfer gegen die Sklaverei. Hier ist sein Lied, Sie kennen es:

Amazing grace, how sweet the sound,
That saved a wretch like me!
I once was lost, but now I am found,
Was blind, but now I see.

‚Twas grace that taught my heart to fear,
And grace my fears relieved;
How precious did that grace appear,
The hour I first believed!

Hallelujah! Amen!

Ende Ansprache 11. November 2018

Wie damals könnte ich das heute nicht schreiben… Mich erinnert der BdW an eine wichtige Erfahrung. Ich wünsche uns eine Woche, in der wir nicht nur suchen, sondern wissen, dass wir selbst Gesuchte sind!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 01/2020

In der Gegend des Jordans ließ sie der König gießen in dicker Erde, zwischen Sukkoth und Zaredatha.
2.Ch 4,17

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Den Tempel bauen

Die Abschnitte rund um den Vers handeln davon, wie König Salomo den Tempel baut. Er macht es natürlich nicht selbst. Hunderttausende arbeiten zeitweilig daran, wie berichtet wird. Unter anderem werden alle „Fremden“ herangezogen, von mehr als hundertfünfzigtausend wird berichtet, um im Gebirge die Steine für den Tempel zu hauen und nach Jerusalem zu bringen. 

Die Einrichtung des Tempels, Bronzegefäße, Leuchter, der Altar, das „Meer“, in dem die Priester sich wuschen, die Cherubim im Allerheiligsten, und so viel anderes mehr, stand unter der Aufsicht von Hiram aus Tyrus. Diesen Baumeister, Kunsthandwerker und Berater schickte der König von Tyrus seinem Verbündeten Salomo für das große Werk. Der König, gleichfalls Hiram mit Namen, machte das Werk auch durch umfangreiche Lieferungen von kostbaren Hölzern aus dem Libanon möglich. Seine Stellung in der biblischen Erzählung kontrastiert sonderbar stark mit dem, was Jesaja über einen späteren König von Tyrus schreiben wird, siehe den BdW 50/2019. 

Hiram, der Baumeister war nur mütterlicherseits Hebräer, sein Vater kam aus Tyrus. Für die Freimaurer ist Hiram eine Art Heiliger, der besondere Einsichten hatte, und ein besonderer Mensch muss er in der Tat gewesen sein. Das Opfer war Gemeinschaft mit Gott, der Ort dafür war der Jerusalemer Tempel, und um diesen Tempel kreisen die Schriften des Alten Testaments in fast schon obsessiver Weise. Und die Geräte, immer wieder einzeln aufgezählt, wurden geschaffen von einem Ausländer. 

Ich selbst befinde mich gerade laut Google Maps rund 1600 Meter Luftlinie von der goldenen Kuppel des Felsendoms entfernt. Dort stand vermutlich das Allerheiligste des Tempels, mit den zwei großen Cherubim, die Hiram schuf. Der Tempel ist Vergangenheit und doch auch nicht — irgendwie kreist diese Stadt weiter um das Areal. Für Juden ist er als geistiges Objekt höchst präsent, und für Muslime ist der Felsen unter dem Dom der Ort, auf dem die Welt gegründet ist. 

Es ist dies ein schöner Vers für den Beginn des neuen Jahres. Ich habe trotz Internetrecherche nicht verstanden, wozu beim Bronzeguss „dicke Erde“ oder „fester Lehm“ nötig ist. Manche Bibelübersetzungen, so auch die neue Lutherbibel, halten „dicke Erde“ (‚avi ha’adama) gar für einen Ortsnamen. Wie dem auch sei, wer einen Tempel einrichten will, braucht nicht nur Genie und fast unbegrenzte Ressourcen, sondern er muss sein Werk auch gut gründen, in dicker Erde eben. So ungefähr verstehe ich die Wendung.

