Interludium: Betrachtung zu Palmsonntag

Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Spricht Pilatus: Was ist Wahrheit?
Joh 18,37

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Königtum

Dies ist kein „Bibelvers der Woche“, zufällig gezogen, sondern meine Betrachtung zum Palmsonntag im Gottesdienst des vergangenen Sonntags. Sie schließt sich aber sehr unmittelbar an den Bibelvers dieser Woche an und hat mir geholfen, den Sinn der Karwoche besser zu verstehen. Sie können diesen Text also als Nachtrag betrachten.


Königtum, Tod, Fasten

Liebe Gemeinde, es ist Palmsonntag. Palmsonntag steht für ein großes Ereignis. Jesus zieht ein in Jerusalem, ins Zentrum der Macht – dort wo die Könige residierte und der Tempel stand. Es ist aber auch das Zentrum der Macht seiner Gegner. In Jerusalem wird sich alles entscheiden.

Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« 
Joh 12, 12-15

Palmsonntag hat etwas sehr Irritierendes – dieser Tag im funkelt und blitzt in allen Farben des Regenbogens und dazu auch in weiß, blendend hell. Eine große Wahrheit scheint auf: zu sehen für jedermann. In alptraumhafter Weise verkehrt aber diese Wahrheit sich dann in ihr Gegenteil, wird zur fetten, feisten Lüge. Um nochmals später doch wahr zu sein, auf gänzlich unerwartete Weise, in einer anderen Welt eigentlich.

Als Jesus später vor Pilatus steht, fragt dieser ihn: „Bist Du der Juden König?“ Und Jesus antwortet (Joh, 18):

Mein Reich ist nicht von dieser Welt… Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?

Wahrheit zeigt uns manchmal ständig ein anderes Gesicht. Und manchmal ist sie gar nicht wiederzuerkennen.

Palmsonntag: Jesus gibt sich als Messias zu erkennen – endlich! Es muss eine unglaublich dichte Atmosphäre gewesen sein, damals. Heilserwartung lag in der Luft. Die Menschen jubelten: sie hatten von Jesus gehört und von seinen Wundertaten und nun kam er tatsächlich nach Jerusalem, die Hochgebaute, wo sich das Schicksal Israels und der Welt wenden würde. Alle vier Evangelien berichten von dem Einzug, in leicht unterschiedlicher Weise. Auf einem Füllen sitzend kam Jesus, die Menschen haben ihre Kleider — die seinerzeit lange Tücher waren — auf das Füllen und über den Boden gelegt, für den König. Palmzweige wurden gestreut. Alles war möglich, alles konnte nun geschehen. Die Welt war weit offen. Das Reich Gottes und die Welt der Menschen waren verschränkt wie niemals vorher und niemals nachher. Die Menschen sangen den Messiaspsalm, Psalm 118. Ich will ihn nachher mit euch beten. Dieses Lied ist an vielen Stellen geradezu ekstatisch, es besingt den Einzug in die Heilige Stadt und den Anbruch des Reichs Gottes. In der Zukunft. Doch die war ja gerade Gegenwart geworden…!

Jesus durchschreitet das Tor. Was aber dort auf ihn wartet, ist nicht Königtum, sondern der Tod. Er wird verfolgt – versteckt feiert er mit seinen Jüngern das Pessachmahl, wird dann verraten, verhaftet, verurteilt und verspottet. Eine Dornenkrone setzen sie ihm auf, dem „König der Juden“, und einen Purpurmantel. Dann wird er gefoltert bis zum Tod. Die Welt bleibt stehen, der große Schabbat, einen ganzen Tag lang!

Und dann ist alles GANZ anders. Dann ist Jesus wirklich König, dann steht er auf von den Toten, ist Christus, der Gesalbte, der zur Rechten des Vaters sitzt.

Das ist eine unglaubliche Geschichte, nicht wahr? Als ich darüber nachdachte, merkte ich, dass sie aber auch etwas hat, das uns alle betrifft, etwas fast Alltägliches. Wir sind Kinder Gottes, sind als Kinder Gottes geboren und als Christen dazu bestimmt, die Krone zu empfangen. Das ist Palmsonntag, nicht wahr? Was aber dann mit uns geschieht, ist nicht schön. Bei vielen dauert es lange, bei manchen geht es schneller – wir desintegrieren, lösen uns auf. Im Alter verlieren wir alles: Kraft, Geist, Schnelligkeit, oft auch den Verstand und die Erinnerungen, am Ende sogar die grundlegendsten Fähigkeiten. Das Leben ist sehr gut darin, uns die Dornenkrone aufzusetzen. Ich denke an einen Menschen, der mir sehr nahe steht. Er wird neunzig und hat fast alles verloren, ausser seinem Verstand und seinem Gehör und seiner Familie. Diese drei sind ihm geblieben. Dornenkrone, nicht wahr? Karfreitag

Gottes großes Versprechen ist, dass dies nicht das Ende ist. Das wir zu Recht Gottes Söhne und Töchter heißen, dass wir Könige sind und Königinnen. In dieser Welt und in der nächsten. In Ostern liegt die eigentliche, die letzte Wahrheit.

