Bibelvers der Woche 27/2020

Gelobet sei der HErr, der seinem Volk Israel Ruhe gegeben hat, wie er geredet hat. Es ist nicht eins dahingefallen aus allen seinen guten Worten, die er geredet hat durch seinen Knecht Mose.
1 Kö 8,56

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Zufall und Bestimmung

Das muss einem Statistiker Sorge bereiten. Aus den folgenden Abschnitten der Bibel haben wir in den letzten drei Wochen gezogen: 1. Kö 6; 1. Kö 7; 1. Kö 8. Die christliche Bibel in ihren beiden Teilen hat 1189 Abschnitte. Nimmt man an, sie wären gleich lang und ignoriert, dass auf den letzten Abschnitt kein weiterer folgen kann, liegt ex ante die Wahrscheinlichkeit, Verse aus drei aufeinander folgenden Abschnitten zu ziehen, bei 1/1.413.721. Zum Vergleich: die Wahrscheinlichkeit eines Fünfers mit Zusatzzahl liegt bei 1/2.330.636. Hm! Ich nutze bei der Ziehung den Zufallsgenerator von Excel. Vielleicht sollte ich damit auch Lottotips generieren?  

Der Vers ist aus einem weiteren Grund besonders: er nimmt nämlich direkten Bezug auf den Vers der Woche 47/2019, in einem anderen Buch. Auch dort ging es um den Tempelbau, damals als ferne Zukunftsvision, siehe die Betrachtung dazu

Ihr werdet aber über den Jordan gehen und in dem Lande wohnen, das euch der HErr, euer Gott, wird zum Erbe austeilen, und er wird euch Ruhe geben von allen euren Feinden um euch her, und ihr werdet sicher wohnen.
Deu 12,10

Das ist das Versprechen Gottes, auf das der heute gezogene Vers antwortet. Salomo spricht den Vers am Ende eines langen priesterlichen Gebets bei der Einweihung des Tempels, kurz bevor eine schier unglaubliche Zahl von Tieren geopfert wird. In dieser Sekunde ist es erreicht: Gott hat seine Versprechen an sein Volk aus der Bundeszusage erfüllt! Das Land ist reich und mächtig und sicher vor äußerer Bedrohung, und Gott ist mit ihm — augenfällig nun an einem ehrfurchterregenden Gebäude.

Gott ist treu! Salomo ist dankbar. Er ist eins mit Gott, seinem Volk und der Geschichte.

An dieser Stelle neigt sich das 1. Buch der Könige. Denn ein Bund hat zwei Seiten. Was ist mit den Versprechen des Volks? Die beiden Königsbücher zählen rücksichtslos die Verfehlungen der Könige von Israel und Juda und ihrer Völker auf. Der Betende selbst, Salomo, macht einen fulminanten Einstieg: er nimmt sich 700 Hauptfrauen und 300 Nebenfrauen aus allen Ländern der Großregion, und über diese Frauen nähert er sich den Götzen der Nachbarländer und baut ihnen schließlich Altäre, siehe 1. Kö 11. 

Gott ist treu. Nicht Gott hat versagt, sondern das Volk, sagen die Bücher der Könige. Sie führen die Katastrophen in der Geschichte der Kinder Israel auf ihre Verirrungen zurück. Gott hat alle Versprechen gehalten: das Versprechen, wachsen zu lassen wie auch das Versprechen, dauerhafte Verfehlung nicht ungestraft zu lassen. Im Exil, in Babylon, als die Königsbücher geschrieben wurden, war diese Lesart durchaus nicht selbstverständlich. Es hätte nahe gelegen, statt dessen zur Kenntnis zu nehmen, dass die Götter Babylons eben stärker waren. 

Gott ist treu, und er erfüllt seine Versprechen, sagt der Vers. Heute ist mein Geburtstag. Ein ganz persönlicher Grund für Dankbarkeit. Und auch Grund, nach vorn zu blicken, erwartungsvoll und wachsam.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 26/2020

Und machte an jeglichem Knauf zwei Reihen Granatäpfel umher an dem Gitterwerk, womit der Knauf bedeckt ward.
1. Kö 7,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Zenit der Zeit

Oh! Dieser Vers liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Bibelvers der letzten Woche. Die beiden Verse lesen sich völlig bruchlos. Ich will also versuchen, sie gemeinsam zu betrachten..

Wieder geht es um die Bautätigkeiten am Tempel. Salomo hat Hiram von Tyrus gerufen (siehe den BdW 1/2020), damit dieser die Bronzearbeiten ausführe. Hiram errichtet vor dem Allerheiligsten zwei riesige Säulen. Sie haben sogar Namen: Jachin und Boas. Ihre Kapitelle, im Vers „Knäufe“ genannt, sehen aus wie Lilien und sind aufwendig verziert mit Granatäpfeln. Granatäpfel sind Symbole für Fruchtbarkeit und Leben: wegen ihrer vielen Kerne und auch wegen ihrer Wirkung als potentes Aphrodisiakum. Sie werden im Hohelied besungen und spielen noch im heutigen Judentum eine wichtige Rolle bei den Neujahrsfeierlichkeiten. 

Auch der Vers der letzten Woche beschrieb Schmuck von Aussenelementen des Allerheiligsten. Von Schnitzwerk war dort die Rede, von Cherubim, Palmen und Blumenwerk, alles golden…!

Das ist schön, nicht wahr? Es ist Mittsommer, die sechsundzwanzigste Woche des Jahres! Und wir sind ganz oben, top of the world.