Ich wünsche uns allen für das kommende Jahr dicke Erde genug, dass wir unsere Aufgaben und unseren Auftrag erfüllen können, was immer diese auch seien, und darin glücklich sind!
Jerusalem, 29. Dezember 2019, Ulf von Kalckreuth

Jerusalem Altstadt, Jahreswende 2019/2920
Jerusalem, Altstadt, Jahreswende 2019/2020

Bibelvers der Woche 52/2019

Ein Knecht aber des Herrn soll nicht zänkisch sein, sondern freundlich gegen jedermann, lehrhaft, der die Bösen tragen kann…
2. Tim 2,24

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Die „Bösen tragen“

Hier ist der letzte BdW in diesem Jahr. Er richtet sich an diejenigen, die Führungsaufgaben in der Gemeinde haben, im weiteren Sinne aber auch an jeden, der geistliche oder weltliche Führung übernimmt: nicht nur Politiker und Manager, auch Eltern, Lehrer und Leiter von Arbeitskreisen.  

Zum besseren Verständnis hier zunächst den vollständigen Satz in der Fassung von 2017: 

Ein Knecht des Herrn aber soll nicht streitsüchtig sein, sondern freundlich gegen jedermann, im Lehren geschickt, einer, der Böses ertragen kann und mit Sanftmut die Widerspenstigen zurechtweist. Vielleicht hilft ihnen Gott zur Umkehr, die Wahrheit zu erkennen und wieder nüchtern zu werden aus der Verstrickung des Teufels, von dem sie gefangen sind, zu tun seinen Willen.

Die Aufforderung enthält drei Elemente: 

  1. Wir sollen das, was wir gelernt und erfahren haben, weitergeben, in Paulus Worten: „lehrhaft“ sein. Unser Wissen und unsere Erfahrungen sind ein Schatz, den Gott uns anvertraut. Wir sollen den rechten Gebrauch davon machen 
  2. Wir sollen freundlich dabei sein, nicht „zänkisch“. Das steht mit Absicht sogar an erster Stelle. Und es ist schwer. Wenn ich von einer Wahrheit überzeugt bin und noch dazu den Auftrag habe, sie weiterzugeben — wie soll ich die Geduld bewahren, wenn andere nicht interessiert sind, nicht zuhören, nicht verstehen, gar spotten? Wie soll ich ruhig bleiben, wenn andere aus guten oder weniger guten Gründen das gerade Gegenteil behaupten?
  3. Das, was uns dennoch an Unwillen entgegenschlägt, sollen wir ertragen und standhaft bleiben. Auch das ist schwer. 

Ein Vers für mich, denke ich. Als ich ihn las, dachte ich nicht zuerst an Führung im Gemeindekontext, sondern an meine Rolle als Vater. „Lehrhaft“ bin ich, sicher, diesen Auftrag habe ich immer ernst genommen. Aber bei den anderen beiden Forderungen sieht es viel schlechter aus. Ich musste auch an meine Arbeit denken. Vor einigen Jahren bin ich an den Forderungen 2 und 3 gescheitert, weil für mich Forderung 1 über allem stand.

Da gibt es Rückkopplungen. Je schlechter es um Forderung 3 bestellt ist, umso schwerer ist Forderung 2 zu erfüllen. Und umgekehrt — je gereizter jemand auftritt, umso eher wird er Reaktionen ernten, die schwer zu verdauen sind. 

Wir müssen unsere Aufgaben ernst nehmen. Und ohne Freundlichkeit, und ohne die Fähigkeit, ungerechte und verletzende Reaktionen anderer zu ertragen, können wir sie nicht erfüllen. Das weiß jeder, der mit Kindern zu tun hat. Warum ist es denn dann so schwer? Wenn wir unfreundlich werden, und wenn wir uns zu leicht verletzen lassen, geht es eigentlich nicht mehr um unsere Aufgabe, sondern um unsere Eigenliebe. Ist sie verletzt, so hindert uns dies an allem anderen. Im Grunde lädt uns also Paulus ein, unsere Eigenliebe zu vergessen und NUR an die Aufgabe zu denken. Denn dann dienen ja die zweite und dritte Forderung der ersten, es gibt keinen Widerspruch und kein Problem! 

Aber ist das denn möglich? Ich selbst bin gescheitert, ich darf das fragen. Auch Paulus hatte seine Probleme. Bei Forderung 2 hilft uns, dass wir uns als Erlöste sehen dürfen. Wir müssen nichts beweisen, wir müssen nicht unbedingt recht behalten, wozu? Und Forderung 3 zu erfüllen ist dann nicht schwer, wenn und solange wir uns als Kinder Gottes sehen und den anderen auch. Und wenn es um das Wort Gottes geht, steht Forderung 1 für „Knechte Gottes“ über allem.  