Auf dem Weg dorthin aber verlieren wir alles. So ist es, unausweichlich, die Bibel sagt das deutlich, im Buch Kohelet wie auch in den Psalmen. Gott nimmt uns das nicht ab. Der Weg ist nicht schön, oft ist er gar entwürdigend, so wie die Dornenkrone. Und wir sollen lernen, damit umzugehen. Ich sehe darin den eigentlichen Sinn des Fastens. Lernen, frei zu bleiben.

Palmsonntag ist der Einstieg in die Karwoche. Mich hat die Fastenzeit in diesem Jahr überfallen und eingefangen, fast wie ein Räuber. Ich wollte eigentlich lediglich auf Alkohol und Videos verzichten. Fleisch esse ich ohnehin nicht. Meine jüngere Tochter hat dann beschlossen, tagsüber nicht zu essen, nur noch abends nach acht Uhr. Ich fand das überzeugend und habe mich angeschlossen. Jeden Abend haben wir um acht Uhr gemeinsam gegessen.

Und die kommende Woche, Montag bis Karsamstag, werde ich in einem kleinen Zimmerchen in der Mitte eines Kirchturms verbringen. Weißfrauenkirche, Gutleutstraße. Ich will versuchen, ein Buch aus meinen Betrachtungen zum Bibelvers der Woche zu machen. Das war ein recht kurzfristiger Entschluss, aber irgendwie passt er zum ganzen Rest. Ich werde sehr reduziert sein da oben, und ich bin gespannt, was es mit mir macht. Später werde ich es vielleicht wiedererkennen, in einigen Jahren, wenn ich selbst neunzig bin.

Und dann wissen, dass ich König bin. Wie Jesus, wie wir alle!

Amen! So sei es, so soll es sein!

Bibelvers der Woche 10/2024

Die Wege des HErrn sind eitel Güte und Wahrheit denen, die seinen Bund und seine Zeugnisse halten.
Ps 25,10

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Eine Zusammenfassung der Bibel…

Wenn ich eine Zusammenfassung der Bibel in einem einzigen Satz geben müsste — es wäre vielleicht dieser Vers. Wenn wir ihn lesen und nochmals lesen, steht dort folgendes: 

  1. Der Herr und die Seinen haben einen Bund
  2. Gott hält den Bund.
  3. Wer den Bund seinerseits hält, dem ist Gott treu. Er erfährt Güte und Wahrheit — für Wahrheit (‚emet) kann hier auch ‚Treue‘ übersetzt werden. 
  4. Den Bund halten bedeutet Gottes Wort achten. 

Gott ist mit uns, wenn wir uns in ihm bergen. Ja, darauf kann man ein Leben bauen. Was indes geschieht mit jenen, die Gottes Wort nicht achten? Verlieren sie (nur) Gottes Schutz oder werden sie aktiv bestraft? Ist beides ein und dasselbe?

Da ist noch etwas. Die einfache und tröstende Zusicherung, dass Gott denen treu ist, die ihm treu sind, kann man auch umdrehen: wem es schlecht geht, der hat sich ausserhalb Gottes Bund gestellt. Man nennt dies den Zusammenhang von Tun und Ergehen. 

Es ist lieblos, fast grausam, in dieser Weise auf das Leid anderer Menschen zu blicken. Das ganze Buch Hiob setzt sich damit auseinander. Aber selbst das Erlösungswerk Jesu nimmt diese Spannung nicht aus der Welt, denn auch den „neuen Bund“ müssen wir halten, wenn wir darin geborgen sein wollen. 

Was bedeutet Leid? Ich weiß die Antwort nicht. Persönlich bin ich überzeugt, dass die Wege Gottes auch durch Leid führen. Sie führen hindurch, das ist es vielleicht. Was mich selbst betrifft, so sehe ich immer wieder, dass Gott mit mir ist, auf wunderbare Weise manchmal, auch und manchmal sogar gerade wenn meine eigene Treue recht eingeschränkt ist. Das Leid anderer kann ich mit dieser Brille nicht lesen. Es steht mir nicht zu. Meine Aufgabe ist, in Liebe zu tun, was ich tue.

Lesen Sie den Vers noch einmal. Gott ist mit uns, wenn wir uns in ihm bergen.

