Bibelvers der Woche 45/2021

Züchtige deinen Sohn, solange Hoffnung da ist; aber lass deine Seele nicht bewegt werden, ihn zu töten.
Spr 19,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Dein Stecken und Stab…

Ein schwieriger Vers, um es vorsichtig zu sagen. Ich habe zwei Kinder, die mich nicht selten an den Rand meiner Möglichkeiten bringen, und die ersten Assoziationen, die ich hatte, waren politisch nicht korrekt — von wegen „Vielleicht hätte ich die Bibel früher lesen sollen…“

Aber was steht hier? Ist es die Aufforderung, Gewalt einzusetzen? Der Text, den wir vor uns haben, ist rund 2300 Jahre alt. Das Verb jasar (יסר) im Althebräischen bedeutet sowohl züchtigen als auch erziehen. Eine klare Unterscheidung zwischen diesen beiden Konzepten gab es nicht. Sein Kind zu erziehen, bedeutete damals, es zu züchtigen. Für die Liebhaber unten ein Foto aus Wilhelm Gesenius‘ hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Neudruck der 17. Auflage 1915, mit den Facetten dieses Wortes.

Züchtigung / Erziehung bedeutete für denjenigen, der sie leistete, einen großen Aufwand — nur wenn (oder nur weil) Hoffnung auf Erfolg besteht, soll man sich die Mühe machen. Im Urtext steht hier כי, das würde man eher mit „weil“ als mit „solange“ übersetzen. Der zweite Teil des Verses bedeutet dem Erziehenden, maßvoll zu bleiben, sich nicht zu (massiven) Gewaltakten hinreissen zu lassen. Mit anderen Worten: Tu was, aber tu es maßvoll.

Unser Vers hat keinen direkten Kontext, er steht unverbunden in einer Reihe von Merksätzen zu verschiedenen Bereichen des Lebens. Aber es gibt im Buch der Sprüche eine Anzahl paralleler Stellen. Im Internet habe ich eine kleine Sammlung gefunden: 

  • 13,24: Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn, wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten. 
  • 22,15: Torheit steckt dem Knaben im Herzen, aber die Rute der Zucht treibt sie ihm aus. 
  • 22,13+14: Lass nicht ab, den Knaben zu züchtigen; denn wenn du ihn mit der Rute schlägst, so wird er nicht sterben; du schlägst ihn mit der Rute, aber du errettest ihn vom Tode.
  • 29,15: Rute und Tadel gibt Weisheit; aber ein Knabe, sich selbst überlassen, macht seiner Mutter Schande. 

Das ist herbe Sprache. Wiederum muß man bedenken, dass zwischen erziehen und züchtigen nicht unterschieden wird. Gewaltfreie Erziehung gab es nicht, das Gegenstück zu autoritärer Erziehung war nicht antiautoritär, sondern Vernachlässigung. Die gab es durchaus, das klingt durch. Erziehen bedeutet, Verhaltenstendenzen in einer Weise zu formen, dass sie dem Leben dienlich sind, dem Leben des Einzelnen und auch der ihn umgebenden Gemeinschaft. Das ist eine lebenswichtige Bringschuld der Eltern! Der homo oeconomicus, der stets in der Lagte ist, situationsadäquat rationale Entscheidungen zu treffen, braucht keine Erziehung. Aber er ist eine Fiktion. In Wahrheit sind wir für die vielen kleinen Entscheidungen und auch für die meisten großen auf unsere Verhaltenstendenzen angewiesen, auf dasjenige also, was wir ‚aus dem Bauch heraus‘ tun, weil wir es so gelernt haben, so gewohnt sind. 

Unser Vers und die anderen sagen den Eltern — in der Sprache des ersten Jahrtausends v. Chr. — dass sie sich die nötige Mühe geben müssen, dem Verhalten ihres Kindes eine Richtung zu geben, die dem zukünftigen Erwachsenen helfen, die richtigen Gewohnheiten anzunehmen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das Kind benötigt diese Weisung in grundlegender Weise (13,14 und 22,13f).

Eltern haben ihren Erziehungsauftrag von Gott. Und man glaubte, dass Gott seinerseits mit uns so verfährt, wie Eltern es mit ihren Kindern tun sollen. Dein Stecken und Stab trösten mich… In den Psalmen ist diese Idee fest verankert und auch bei den Propheten. Es wäre schön, nicht wahr? Unser Leiden hätte einen sehr konkreten, erzieherischen Sinn und Zweck. Wenn mir Unglück widerfährt, frage ich mich tatsächlich früher oder später, was ich daraus lernen kann. Und dann fällt mir oft einiges dazu ein. Aber nicht immer.

In den kommenden drei Wochen muss ich mich um meine beiden halbwüchsigen Töchter allein kümmern, neben der Arbeit. Wer uns kennt, weiss, das dies schwierig werden könnte. Wie leicht wäre es da, sie einfach tun zu lassen, was sie wollen, mir zum Nutzen, ihnen zum Schaden. Ich werde der Versuchung widerstehen, so gut es geht.

Ich wünsche uns allen, und diesmal besonders uns dreien, eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Erziehen und züchtigen: Wilhelm Gesenius, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, 17. Auflage 1915

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