Dabei sind die beiden Königsbücher von Grund auf pessimistisch. Ihr Einstieg ist der Höhepunkt der Geschichte der jüdischen Reiche, mit dem Großreich Davids, seiner Erweiterung durch Salomo und dem Tempelbau. Danach geht es bergab, mit Hebungen und Senkungen zwar, aber letztlich unaufhaltsam. Das Reich spaltet sich, das große Südreich Israel geht als erstes unter. Das kleine Juda schlüpft in die Rolle des großen Bruders, aber auch dieses Reich nimmt ein gewaltsames Ende, mit der Versklavung seiner Elite und der Zerstörung des Tempels. Damit schließt das Werk. Die beiden Bücher erklären ex post den Untergang, ohne selbst eine Perspektive auf die Zukunft zu entwickeln.

Die fallende Bewegung ist der Bibel als Ganzer durchaus eigentümlich: angefangen bei der Schöpfungsgeschichte bis hin zu den Prophetenbüchern und weiten Teilen des Neuen Testaments.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Nun stehen aber die Königsbücher in einem chronologischen und inhaltlichen Zusammenhang mit den beiden Samuelbüchern, die vom Aufstieg handeln, aus einer dunklen, durch lokale Fehden und  regionalen Kriegen geprägten Vorzeit bis hin zum Großkönigtum Davids, des Gesalbten Gottes. Nicht ohne Brüche, aber im Ganzen genauso gerichtet und folgerichtig wie die Königsbücher.  

Mittsommer: Mit den beiden schönen, ornamentalen Versen stehen wir auf dem Höhepunkt dieser ungeheuren Bewegung aus Aufstieg und Fall des Gottesvolks. Und zwar konkret am Allerheiligsten, der Wohnstatt Gottes auf dem Berg Moria, hoch über der selbst hochgebauten Stadt, achthundert Meter über dem Meeresspiegel. Von dieser Höhe aus können wir frei in beide Richtungen blicken. Tun Sie es einfach mal, vielleicht sehen Sie etwas anderes als ich. 

Diese Höhe, einmal erreicht, bleibt ja in der Geschichte aufgehoben. Der Gedanke und das Gedenken an den nicht mehr existenten Tempel, dem Ergebnis einer bleibenden Erwählung, ist im Judentum ein geistiger und religiöser Fixpunkt. Es hat die Wohnstatt Gottes gegeben! — dass sie zerstört wurde, macht sie nicht ungeschehen. 

Und wie ich dies schreibe, verstehe ich, dass Christen in sehr ähnlicher Weise mit Jesu Kommen und Gehen umgehen. Rudolf Bultmann spricht vom ‚Dass‘ des Gekommenseins. Dieses ‚Dass“ unterscheidet eine Welt, in der Jesus gelebt, gestorben und wieder auferstanden ist, grundsätzlich von einer Welt, in der dies nie geschehen ist — obwohl diese Welten einander ansonsten sehr ähnlich sehen mögen. 

Das ist in fast schon existenzialistischer Weise tröstlich. Sie sind beide nicht „da“, aber der Gedanke an sie: an das Allerheiligste, an Jesus, bleibt so in tiefer Not ein Trost.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Da ist ein Geheimnis des Glaubens. Ich wünsche uns eine gesegnete Woche — in der auch Granatäpfel ihren Platz haben…!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 25/2020

… und ließ Schnitzwerk darauf machen von Cherubim, Palmen und Blumenwerk und überzog sie mit goldenen Blechen.
1 Kö 6,32

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Last night I dreamt I went to Manderley again. It seemed to me I stood by the iron gate leading to the drive, and for a while I could not enter, for the way was barred to me. There was a padlock and a chain upon the gate. I called in my dream to the lodge-keeper, and had no answer, and peering closer through the rusted spokes of the gate I saw that the lodge was uninhabited. No smoke came from the chimney, and the little lattice windows gaped forlorn. Then, like all dreamers, I was possessed of a sudden with supernatural powers and passed like a spirit through the barrier before me. 
Daphne du Maurier, Rebecca. London, Gollancz 1938, p. 1

Last night I dreamt I went to Manderley again.

Der Eröffnungssatz von Daphne du Mauriers „Rebecca“ ist einer der berühmtesten in der ganzen Literaturgeschichte. Der Leser weiss noch nichts und wird von der Träumenden an den Ort des Geschehens geführt. Der Weg wird gezeigt, der zu dem Anwesen in Cornwall führt — alles ist überwuchert und dem Verfall preisgegeben — bis das Haus erreicht ist, der Schauplatz einer schicksalhaften Katastrophe. Der Leser bekommt ein intuitives Wissen um die Katastrophe, lang bevor der Verstand die ersten soliden Anhaltspunkte hat. Hier ist ein Link zu Hitchcock’s Verfilmung aus dem Jahr 1940.

Fast die gleiche Technik verwendet zweieinhalbtausend Jahre zuvor der unbekannte Autor der Königsbücher. Der Tempel ist zerstört, das Allerheiligste geschändet, die Elite der Judäer in Ketten als Sklaven nach Babylon deportiert. Weit von Jerusalem entfernt sitzt er und schreibt, wie alles früher war, wie alles begann. Den Tempel Salomons hat er selbst vielleicht nie gesehen, doch er erzählt, wie das Zentrum der Anbetung gebaut wurde, in einer längst vergangenen Zeit, die in allem so sehr das Gegenteil ist seiner eigenen Gegenwart. Die „Kamera“ seiner Erzählung fährt vom Vorhof des Tempels hinein ins Allerheiligste, den Raum der Einwohnung Gottes, beschreibt die Einrichtung, die Cherubinen darin, fährt wieder hinaus und kann sich doch noch nicht gleich lösen — sie verweilt liebevoll bei der hohen Tür des Allerheiligsten, ihrem Schmuck und der Vergoldung. Dann erst wendet sich die Erzählkamera zur Tempelhalle und zum Vorhof, bevor sie den Tempel verlässt.