So kann es gehen, aber man muss stark bleiben. 

So kann man die drei Forderungen auch in anderen Situationen erfüllen. Immer dann jedenfalls, wenn wir ehrlich überzeugt sind, dass die Aufgabe wichtiger ist als unsere Eigenliebe. Stellen wir fest, dass es nicht so ist, können wir uns guten Gewissens einer neuen Aufgabe zuwenden — wir müssen uns nicht allem zur Magd machen!

Es freut mich, dass ich das alte Jahr mit diesem Vers abschließen durfte. Ich wünsche uns eine gute Woche, in der wir freundlich sind zu jedermann und von anderen nichts Böses ertragen müssen. Und mitten darin in dieser Woche liege ein fröhliches Weihnachtsfest für alle! 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 51/2019

Nun aber begehren sie eines bessern, nämlich eines himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, zu heißen ihr Gott; denn er hat ihnen eine Stadt zubereitet.
Hebr 11,16

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Die Verheißung

Unser Vers fügt sich nahtlos an den BdW der Kalenderwoche 47 an, an das große Versprechen, das sich durch die Bibel zieht. Erinnern Sie sich?

Ihr werdet aber über den Jordan gehen und in dem Lande wohnen, das euch der HErr, euer Gott, wird zum Erbe austeilen, und er wird euch Ruhe geben von allen euren Feinden um euch her, und ihr werdet sicher wohnen. (Dtn 12,10)

Hier geht es um die spezifische christliche Fassung dieser originären Verheißung, die im Alten Testament erst einem Menschen, dann einem Volk gegeben wurde. Nun soll sie Menschen aus allen Völkern gelten und sich nicht auf irdisches Land beziehen, sondern auf das Reich Gottes. Zum besseren Verständnis hier der Vers in seinem unmittelbaren Kontext

Diese alle (Abel, Henoch, Noah, Abraham, Sarah, d.V)) sind gestorben im Glauben und haben die Verheißungen nicht ergriffen, sondern sie nur von ferne gesehen und gegrüßt und haben bekannt, dass sie Gäste und Fremdlinge auf Erden sind. Wenn sie aber solches sagen, geben sie zu verstehen, dass sie ein Vaterland suchen. Und wenn sie das Land gemeint hätten, von dem sie ausgezogen waren, hätten sie ja Zeit gehabt, wieder umzukehren. Nun aber streben sie zu einem besseren Land, nämlich dem himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott zu heißen; denn er hat ihnen eine Stadt gebaut.

Ich glaube, man kann es einfacher sagen. Die Zeugen der ersten Zeit, über die in Genesis berichtet wird, haben geglaubt. Sie glaubten etwas, das sie nicht sehen konnten und im Vertrauen darauf sind sie ausgezogen und haben Bekanntes aufgegeben. Es ist das Reich Gottes, das sie eigentlich suchten und auf das immer schon die Verheißung lautete. Diese Verheißung haben sie zu Lebzeiten nicht erlangt, sie steht ihnen noch aus. Sie werden sie gemeinsam mit denen erlangen, die jetzt leben, so steht es am Ende des Abschnitts. 

Ich liebe die Vorstellung vom Reich Gottes. Etwas, das nicht hier ist, aber doch schon da, das wir als einzelne, lokal, schon leben können, manchmal wenigstens, dessen Erfüllung für alle, global, aber noch aussteht. Vielleicht ist die globale Erfüllung (und die dazugehörige Apokalypse) am Ende auch ein Gleichnis für die lokale Form, das Reich Gottes in unserem eigenen Leben. 

Auch wir müssen ausziehen und aufgeben, um suchen und finden zu können, und vermutlich finden wir, indem wir in Bewegung sind, nicht alles auf einmal, sondern entlang des Wegs immer mehr. So verstehe ich die Geschichte der Alten. Und jeder von uns hat am Ende seine eigene Apokalypse vor sich. 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Adventswoche auf dem Weg zum besseren Land,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 50/2019

Und weil sich dein Herz erhebt, dass du so schön bist, und hast dich deine Klugheit lassen betrügen in deiner Pracht, darum will ich dich zu Boden stürzen und ein Schauspiel aus dir machen vor den Königen.
Hes 28,17

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Wer ist Luzifer? 

