„Du sollst”, sagen sie, „das nicht angreifen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren”
Kol 2,21
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.
Zumutung
Paulus äfft nach, wie es Kinder manchmal tun, wenn Forderung der Eltern für absolut inakzeptabel halten. Als ich den Vers gezogen habe, rief ich meiner Tochter zu: „Hier ist ein Vers für Dich!“ und habe ihn ihr gelesen, in einem entsprechenden Tonfall — und wie als Echo, fast automatisch, aber im Spiel, kam die Mimik, die Gestik und der Tonfall zurück, den ich von ihr bekomme, wenn ich etwas will, was sie nicht will. Auf dieser Ebene hat sie den Vers sofort verstanden.
Paulus warnt vor Irrlehren in der Gemeinde der Kolosser. Er kennt diese Gemeinde nicht selbst, sie ist eine Gründung seines Gefährten und Sekretärs Epaphras, daher wird vermutet, dass dieser Teil des Briefs auf Epaphras zurückgeht.
Es ist im einzelnen unklar, welche Gebote und Forderungen Paulus und Epaphras hier karikieren, Vers 16 deutet darauf hin, dass es sich um Speisegebote und Feiertage handelt. Dann stünde der Vers vielleicht in der langen Debatte, ob und in welchen Teilen die Gesetzlichkeit der Torah für Christen verbindlich sei. In ihrer extremen Form ist es die Frage, ob nicht zuerst Jude werden muß, wer Christ sein will — weil das Erlösungswerk Jesu sich an Juden richtet.
Die Antwort der christlichen Kirchen auf die Frage nach der Verbindlichkeit der Torah habe ich nie ganz verstanden. Für einen Versuch siehe BdW 41/2020. Das Gesetz ist nicht verbindlich. Aber die ethischen Maximen mit den zehn Geboten als Kern haben denselben Stellenwert wie im Judentum, vielleicht weil Jesus selbst sich auf sie beruft. Aber hat er sich nicht wiederholt auf die ganze Torah berufen? In manchen christlichen Traditionen sind im Laufe vieler Jahrhunderte andere rituelle Forderungen an die Stelle der mosaischen getreten. Vielleicht begreift man den christlichen Umgang mit dem alten Gesetz im Kern am besten als Ergebnis einer kulturellen Evolution, dessen genaues Ergebnis zu Paulus‘ Zeit noch nicht feststand.
Paulus jedenfalls sagt, hier und anderswo, wir seien von allen solchen Forderungen frei:
Wenn ihr nun mit Christus den Elementen der Welt gestorben seid, was lasst ihr euch dann Satzungen auferlegen, als lebtet ihr noch in der Welt: »Du sollst das nicht anfassen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren« – was doch alles verbraucht und vernichtet werden soll. Es sind menschliche Gebote und Lehren. Diese haben zwar einen Schein von Weisheit durch selbst erwählte Frömmigkeit und Demut und dadurch, dass sie den Leib nicht schonen; sie sind aber nichts wert und befriedigen nur das Fleisch.
Die Welt ist gefallen und fällt weiter, so verstehe ich es, und die Gebote der Welt führen uns in die Irre, dann jedenfalls, wenn wir sie für wesentlich halten. Worauf es einzig ankomme, ist die Führung Jesu Christi. Paulus selbst fiel es ausgesprochen leicht, sich an die Regeln des Umfeldes zu halten, in dem er sich jeweils bewegte — er wusste, was er tat und warum. Im 1. Korintherbrief (9, 19-23) schreibt Paulus:
Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, auf dass ich möglichst viele gewinne. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen unter dem Gesetz bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die unter dem Gesetz gewinne. Denen ohne Gesetz bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin im Gesetz vor Christus –, damit ich die ohne Gesetz gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise etliche rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, auf dass ich an ihm teilhabe. (1. Kor 9,19-23)
Der gelernte Pharisäer scheut nicht einmal davor zurück, Opferfleisch zu essen; ob man das tue oder nicht, solle nur von den Gefühlen desjenigen abhängen, mit dem man Gemeinschaft haben wolle, schreibt er ein paar Abschnitte weiter unten, in 1.Kor 10,23ff.
Für Paulus steht Jesus an der Stelle der Torah, ich denke, das trifft es recht buchstäblich. Das Befolgen von Regeln mag seinen Wert in der Welt haben, mag helfen, bestimmte Ziele zu erreichen, aber der Jünger Christi soll sich nicht um ihrer selbst willen mühen. Die Regeln und Riten haben keinen Wert an sich. Der Ritus ähnelt darin dem Götzendienst, wie es in Jesaja 44, 9ff beschrieben wird: ein Mann spaltet Holz, verfeuert die eine Hälfte um sich zu wärmen und schnitzt sich aus der anderen Hälfte ein Bild, um es anzubeten.
In unserem Vers macht Paulus sich über Riten und Gebote lustig. Aber was bedeutet das positiv? Wonach soll man das Handeln denn ausrichten? Im Galaterbrief gibt Paulus zwei Antworten. Sie sind sehr allgemein, der Glaubende muss sie selbst ausfüllen:
Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt (3. Mose 19,18): »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« Wenn ihr euch aber untereinander beißt und fresst, so seht zu, dass ihr nicht einer vom andern aufgefressen werdet. (Gal 5,14f), und
Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit; gegen all dies steht kein Gesetz. (Gal 5,22f).
„Prüft aber alles, und das Gute behaltet!“ (1. Tess 5,21), und auch: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf.“ (1. Kor 10,23). Nicht das Richtige sollen wir tun, sondern das Gute, um den Pastor meiner Gemeinde zu zitieren.
Ich zitiere so viel, weil ich mir zutiefst unsicher bin. Ich weiß um den Wert von Regeln in meinem eigenen Leben — ohne Regeln bin ich freigiebig nach Kassenlage, freundlich nach Kassenlage, herzlich nach Kassenlage. Und da gibt es meistens Dringendes, das mich vom Wichtigen abhält. Das Wichtige ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit, so steht es oben. Oft aber sind Regeln dasjenige, was mich gerade noch vom Gegenteil abhält, und manchmal helfen auch sie nicht mehr.
Als Kinder des Heiligen Geists sollen wir selbst wissen, was gut sei, sagt Paulus. Eine unglaubliche Zumutung. Ich bin Bundesbeamter, mich überfordert das. Wie kann ich rund 17 Stunden am Tag wissen, was gut ist, ohne das Auffangnetz von Regeln? Ich kann es nicht! Aber ich soll! Der Taufspruch meiner älteren Tochter lautet:
Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit (Eph 5,8f).
Ein ganzes Wochenende lang feiern wir den Geburtstag desjenigen, der uns hierbei leiten kann. Ohne ihn geht es nicht. Der Herr segne uns, an diesem Tag, in dieser Woche und im Jahr, das kommt,
Ulf von Kalckreuth