Die Königsbücher sind eine Auseinandersetzung mit der großen Katastrophe, dem Untergang des judäischen Reichs, seiner Könige und des Tempels, der einzig rechtmäßigen Stätte für die Anbetung des allmächtigen Gottes, mit dem das Reich doch im Bund war. Wie „um Gottes Willen“ konnte das geschehen? 

Der gezogene Vers ist anrührend: In der Verzweiflung über den unermesslichen Verlust vergegenwärtigt der Erzähler sich das Verlorene, ein Akt, der so schmerzhaft ist wie schön. Er ist Voraussetzung für eine gelingende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und auch der Zukunft. Kannte Daphne du Maurier diesen Abschnitt, als sie die ersten Sätze zu ihrem Buch fand? 

Ich wünsche uns eine Woche im Schutz des Ewigen, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 24/2020

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viele Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun.
Joh 15,5

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017

Wer liebt, lebt!

Im Evangelium nach Johannes sind in den Abschnitten 13-17 Abschiedsreden Jesu verzeichnet, die sich in den anderen Evangelien nicht finden. Die Reden sind eigentlich Gespräche mit den Jüngern, in tiefer und inniger Zuwendung, gleichzeitig sind sie Testament, das in ein Gebet mündet. Ein Testament im Neuen Testament. Es gibt Parallelen: das Deuteronomium als Ganzes ist als Abschiedsrede Mose verfasst, und mit seiner Rede am Ende von Genesis verwandelt Jakob seine Söhne in ein Volk. 

Wie das Deuteronomium die Essenz der Thora wiedergibt, enthalten die Abschiedsreden Jesu die Essenz seiner Botschaft und sein Vermächtnis. Im Netz habe ich das Skript einer ganzen Vorlesung zu den Reden gefunden. Unser Bibelvers führt in den Kern dessen, worum es Jesus geht. 

Der Vers ist Kulminationspunkt eines Gleichnisses, das er zuvor aufgespannt hat. Der Vater, Gott, ist wie ein Winzer: er hegt den Weinberg, er pflanzt und pflegt den Weinstock und trägt Sorge um die Frucht. Dabei schneidet er Triebe ab, die keine Frucht bringen. Mit der Verbindung zum Stock verlieren diese Reben das Leben. Die Reben aber, die Frucht bringen, werden gereinigt, ihre Kraft wächst. 

Jesus spricht zuvor (Joh 14) darüber, wie der Vater in ihm ist und er im Vater. Nun geht es um die Jünger Jesu. Sie sind die Reben, also die Triebe, Jesus ist der Weinstock. Wenn sie in ihm bleiben, dem lebensspendenden Weinstock, und er in ihnen, so leben sie und bringen reiche Frucht — neues Leben. Eine Kette: Jesus ist eins mit dem Vater und hat Teil an seinem Wesen. Die Jünger aber sind eins mit Jesus, dadurch haben auch sie Teil am Wesen des Vaters, obwohl sie es nicht tragen oder fassen könnten. Jesus ist Interface, würde man heute sagen.

„Bleibt in mir und ich in Euch“. Die Jünger sind rein durch das Wort, sie sollen sich dies erhalten und darin wachsen. Im Gleichnis entscheidet der Winzer, welche Reben Frucht bringen und welche nicht. Darin liegt gleichzeitig Warnung und Verheissung. Jesus spricht aus, worin die lebensspendende Einheit besteht, die ihn mit dem Vater verbindet und die Jünger mit ihm. Es ist die Liebe: 

Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch liebe. … Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, auf dass, worum ihr den Vater bittet in meinem Namen, er’s euch gebe. Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt. (Joh 15,12-17)

Ich kenne eine Frau, die seit vielen Jahren an das Ende ihrer Emails drei Worte stellt: Wer liebt, lebt! Den Satz will ich hier weitergeben. Er ist eine Zusammenfassung der Abschiedsreden Jesu.

Die Liebe Gottes sei mit uns und wir in ihr
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 23/2020

… des Sohnes Abisuas, des Sohnes Pinehas, des Sohnes Eleasars, des Sohnes Aarons, des obersten Priesters.
Esr 7,5

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017

Auf den Trümmern des Alten — Neues beginnen!

Resilienz unterscheidet den, der wieder aufsteht, von dem, der liegenbleibt. Es ist die Fähigkeit, sich von persönlichen oder kollektiven Katastrophen zu erholen und dabei die neuen Gegebenheiten in konstruktiver Weise aufzunehmen.  

Jeremia und Hesekiel erzählen vom Untergang Jerusalems und des judäischen Staats, Esra und Nehemia von Rückkehr, Neubesiedlung und Wiederaufbau, viele Jahre später. Vor rund drei Monaten hatten wir einen Vers aus Esra in unmittelbarer Nachbarschaft des BdW für diese Woche, siehe BdW 08/2020. Persien übernimmt das babylonische Reich und in einer radikalen Abkehr von der Politik der alten Großmacht erlaubt Kyros die Rückkehr exilierter Nationen und gibt religiöse Autonomie. Oben ist der Kyros-Zylinder abgebildet, eine allererste Charta der Freiheit, 2500 Jahre alt. Sie ist nicht das Ende, sondern der Beginn eines langen nation building. Nach Rückkehr einer Anzahl von Familien und Sippen in das zerstörte Jerusalem beginnen Aufbauarbeiten, auch für einen neuen Tempel, und nach vielen Windungen kann der Tempel eingeweiht werden. Es kann losgehen. Aber was kann losgehen? Und wie?