Der Herr segne und behüte uns
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 05/2024

Und sollst Dankopfer opfern und daselbst essen und fröhlich sein vor dem HErrn, deinem Gott.
Dtn 27,7

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Party für das Gesetz

Noch einmal Deuteronomium, zum dritten Male hintereinander. Meine Tochter sagt, das sei ein Zeichen, ich solle das Buch nun ganz lesen. Das habe ich nicht geschafft in dieser Woche, aber vielleicht können wir ja das Buch als Ganzes ins Auge fassen. Es kreist um das (mosaische) Gesetz. Das Buch ist eine Art Zusammenfassung des zweiten, dritten und vierten Buchs Mose, einheitlich gefasst als drei Reden Mose, die er am Ufer des Jordan hält, kurz bevor das Volk den Sprung ins unbekannte verheissene Land wagt, kurz auch vor seinem eigenen Tod. 

Wie soll mit dem Gesetz umgegangen werden, nachdem es nun vorliegt? Die Abschnitte geben drei konkrete Anweisungen. Erstens: Nach der Landnahme sollen zwei Stelen aufgestellt werden, mit Kalk getüncht, auf denen das Gesetz zu lesen ist, Wort für Wort. Zweitens: Sechs Stämme stellen sich auf dem Berg Ebal (bei Sichem, heute Nablus) und sprechen Verfluchungen. Auf dem benachbarten Garizim stehen sechs andere Stämme und sprechen Segensworte. Ganz wie in Dtn 28: Fluch für das Volk, wenn es die Gebote mißachtet, Segen, wenn es sie einhält. Das Gesetz wird hier konkreter Ausdruck des Bundes zwischen Gott und den Menschen. Das ist die Botschaft des Deuteronomiums. Haltet den Bund fest, so hält Gott an euch fest — und das gelingt, indem ihr das Gesetz haltet, das Gott euch gibt zu diesem Zweck. 

Das ist die Theologie des Deuteronomiums. Dafür wird das Buch geschmäht von liberalen christlichen Theologen, aber ohne diese Theologie — und die vielen Antworten, die es darauf gibt — sind Christentum und Judentum schlicht unverständlich.

Die dritte Anweisung gibt unser Vers: Gottes Volk soll auf dem Ebal einen Altar bauen und Dankopfer bringen und essen und fröhlich sein. Das ist eine sehr merkwürdige Vorstellung für uns. Party für das Gesetz!? Wer empfindet Freude an der Straßenverkehrsordnung, an der Steuergesetzgebung oder am bürgerlichen Recht? 

So ist es aber gemeint. Gottes Gesetz wird Grund zur Freude und zur Feier. Es ist ein Anker, eine Landkarte für den Bund. Im Judentum gibt es ein Fest, Simchat Torah, das Fest der Torahfreude, wo große Freude nicht nur erlaubt ist, sondern den eigentlichen Kern ausmacht. Simchat Torah schließt die Reihe der hohen Feiertage im Herbst ab. 

Zurück zu den Stelen. Was soll darauf geschrieben werden, welches Gesetz ist gemeint? Das Deuterononomium als Ganzes ist gewiss zu voluminös. Die zwei Stelen erinnern sehr an die beiden Steinplatten, auf die Gott selbst die zehn Gebote schrieb, den Kern des mosaischen Gesetzes. Diese Tafeln wurden aufbewahrt in der Bundeslade, die später im Allerheiligsten des Tempels stand, als Ausdruck und physische Manifestation des Bundes zwischen Gott und der Menschen.

Stelen des 21. Jahrhunderts sind die Webseiten im Internet — dort wird geistige Realität geschaffen und auch vernichtet. Vielleicht ist es daher angebracht, wenn der Betreiber eines Blogs zur Bibel den zehn Geboten eine kleine Stele errichtet, oder besser: zwei. Am Ende eines langen Jahres hatte ich die zehn Gebote schon einmal ins Netz gestellt. siehe den BdW 53/2020. Hier sind sie wieder, diesmal gemeinsam mit dem hebräischen Original, in der Fassung Dtn 5,6-21.

Ein Schlüssel für den Bund mit Gott. Grund zur Freude! 