Der Abschnitt, in dem unser Vers steht, Hes 28, 11-19, ist schön und schrecklich zugleich. Vielleicht lesen Sie ihn erst einmal. 

Die ersten drei Jahre meiner Grundschulzeit war ich Schüler an einer katholischen Konfessionsschule, seinerzeit der einzige evangelische Schüler. Der Religionsunterricht wurde von Ordensschwestern erteilt. Sie erzählten mir eine Geschichte, die ich nie vergessen habe. Unter den Engeln Gottes war einer, der schöner und klüger war als die anderen, ein Engelfürst wie Michael und Gabriel. Sein Name war Luzifer, Morgenstern, „Lichtbringer“. Berauscht von seiner Schönheit und Klugheit wollte er mehr sein als die anderen, wollte er sein wie Gott. Er vermochte es, viele andere Engel auf seine Seite zu ziehen, und es kam zum Kampf unter den Engeln Gottes. Gegen Luzifer stritten Michael und seine Getreuen. Luzifer wurde überwunden und in die Hölle gestürzt, nun war er Satan und steht für die dunkle Seite der Welt. 

Die Geschichte ist wichtig. In der Nussschale erklärt sie, wie das Dunkle in die Welt kommt, obwohl Gott hell ist. Dass es real ist und mächtig, trotz Gottes Allmacht. Dass des Bösen Kraft aber nur vorläufig ist. Wie es verlockend sein kann und schön, auch beim dritten Hinschauen. Und selbstverständlich habe ich angenommen, dass die Geschichte in der Bibel steht. 

Aber dort steht sie nicht. Jedenfalls nicht im Buch Genesis, wo sie zu vermuten wäre. Als ich das irgendwann merkte, begann ich, sie zu suchen. Man erzählt sie sich überall bei den Christen, und sie wird auf drei Bibelstellen zurückgeführt. Eine davon ist Hes 28, aus der unser Vers stammt. Die beiden anderen sind Jes 14,12-14 und Off 12,3ff, der Kampf des Drachen mit den Engeln.

Aber sonderbar: der Text in Offenbarung bezieht sich auf die Endzeit, ist Apokalypse, nicht Genesis, er erzählt das Ende der Welt, nicht ihren Ursprung. Und die Texte von Jesaja und von Hesekiel behandeln lebende Menschen, Jesaja den König von Babylon, Hesekiel in unserem Vers den König von Tyros. Der Prophet stimmt sogar ein Klagelied für den König an, von Gott befohlen. Das wäre sehr viel „sympathy for the devil“, um es mit den Stones zu sagen. 

Recht betrachtet steht die Geschichte vom Höllensturz nicht in der Bibel. Aber wir kennen sie, und auch Johannes, Hesekiel und Jesaja könnten sie gekannt haben. Vielleicht haben sie die Geschichte bewusst genutzt, zitiert, um „ihren“ jeweiligen Gegenstand — die Endzeit und die Könige von Tyros und Babylon — zu beleuchten. In ihren Grundzügen wird sie im äthiopischen Henochbuch erzählt, dessen alte hebräische Fassung in Qumran aufgetaucht ist. Wenn es aber in unserem Vers nicht in erster Linie um Luzifer geht, um was dann? Es muss wichtig sein, Tyros empfängt mit drei Kapiteln bei Hesekiel enorme Aufmerksamkeit.

***

Zwei Szenen mit meinen Kindern. In der vergangenen Woche ging ich abends nach der Kinderoper mit Mathilde durch die Taunusanlage. Es war dunkel und die Hochhäuser ringsum waren hell erleuchtet und neigten sich wie Giganten über uns. Mathilde war begeistert von der blendenden Pracht. Ich auch, aber ich dachte an den Bibelvers und stellte mir vor, sie stürzten über uns zusammen. 