Jetzt erst betritt Esra die Bühne. Er ist mandatiert vom persischen König, der gezogene Vers verleiht ihm aber eine eigenständige Autorität. Der Vers ist Zielpunkt einer Genealogie, die Esra als direkten Nachkommen von Aaron ausweist, des ersten Hohepriesters, von Gott selbst eingesetzt. Ein wenig wie der Papst als Nachfolger Petri. Anders als der Papst teilt Esra seine Stellung mit allen Angehörigen der Priesterkaste. Dennoch wird die Rückbindung an die Fundamente im Text aufwendig durchdekliniert: sie ist für seine Rolle als Erneuerer von großer Bedeutung. 

Es gibt keinen unabhängigen jüdischen Staat mehr. Um so wichtiger ist die religiöse Identität, die auch rechtliche, soziale und kulturelle Identität umfasst. Esra kehrt zu den Wurzeln zurück, und schafft dabei radikal Neues. Bis zum Exil war der Gott der Herr einer unter mehreren im Land der Hebräer: daneben wurden Gottheiten wie Baal und Astarte verehrt und ihre Feste gefeiert, nicht nur vom Volk, sondern ganz offiziell auch am Königshof. Es gab gar die Vorstellung, Jahwe sei der Gefährte Astartes. Die kanaanäischen Gottheiten hatten Altäre im Jerusalemer Tempel. Und dieser Tempel war nur einer unter mehreren, geopfert wurde zudem an vielen heiligen Stätten ausserhalb der Ortschaften. 

Esra knüpft an die Vergangenheit an und macht gleichzeitig nachhaltig Schluss mit ihr. Unter ihm erhält das Judentum in groben Umrissen die Gestalt, die es zur Zeit Jesu hatte. Ein Gott und sein eines Volk, ein Tempel, eine Opferstätte! Nach der Zerstörung des zweiten Tempels wiederholt sich die Geschichte auf merkwürdige Weise unter anderen Vorzeichen. Die Juden werden zerstreut, sammeln sich aber geistig und schaffen mit dem Talmud die Grundlagen für ein neues Judentum: dasjenige, welches wir heute kennen. Eine scheinbar konservativ ausgerichtete Identität, die aber ohne Tempel auskommt, ohne Opfer, körperlos beinahe, ohne feste Orte. Diese Identität ist auf ein Leben inmitten vieler Völker ausgerichtet ist und betont die Familie und den Zusammenhalt. 

Wenn wir nach einer Katastrophe verstehen, was unverzichtbar ist, wird gleichzeitig klar, was wir über Bord werfen können, damit Leben und Wachstum möglich bleiben. 

Corona bedroht die Gemeinden im Kern. Gemeinschaft ist für Gemeinde unverzichtbar, das sagt schon das Wort. Darin liegt die Herausforderung. Wie wir Gemeinschaft leben können, müssen wir jetzt neu finden, Schritt für Schritt. Viel von dem, was Gemeinde ausmacht, wird in der Diskontinuität untergehen: Chöre, Gruppen, Gebetskreise. Vielleicht geht der Gottesdienstbesuch nochmals radikal zurück. Wenn in einigen Monaten das ganze Ausmaß des Schadens offenbar wird, müssen wir bereits verstanden haben, was unverzichtbar ist und wie wir es in einer neuen Zeit leben. Resilienz eben! 

Heute ist Pfingsten, das Fest des Heiligen Geists, den der Herr uns schickt. Wie vor 2000 Jahren wird auch Schawuot gefeiert, das Fest der Gabe der Torah. Die Jünger Jesu trafen sich in Jerusalem, um dieses Fest zu feiern. Aber sie hatten ihren Rabbi und Messias verloren — die Grundlage ihrer Gemeinschaft. Erfüllt vom Geist blieben sie zusammen und konnten ihre Kräfte auf die neue Zeit ausrichten. Meine Gemeinde hat heute Gottesdienst gefeiert. Nicht viele, dreiundzwanzig Menschen mit Gesichtsmasken. Großer Abstand, kein Gemeindegesang, keine Gespräche mit Kaffee und Kuchen. Eine Predigt gab es, ein Gebet, ein Interview und den Segen. Ein ganz kleines Musikteam war da, und ich sang „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ — der Geist möge uns leiten auf der Rückkehr zum Vater. Es war ein schöner, ein intimer Gottesdienst. Anders, an die neuen Umstände angepasst: Gut.

Ich wünsche uns ein frohes Pfingstfest – וחג שמח שבועות!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 22/2020

So hätte ich nun Trost, und wollte bitten in meiner Krankheit, dass er nur nicht schonte, habe ich doch nicht verleugnet die Reden des Heiligen.
Hiob 6,10

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Behind the blind

Leid und Gottes Schutz 

Vor einigen Wochen gab es zwei Verse aus Hiob hintereinander. Hiob begegnet uns recht häufig — wir hatten Hiob-Verse in den Wochen 12/2020, 11/2020, 15/2019, 45/2018 und 19/2018. Trügt die Hoffnung oder trägt sie: durch zufälliges Ziehen langsam und mit der Zeit, lernend, ein authentisches Bild der Bibel jenseits der ausgetretenen Pfade zu gewinnen? Jedesmal finde ich in diesem Buch eine neue wichtige Facette.

Der gezogene Vers gehört in den ersten Teil des Buchs, wo die Dimensionen der Frage und die Konfliktlinien sichtbar werden. Um seine Gottesfurcht zu erproben, wird Hiob mit Zustimmung Gottes von Satan mit unsäglichem Leiden gequält. Drei Freunde besuchen ihn. Hiob hat nach langem Schweigen ausgiebig den Tag verflucht, an dem er geboren wurde, mit großer Lust am verbalen Detail. Er fragt nach Gottes Gerechtigkeit und danach, warum Gott Wesen in die Welt setzt, nur um sie zu peinigen.

Elifas, einer seiner Freunde, antwortet. Aus der Rede des Elifas gab es früher schon den BdW 2018/45. Im Kern sagt er, dass niemand ohne Sünde ist, das sei Illusion. Individuelles Leid ist Zurechtweisung Gottes und damit Gnade, denn verstockte Sünder gehen unweigerlich unter. Es ist dem Leben dienlich, die Zurechtweisung zu hören und sein Verhalten anzupassen: „Selig ist der Mensch, den Gott zurechtweist; darum widersetze dich der Zucht des Allmächtigen nicht. Denn er verletzt und verbindet, er zerschlägt und seine Hand heilt.“ (Hiob 5, 17f). Dann preist Elifas mit großer poetischer Kraft Heil und Schutz, den Gott den Seinen gibt und schließt: „Siehe, das haben wir erforscht, so ist es; darauf höre und merke du dir’s.“

Wenn man selbst im Dreck liegt, ist es unerträglich, so etwas von jemandem zu hören, dem es selbst gut geht. Hiob reagiert scharf — in der Fahrrinne seiner ersten Rede wünscht er sich nun, der Herr möge endlich ein Ende machen mit ihm und zwar schnell, dann könne er vor Freude hüpfen (so im Original), weil er trotz allem den Worten des Heiligen treu geblieben sei bis zum Schluss. Der gezogene Vers ist das sprachliche Kunstwerk eines Menschen, der am Rand seiner Kräfte steht. Die angekündigte Freude über den raschen Tod, den er hüpfend begrüßen würde (wie mag man sich das vorstellen?) — das ist blanke Ironie. Hiob besteht auf seiner Gerechtigkeit, sagt aber implizit, dass er die Worte des Heiligen unter diesen Umständen vielleicht nicht mehr lang werde achten können. 

Der Gott der Juden und der Christen ist Einer: nichts geschieht ohne seinen Willen. Im ersten Jahrtausend vor Christus war man nicht so schnell bereit wie heute, ganze Wirklichkeitsbereiche aus Gottes Zuständigkeit zu nehmen, etwa unter Verweis auf „die Naturgesetze“, oder „die Folgen des willensfreien menschlichen Handelns“. Gott ist allmächtig, allwissend und damit allverantwortlich: auch für Leid und Qual. Das Buch Hiob ist die Auseinandersetzung damit: Hiobs Anklage gehört ebenso dazu wie der Lobpreis in Elifas erster Rede. Das Buch Hiob beleuchtet seinen Gegenstand, diesen unerträgliche Widerspruch, nach allen Seiten. Eine klare Antwort, die man nach Hause tragen könnte, gibt es am Ende nicht. 

Am Himmelfahrtstag hatte ich Gelegenheit, auf der Trauerfeier für eine in Treue und Zuneigung sehr alt gewordenes Schwester unserer Gemeinde Psalm 91 vorzutragen und ein Lied dazu zu singen. Es war der erste Gottesdienst seit vielen Wochen. Wie ich hier nun schreibe, muß ich an diesen Psalm ständig denken. Hier ist der Text des Lieds, aus den Versen 4b-7 und 11-12 von Ps 91:

Er hat seinen Engeln befohlen,
dass sie dich hüten auf all deinen Wegen,
dass sie dich auf Händen tragen,
dass dein Fuß keinen Stein anstosse.
Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, 
dass du nicht erschrecken mußt, nicht erschrecken mußt:

vor dem Grauen der Nacht,
vor den Pfeilen, die fliegen am hellichten Tag,
vor der Seuche im Finstern,
vor der Pest, die am Mittag Verderben bringt.
Auch wenn Tausende fallen,
so wird’s dich nicht treffen, dich nicht treffen!

Denn er…

Elifas Lobpreis klingt im Psalm genauso an wie Hiobs Qual. Er stellt die beiden Seiten göttlichen Wirkens nebeneinander. Das Verderben in der Welt und Gottes Güte und Schutz sind gleichermaßen wirklich, auch in unserem Leben. Und beides bedingt sich gegenseitig — wie Karfreitag und Ostern ist eines alleine sinnlos. Unser Gott ist Einer, aus seiner Hand empfangen wir beides. Darin ist Trost. Es ist das Geheimnis von Leben, Tod und Auferstehung.  

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 21/2020

Jerusalem, 3. Januar 2019, Stadtmauer Jerusalem

Da sie das hörten, wurden sie froh und verhießen, ihm Geld zu geben. Und er suchte, wie er ihn füglich verriete.
Mk 14,11

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Sammler von Schuld

Wenig wissen wir über Judas, obwohl er eine zentrale Rolle spielt im Schlussakt des Dramas um Schuld und Entsühnung im Neuen Testament. Judas gehörte zu den Zwölfen, zur engsten Schar um Jesus. Einige Zeit vorher war er mit den anderen von Jesus ausgesandt und mit Wunderkräften versehen worden, um zu missionieren und zu heilen. Er verwaltete die Kasse der Gruppe und hat Jesus nach Jerusalem begleitet auf dem Weg, der zum letzten Abendmahl und zu seinem Tod führen sollte. Und noch bevor alles begann, hatte er beschlossen, Jesus seinen Todfeinden ans Messer zu liefern. 