Meine ältere Tochter, Esther, hat mich in der vorvergangenen Woche in die Welt von Instagram eingeführt. Ich habe jetzt einen eigenen Account und kann sehen, wie Menschen sich und ihr Leben darstellen. Überall Ästhetik — manche stellen das dar, was sie sehen und wie sie es sehen, manche andere schamlos immer wieder sich selbst. Alles ausweglos hochselektiv. Die Accounts wachsen organisch und verweisen aufeinander, sind miteinander verflochten. Instagram und Facebook sind Teil der „echten“ Welt geworden, die Menschen leben darin und ein wenig auch dadurch. Auch hier lässt mich etwas nicht los: Was geschieht, wenn der Träger des Accounts stirbt? Seine Bilder, seine Kommentare, seine Nachrichten bleiben, was sie sind, sie wachsen nur nicht weiter. In der virtuellen Welt bleiben sie stehen, glänzend und schön, abgelöst von unserer Körperlichkeit. Wir entgrenzen.

Dann verstand ich, worauf ich Abschnitt und Vers beziehen kann. Der Text von Hesekiel passt auf uns, viel besser noch als auf die Menschen, die der Prophet selbst kannte. Nach den Maßstäben des Altertums sind wir von Engeln und Göttern kaum zu unterscheiden. Viele von uns jedenfalls. Das Internet, die sozialen Medien und der Flugverkehr machen uns fast allwissend und allgegenwärtig. Manche von uns richten ihr ganzes Leben auf diesen Feenglanz. 

Wenn wir uns vergessen und zu Göttern werden, gehen wir unter. Wie der König von Tyros und die Frau des Fischers im Märchen. Und könnte es nicht sein, dass auch die uralte Geschichte vom gefallenen Engel, die mir die Ordensschwester weitergegeben hat, eigentlich uns meint, schön und schrecklich zugleich, unentwirrbar, und die Kämpfe in unserem Inneren?
Ulf von Kalckreuth 

Mathilde vor der Alten Oper

Bibelvers der Woche 49/2019

Dies ist die Last über Arabien: ihr werdet im Walde in Arabien herbergen, ihr Reisezüge der Dedaniter.
Jes 21,13

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Verlorene Wege

Unser Vers ist in der Übersetzung von 1912 nicht leicht zu verstehen, hier mit ein wenig Kontext die Übersetzung von 2017:

Dies ist die Last für Arabien: Ihr müsst im Gestrüpp, in der Steppe über Nacht bleiben, ihr Karawanen der Dedaniter. Bringt den Durstigen Wasser entgegen, die ihr wohnt im Lande Tema; bietet Brot den Flüchtigen. Denn sie flohen vor dem Schwert, ja, vor dem blanken Schwert, vor dem gespannten Bogen, vor der Gewalt des Kampfes.

Jesaja lebte im achten Jahrhundert vor Christus in Judäa und war Prophet und Zeuge des Untergangs des Nordreichs, des größeren, glanzvolleren und oft feindlichen israelitischen Geschwisterstaats, der den Assyrern anheimfiel. Seine Visionen erstrecken sich aber auch auf die Nachbarvölker, hier auf Arabien, dessen Einwohner sich die Hebräer verwandt wussten. 

Andere Völker sollten Land verlieren oder Städte — die Dedaniter waren Händler, sie hatten kein Land und keine Städte. Was hatten sie, was konnten sie verlieren? Sie hatten Wege, ein System von Rastplätzen mit Ruhestätten und Wasser, die zu benutzen sie das Recht hatten. Das war ihre Existenzgrundlage als Fernhändler (‚Karawanen‘). 

Der Herr ist hier mitnichten der Gott, der allen alles recht macht. Jesaja verkündigt eine harte Zeit. Die Dedaniter verlieren ihre Wege. Sie müssen ungeschützt übernachten, im Gestrüpp, haben keinen Zugang zu den Oasen. Diese sind durch Invasoren besetzt, die Dedaniter müssen fliehen.

Wie fühlt es sich an, seine Wege verloren zu haben? Was bleibt? Die Dedaniter sind marginalisiert, in Gefahr, mit ihren Tieren zu verdursten. Einen letzten Weg gibt es, eine letzte Hoffnung. Jesaja appelliert nicht an Gott. Der hat sein Urteil gesprochen. Er appelliert an die Solidarität der Nachbarn in Tema. Sie werden aufgerufen, das Unheil zu mildern, das von Gottes Ratschluss ausgeht. Nicht in Erfüllung eines Gebots — sie hängen dem Gott Israels gar nicht an — sie sollen es einfach tun. Ohne Grund.