Warum nur? 

Das Neue Testament ist mit Antworten karg. Im gezogenen Vers wird als Motiv Geldgier angedeutet. Doch wer seine Tage und Nächte mit einer religiösen Gruppe verbringt, die sich der Besitzlosigkeit verschrieben hat, kann hier eigentlich nicht sehr anfällig sein. Johannes spricht davon, dass der Teufel in Judas gefahren sei. Das ist eher das Gegenteil einer Erklärung. Eine gängige Begründung lautet, Judas sei Zelot gewesen, Mitglied einer Gruppe, die den gewaltsamen Umsturz beförderte und plante, und der Verrat sei aus Enttäuschung über den gewaltfreien Kurs Jesu geschehen. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass Judas seinem Meister vorher nie zugehört haben sollte. Die schmale Stütze dieser Vorstellung ist der Beiname „Iskariot“. Das könnte auf einen „Sikarier“ verweisen, die ständig Messer mit sich trugen, bereit zum Attentat in Gottes Auftrag — aber genausogut kann eine Herkunft aus dem Dorf Kariot in Juda dahinterstehen. Joh 13,26 macht es in meinen Augen klar, der Vers nennt ihn „Judas, Sohn des Simon Iskariot“. 

Irenäus von Lyon erwähnt (und verwirft) das Judasevangelium einer gnostischen Sekte. Darin wird Judas als herausgehobener Jünger beschrieben, der als einziger die Notwendigkeit des Opfertods Jesu versteht und den Weg dorthin ebnet, im Auftrag Jesu. Der Text war verschollen, tauchte aber 2006 in einer koptischen Fassung aus dem vierten Jahrhundert wieder auf. Literarisch spielte dieses „Evangelium“ aber bereits zuvor in der gewaltigen Jesuserzählung des jüdischen Autors Schalom Asch aus den dreissiger Jahren eine Rolle. Asch stellt Judas als einen Jünger zwischen abgründigem Zweifel und fanatischem Glauben vor, den der Stillstand fast um den Verstand bringt, bis er schließlich wie unter Zwang die Starre lösen, die Heilstat in Gang bringen will, die zum Reich Gottes führen soll.

Ist da ein Körnchen Wahrheit versteckt? In den Tagen vor seiner Verhaftung lebten Jesus und seine Jünger verdeckt, streng konspirativ — sie zeigten sich tags im Tempel, weil sie in der zugewandten Menge vor Verhaftung sicher waren und verschwanden abends wieder im Umland, in Betanien. Mk 14,12-16 schildert die Wege und Umwege, damit das Pessachmahl in Jerusalem gefeiert werden konnte. Sollte es also zur Kreuzigung kommen, mußten Jesus und seine Verfolger zusammengeführt werden. Judas‘ Tat war im Sinne des Neuen Testaments notwendig. Alle vier Evangelisten berichten, dass Jesus von Judas Verrat wusste, und dass Judas dies seinerseits bekannt war. Zwischen beiden herrschte eine Art Einverständnis. Bei Johannes sogar explizit: „Was du tust, das tue bald“, sagt Jesus zu seinem Jünger. 

Jesus löst von Schuld. Judas sammelt Schuld. Alle versagen: die Priester, die Schriftgelehrten, das einfache Volk, die Römer und auch die Jünger. Das Versagen macht den Opfertod nötig und führt ihn gleichzeitig herbei. Hierfür steht Judas, der Jünger aus dem engsten Kreis, als Allegorie der Schuld. Auf seine Art trägt auch er die Sünde der Welt. Mit dem Verrat und dem späteren Selbstmord wird er zum dunklen Bruder, zum Gegenbild, von Petrus oder sogar von Jesus selbst. In dem Moment, als Jesus und Judas beim Abendmahl gemeinsam den Bissen in den Becher tauchen, bedingen sie sich gegenseitig, beider Schicksal hängt am jeweils anderen.

Sonderbar: Jesus lässt Judas sehenden Auges an der Abendmahlsfeier teilnehmen, auf der er symbolisch den Leib für die anderen hingibt. Und Judas: er bleibt und geht erst dann hinaus in die Nacht. Ist Jesus eigentlich auch für Judas gestorben? Und Judas, schließlich, am Ende, für Jesus? 

Ich wünsche uns eine friedliche Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 20/2020

Urim und Thummim

Und der Landpfleger sprach zu ihnen, sie sollten nicht essen vom Hochheiligen, bis ein Priester aufstände mit dem Licht und Recht.
Esr 2,63

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Das Los werfen

Ein besonderer Vers für jemanden, der zufällig Bibelverse zieht, um dadurch über die Zeit ein neues Bild zu gewinnen! Es geht um die Orakelsteine Urim und Thummim, mit denen der Hohepriester direkt Gottes Wille erfragen konnte, siehe 2.Mose 28,30. Ihr Name wird von Luther etwas ungenau mit „Licht und Recht“ übersetzt, richtiger wäre „Lichter und Vollkommenheiten“.  