Die Bibel spricht oft rauh und lapidar. Die Botschaft dieses sehr alten Texts ist erschütternd existentialistisch. Wir sind es gewohnt, Gott anzurufen, das Unheil zu mildern, das von unseren Mitmenschen ausgeht. Aber wer macht das Schicksal — Gott oder die Menschen? Und an wem ist es, zu mildern? Vielleicht tun wir sein Werk gerade dann?

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir unsere Wege sicher gehen können. In der wir Kraft finden, dem zu helfen ohne Grund, der seine Wege verloren hat.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 48/2019

Wenn du dein Land einerntest, sollst du nicht alles bis an die Enden umher abschneiden, auch nicht alles genau aufsammeln.
Lev 19,9

Hier ist ein Link zur Lutherbibel 2017, für den Kontext des Verses.

Ein ganz außergewöhnliches Gebot

Aus Grundschulzeiten kenne ich ein Lied, das ich heute noch manchmal summe, vor allem im Herbst: „Leer sind die Felder und voll sind die Scheunen“. Der Refrain lautet:

Recht die Felder ab, aber nicht zu knapp
Vögelein und Mäuschen kriegen auch noch etwas ab. 

Das ist nichts anderes als der gezogene Vers. Es geht um die Armen, die kein eigenes Land oder andere Ressourcen haben. Das Gebot ist Teil des embryonalen „Sozialgesetzbuchs“ in Leviticus. Es wirkt unscheinbar, geht es doch nur um „Reste“. Aber die Bibel unterstreicht seine Bedeutung zweifach. Das Gebot rettet Ruth, der Migrantin aus Moab und Großmutter Davids, das Leben. Und es steht inmitten des Heiligkeitsgesetzes, einer Rekapitulation der wichtigsten Gebote, die in die zentrale Forderung mündet: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev 19,18), die zweite Hälfte des Doppelgebots der Liebe. 

Also geht es hier um etwas sehr Wichtiges. Nicht darum, was wir erreichen wollen, sondern wie wir es tun. Den way of life. Nicht um die die großen Linien der Zeichnung, sondern darum, wie sie gezogen werden — hart und scharf oder graduiert und leicht verwischt. Wenn wir durch das Leben ziehen, hinterlassen wir einen Fußabdruck, der sich aus all den „Nebenwirkungen“ unseres Tuns und Unterlassens bildet. Dieser Fußabdruck wird mit der Zeit immer wichtiger. Wir sollen unseren Bedürfnissen nachgehen und denen unserer Familien, wir sollen ernten dürfen, ja, aber nicht in einer Weise, die keinen Raum lässt für anderes. Wir sollen das Wichtige erreichen, aber wir sollen dabei nicht maximieren. Wie jedes der wichtigen Gebote hilft uns auch dieses in erster Linie selbst: wer sich nach dem letzten Krümel bückt, macht sich klein und gibt jede Freiheit auf, wird Sklave. So will uns Gott nicht.  

Manchmal bin ich für Gebote dankbar. So auch hier und heute. Ich wünsche uns eine schöne Woche, in der Großmut uns Raum für Leben schafft. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 47/2019

Ihr werdet aber über den Jordan gehen und in dem Lande wohnen, das euch der HErr, euer Gott, wird zum Erbe austeilen, und er wird euch Ruhe geben von allen euren Feinden um euch her, und ihr werdet sicher wohnen.
Dtn 12,10

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Licht und Schatten

Das ist die Klammer um die ganze Torah, alle fünf Bücher, das große Versprechen: Ich führe euch heraus aus der Sklaverei, ich habe euch erwählt und nenne euch keinen Grund dafür, ihr müsst mir treu sein, dann gebe ich euch ein großes, reiches Land, das eure Heimstatt sei, und ihr werdet frei sein von Feinden und Bedrohung.

Das ganze fünfte Buch Mose spielt eine logische Sekunde, bevor das Versprechen wahr zu werden beginnt. Die Israeliten brechen aus der Wüste hervor, sie haben den Jordan erreicht und stehen nun bereit, ihn zu überschreiten, das Land einzunehmen. Mose darf diesen letzten Schritt nicht mehr mitgehen, er stirbt vorher, das weiß er, aber jetzt, am Ufer des Flusses, fasst er in einer langen Rede die ganze bisherige Heilsgeschichte zusammen, blickt nach vorn und rekapituliert und interpretiert die Gebote, die das Volk empfangen hat.