Als die Judäer sich siebzig Jahre nach der Verschleppung durch die Babylonier in Jerusalem wieder sammeln durften, mussten sie das Judentum neu konstituieren. Hierfür steht das Buch Esra. Wer gehörte dazu, wer nicht? Siehe hierzu BdW 2/2018, aus demselben Abschnitt gezogen. Besonders kritisch musste diese Frage bei den Leviten gestellt werden. Nur Abkömmlinge des Stammes Levi durften Tempeldienste verrichten. Der Abstammungsnachweis gelang nach so langer Zeit nicht allen Familien mehr. Es war aber durchaus möglich, das der Anspruch der betroffenen Familien berechtigt war. Der Landpfleger zieht sich aus der Affäre: Der Anspruch wird nicht abgelehnt, sondern nur suspendiert, bis die Frage mit Hilfe der beiden Orakelsteine durch ein Gottesurteil gelöst werden konnte. Diese waren nach dem Exil leider verschwunden. Bis sie wieder auftauchen, durften die fraglichen Familien also an der Durchführung der Opfer nicht mitwirken.

Der Landpfleger zeigt Führung, wie man heute sagt — irgendwie müssen Sachfragen eben beantwortet werden. Aber wenn es nun die Orakelsteine noch gäbe? Beim Werfen waren drei Ausgänge möglich: „ja“, „nein“ und „keine Antwort“. Wer die Steine besaß, hatte große Macht: einen unmittelbaren Zugang zu Gottes Wille und zur Wahrheit, dann jedenfalls, wenn die beiden Steine auf die gestellte Frage tatsächlich antworten, mit „ja“ oder „nein“. 

Eine faszinierende Vorstellung! 

Wie würden wir die Steine nutzen? Man müsste lange über die Formulierung der Frage nachdenken, das zur Entscheidung stehende Problem so gut wie möglich vorbereiten und sich dabei ganz auf dasjenige konzentrieren, was wichtig und offen ist, und zwar gegeben alles relevante Wissen — Unwichtiges oder im Grunde Bekanntes hat in einer Frage an die mit göttlicher Kraft begabten Steine keinen Platz. Bereitet man sein Anliegen in dieser konsequenten Weise auf, kann man so viel lernen, dass die Steine vielleicht gar nicht mehr nötig sind…

So können wir aber auch ohne Urim und Thummim vorgehen und dann, falls am Ende doch eine Frage übrig bleibt, auf Gottes Antwort warten. Sie wird zu uns gelangen — wenn es denn sein soll, denn auch die Steine haben am Ende ja nicht jede Frage beantwortet. 

Ich wünsche uns in dieser Woche die Antwort auf eine Frage, die wichtig und offen ist, und dabei Gottes Segen. 

Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 19/2020

Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weltweisen? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht?
1 Kor 1,20

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Weisheit und Torheit

Paulus hat ein Problem. Seine Botschaft richtet sich an Juden und auch an die griechisch akkulturierten Heiden. Für die Juden entspricht Jesus mit seinem Kreuzestod überhaupt nicht dem Bild des strahlenden Messias, der das Königtum wieder aufrichtet und ein Reich Gottes unter der Herrschaft Israels begründet. Die Griechen wiederum hatten sich um die Zeitenwende von ihrer polytheistischen Götterwelt im Grunde verabschiedet, sahen sie nur mehr als Gleichnis. Was Paulus mit „Weisheit“ bezeichnet, ist konkret die stoizistisch geprägte griechische Philosophie seiner Gegenwart.

Und die war messerscharf und anti-transzendent. Das Leben ist Leiden, das Gewordene ist zum Vergehen bestimmt, und nicht die Götter helfen, sondern eine Schau auf das Leben und der eigenen Person, die sich von den Bedingtheiten des Lebens löst. Das Leiden überwindet, wer lernt, es zu ertragen. Die Botschaft vom rettenden Gott, der die Waagschalen der Welt ins Gleichgewicht zurückführt, der das große Sühneopfer in Gestalt seines Sohns selbst bringt — sie war für die Philosophen irrelevant, irreführend oder sogar Opium fürs Volk. 

Paulus kann diese Position nicht widerlegen, obwohl er es durchaus einmal versucht (siehe Apg 17,16ff), sie ist konsistent, auch heute noch. Die christliche Botschaft erfordert einen Akt des Glaubens, einen geistigen Sprung ins Leere, und ist so gesehen „unvernünftig“. Die rhetorischen Fragen im Vers bereiten Paulus‘ Antwort vor:  

Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.
(1 Kor 1, 22-25)

In der ganzen Bibel gibt es eine konsequente Tendenz, weltliche Werte umzuwerten und das Unterste zuoberst zu kehren. Vor einem halben Jahr hatten wir einen Bibelvers der Woche aus Kohelet, siehe den Link:

Ich sah Knechte auf Rossen und Fürsten zu Fuß gehen wie Knechte.
Koh 10,7 (BdW 2019 / 38)

Paulus schreibt, dass Gott sich auf eine ganz eigene und unverkennbar „gott“hafte Weise empirisch manifestiert: es ist das Kleine, das mit Gott das Große überschattet, das Schwache, dass mit Gott sich durchsetzt und das Starke überwuchert. Das genaue Gegenteil also des Erwartbaren. Das nimmt eine Kernströmung im Tanach auf und es macht Kreuzestod und Auferstehung unmittelbar plausibel. Den Philosophen sagt er, dass Gott und seine Liebe größer sind als die menschliche Vernunft (Phi 4,7), dass Gott zu groß ist, um sich berechnen zu lassen.

Die rhetorischen Fragen im Vers kann man sich in Ruhe selbst stellen. Man wird dann schnell bescheiden. Wo das Fassungsvermögen nicht ausreicht für das, worauf es ankommt, schlägt Weisheit in Torheit um, und — vielleicht! Das ist die Hoffnung! — umgekehrt. 

Das ist ein Geheimnis ganz eigener Art, und ich wünsche uns in dieser Woche von beidem, Weisheit und Torheit, die rechte Mischung.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 18/2020

Die Kinder des Weibes Hodijas, der Schwester Nahams, waren: der Vater Kegilas, der Garmiter, und Esthemoa, der Maachathiter.
1 Chr 4,19

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte

Das Buch Chronik gibt den Inhalt von Teilen Samuels und der beiden Königsbücher aus einer alternativen, stark auf den Tempel und das Südreich bezogenen Sicht wieder. Am Anfang des ersten Chronikbuchs steht die „genealogische Vorhalle“. Hier werden, Stamm für Stamm, die Beziehungen zwischen den wichtigen Sippen, Siedlungsgebieten und Städten erörtert. Dabei werden Städte und Landschaften wie Menschen behandelt: sie werden mit ihren Gründern identifiziert und sind in nachvollziehbar Weise verwandt miteinander; es lassen sich Verhältnisse von Über- und Unterordnung feststellen und begründen. Das gleiche Prinzip finden wir im Buch Genesis. Israel ist der Name eines Mannes, nicht nur eines Volks, Juda ebenso. Reihenweise werden Völker, Stämme, Städte auf einzelne lebende Menschen zurückgeführt.

Der gezogene Vers stammt aus einem von mehreren Abschnitten, in denen die Familien, Städte und Landschaften Judas behandelt werden. Den genauen Wortlaut des gezogenen Verses verstehe ich leider im einzelnen nicht, trotz großer Mühewaltung. Hodija wird vorher und nachher nirgends sonst erwähnt, auch Naham nicht, es ist nicht klar, wie die beiden Männer im Stamm Juda überhaupt verankert sind. Und bei Kegila (Keïla) und Esthemoa kann es sich um Menschen handeln oder auch um die Städte gleichen Namens: das alte Hebräisch gebraucht für Stammvater / Gründer nämlich das Wort für einen biologischen Vater, אב. Die Zuschreibungen „Garmiter“ und „Maachatiter“ können sich auf die Herkunft eines Menschen beziehen oder auf die Zuordnung zu einer Sippe oder einem Volk. 

Mit diesen Ambivalenzen im Originaltext sind die mir zugänglichen Bibelübersetzungen sehr unterschiedlich umgegangen. Ich will hier nur die Lösung der katholischen Einheitsübersetzung erwähnen. Dort geht man davon aus, dass das Wort Hodija gar nicht der Name eines Mannes ist, sondern das Resultat eines Übertragungsfehlers: am Anfang des Worts ist der Buchstabe Jod verloren gegangen. Dann nämlich heißt es jehudiah — von Juda –, und man erhält als Konjektur eine Lösung, die zum Text vorher gut passt: ein Mann namens Mered hatte zwei Frauen, eine ägyptische Frau, die Tochter des Pharao, und eine Frau aus Juda. Die judäische Frau war Schwester von Naham, des Gründers der Städte Kegila und Esthemoa.  

Vielleicht ist die Ambivalenz gerade der Schlüssel zu dem, was der sonderbare Vers uns heute sagen kann. Menschen leben in Landschaften und Städten, und die Landschaften und Städte sind durch Menschen geprägt, und sind in der Geschichte miteinander und mit ihren Bewohnern untrennbar verbunden. Die Bibel behandelt in einer heute politisch inkorrekt wirkenden Weise geographische Einheiten konsequent wie Menschen. 

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte. Die Kalckreuths pflegen eine Familiengeschichte. Sie wird auf der Grundlage einer großen Arbeit aus dem Ende des neunzehnten Jahrhundert fortgeführt. Vor einigen Wochen erreichte mich eine Anfrage eines Mannes aus den Niederlanden, der seine Familie erforscht und dabei auf eine geborene Kalckreuth gestoßen ist. Ihr Name, Barbara Dorothea, taucht in unserer Familiengeschichte nicht weniger als viermal auf, immer im Umfeld desselben Guts. Zwei der Einträge beziehen sich vermutlich auf dieselbe Person, die anderen beiden aber lebten nicht zur gleichen Zeit. Hier gibt es eine überzeitliche Beziehung zwischen einem Ort und mehreren Menschen gleichen Namens. Es wäre schön, mehr über das Gut und die Familien zu wissen, deren Leben um den Ort kreiste. Der holländische Ahnenforscher war jedenfalls sehr erfreut über das, was er aus unserer Familiengeschichte erfuhr, und gemeinsam konnten wir die Gesuchte identifizieren.

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte sind die grundlegenden Einheiten, aus denen die biblische Welt sich zusammensetzt. In der siebenten Woche der Kontaktbeschränkungen sind Bildschirme das wichtigste, beinahe einziges Interface zur Wirklichkeit geworden. Über Bildschirme haben wir Kontakt zu anderen Menschen, die ihre Welt ihrerseits ganz genauso erleben, und es gilt gleich, ob sie in Frankfurt, Jerusalem, London oder Paris leben. Das wird Folgen haben. Es tut gut, sich daran zu erinnern: Die Welt setzt sich aus Menschen zusammen, aus ihren Familien und aus Orten, in denen sie interagieren — miteinander und gegeneinander. Corona löst diesen Zusammenhang in unseren Köpfen nachhaltig auf. Vielleicht ist dies die eigentliche Krankheit.

Ich wünsche uns eine Woche mit so viel Realität in den Köpfen wie möglich: Menschen, ihre Familien und ihre Orte. Gott sei mit uns,
Ulf von Kalckreuth