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Unser Vers benennt das große Versprechen in einem besonderen Kontext. Zu einer Zeit, die noch nicht bekannt ist, an einem Ort, den Gott noch nicht benannt hat, soll das ganze Opferwesen der israelitischen Stämme zentralisiert werden. Im gezogenen Abschnitt wird also, noch bevor die Stämme die Stadt überhaupt kennen, der Anspruch des Tempels in Jerusalem begründet, einzige legitime Opferstätte und Ort der Anbetung zu sein, ja Wohnstätte Gottes. Das wirkt sehr ungleichzeitig: Als Mose spricht, ist Israel ein Volk „ohne festen Wohnsitz“ und eine einzige Anbetungsstätte für ihren körperlosen und unsichtbaren Gott, der stets mit seinem Volk zieht, ist eine absurde Vorstellung. Der Text beugt dem Einwand vor: jetzt tut ihr noch, was ihr wollt (V 8), aber bald werdet ihr ein festes und sicheres Land haben (unser Vers), dann könnt und sollt ihr anders verfahren.

Eine erhebliche Einschränkung. Der Text zeigt, dass immer, wenn die Israeliten Rind oder Schaf schlachteten und aßen, sie Teile davon dem Herrn opferten, beinahe so, wie wir heute ein Tischgebet sprechen. Das Opfer und die Anrufung des Herrn mit seinem Namen war der Kern des Austauschs eines jeden Israeliten mit Gott. Sie haben mit Gott gegessen und gesprochen.

Die Monopolisierung von Opfer und Gottesdienst im Tempel geschah spät in der Geschichte der Königreiche. Das große Nordreich war schon untergegangen, als die Könige des kleineren Juda, namentlich Hiskia und Josia, das Opfer und das religiöse Steuerwesen auf Jerusalem konzentrierten. Nur in Jerusalem durfte noch geopfert werden, nur die Priester dort durften den Zehnten empfangen und all die freiwilligen und mandatorischen Gaben. Noch später durfte auch der Name des Herrn nur an diesem Ort ausgesprochen werden, nur zu einer Zeit, Jom-Kippur, nur von einem Menschen, dem Hohepriester.

Die Konzentration auf Jerusalem war verbunden mit einer Einhegung von Wildwuchs und hatte damit große Bedeutung für die Durchsetzung des Monotheismus. Auf „den Höhen“ wurde nämlich durchaus nicht nur dem Herrn geopfert. Die Kehrseite ist, dass der Gottesdienst sehr verletzlich wurde. Ökonomen würden von systemischen Risiken sprechen. Der Tempel wurde zweimal zerstört, und nach dem zweiten Mal konnte er nicht mehr wiederaufgebaut werden. Für das Judentum eine existenzielle Krise. Sie konnte überwunden werden, aber die Riten, die sich in einem Jahrtausend herausgebildet hatten und nur im Tempel vollzogen werden durften, hatten keinen Ort mehr, ein großer Teil der 613 Ge- und Verbote, die jüdische Gelehrte aus der Torah destillieren, läuft seither leer.

Auch die Christen sind getroffen. Die Aussprache des Eigennamen Gottes ging verloren, als es nach der Zerstörung des Tempels niemanden mehr gab, der ihn legitimiert rufen durfte. Wir kennen noch die Konsonanten, J H W H, und hinsichtlich der Vokalisierung gibt es eine Anzahl mehr oder weniger begründeter Theorien. Aber kann man im Gottesdienst nach vorn treten oder auf einen Berg steigen und dort, in Verzweiflung, Hoffnung, Freude oder Triumph, den Namen Gottes, des Herrn, laut ausrufen? Gott ist nicht nur körperlos und unsichtbar, auch sein Name entzieht sich uns wieder. Und dabei misst die Bibel Namen (Gottes und der Menschen) große Bedeutung zu. 

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So wirft unser Vers ein helles Licht auf die Zukunft und auch einen Schatten. Ich wünsche uns eine Woche, in der wir Ruhe haben vor unseren Feinden und sicher wohnen,
Ulf