Der Segen des Herrn sei mit uns,
Ulf von Kalckreuth

Deutsch, Lutherbibel 1984, Dtn 5,6-21Hebräisch
6Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft. ו  אָנֹכִי יְהוָה אֱלֹהֶיךָ, אֲשֶׁר הוֹצֵאתִיךָ מֵאֶרֶץ מִצְרַיִם מִבֵּית עֲבָדִים: 
7Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.לֹא-יִהְיֶה לְךָ אֱלֹהִים אֲחֵרִים, עַל-פָּנָי.
8Du sollst dir kein Bildnis machen in irgendeiner Gestalt, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.ז  לֹא-תַעֲשֶׂה לְךָ פֶסֶל, כָּל-תְּמוּנָה, אֲשֶׁר בַּשָּׁמַיִם מִמַּעַל, וַאֲשֶׁר בָּאָרֶץ מִתָּחַת–וַאֲשֶׁר בַּמַּיִם, מִתַּחַת לָאָרֶץ.
9Du sollst sie nicht anbeten noch ihnen dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, ח  לֹא-תִשְׁתַּחֲוֶה לָהֶם, וְלֹא תָעָבְדֵם:  כִּי אָנֹכִי יְהוָה אֱלֹהֶיךָ, אֵל קַנָּא–פֹּקֵד עֲוֺן אָבוֹת עַל-בָּנִים וְעַל-שִׁלֵּשִׁים וְעַל-רִבֵּעִים, לְשֹׂנְאָי.
10aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.ט  וְעֹשֶׂה חֶסֶד, לַאֲלָפִים–לְאֹהֲבַי, וּלְשֹׁמְרֵי מצותו מִצְוֺתָי.
11Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.י  לֹא תִשָּׂא אֶת-שֵׁם-יְהוָה אֱלֹהֶיךָ, לַשָּׁוְא:  כִּי לֹא יְנַקֶּה יְהוָה, אֵת אֲשֶׁר-יִשָּׂא אֶת-שְׁמוֹ לַשָּׁוְא.
12Den Sabbattag sollst du halten, dass du ihn heiligest, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat. יא  שָׁמוֹר אֶת-יוֹם הַשַּׁבָּת, לְקַדְּשׁוֹ, כַּאֲשֶׁר צִוְּךָ, יְהוָה אֱלֹהֶיךָ.
13Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun.יב  שֵׁשֶׁת יָמִים תַּעֲבֹד, וְעָשִׂיתָ כָּל-מְלַאכְתֶּךָ.
14Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Rind, dein Esel, all dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt, auf dass dein Knecht und deine Magd ruhen gleichwie du. יג  וְיוֹם, הַשְּׁבִיעִי–שַׁבָּת, לַיהוָה אֱלֹהֶיךָ:  לֹא תַעֲשֶׂה כָל-מְלָאכָה אַתָּה וּבִנְךָ-וּבִתֶּךָ וְעַבְדְּךָ-וַאֲמָתֶךָ וְשׁוֹרְךָ וַחֲמֹרְךָ וְכָל-בְּהֶמְתֶּךָ, וְגֵרְךָ אֲשֶׁר בִּשְׁעָרֶיךָ–לְמַעַן יָנוּחַ עַבְדְּךָ וַאֲמָתְךָ, כָּמוֹךָ.
15Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst und der Herr, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm. Darum hat dir der Herr, dein Gott, geboten, dass du den Sabbattag halten sollst.יד  וְזָכַרְתָּ, כִּי עֶבֶד הָיִיתָ בְּאֶרֶץ מִצְרַיִם, וַיֹּצִאֲךָ יְהוָה אֱלֹהֶיךָ מִשָּׁם, בְּיָד חֲזָקָה וּבִזְרֹעַ נְטוּיָה; עַל-כֵּן, צִוְּךָ יְהוָה אֱלֹהֶיךָ, לַעֲשׂוֹת, אֶת-יוֹם הַשַּׁבָּת. 
16Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat, auf dass du lange lebest und dir’s wohlgehe in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.טו  כַּבֵּד אֶת-אָבִיךָ וְאֶת-אִמֶּךָ, כַּאֲשֶׁר צִוְּךָ יְהוָה אֱלֹהֶיךָ–לְמַעַן יַאֲרִיכֻן יָמֶיךָ, וּלְמַעַן יִיטַב לָךְ, עַל הָאֲדָמָה, אֲשֶׁר-יְהוָה אֱלֹהֶיךָ נֹתֵן לָךְ.
17Du sollst nicht töten.טז  לֹא תִרְצָח,
18Du sollst nicht ehebrechen.וְלֹא תִנְאָף; 
19Du sollst nicht stehlen.וְלֹא תִגְנֹב,
20Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.וְלֹא-תַעֲנֶה בְרֵעֲךָ עֵד שָׁוְא. 
21Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Acker, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was sein ist.וְלֹא תַחְמֹד, אֵשֶׁת רֵעֶךָ; וְלֹא תִתְאַוֶּה בֵּית רֵעֶךָ, שָׂדֵהוּ וְעַבְדּוֹ וַאֲמָתוֹ שׁוֹרוֹ וַחֲמֹרוֹ, וְכֹל, אֲשֶׁר לְרֵעֶךָ.
Der hebräische Text wurde entnommen von der Webseite von Mechon Mamre. Abweichend von der hebräischen Verszählung sind die Zeilen hier der Verszählung in der Lutherbibel angepasst.

Bibelvers der Woche 50/2023

Der HERR aber, der selber vor euch her geht, der wird mit dir sein und wird die Hand nicht abtun noch dich verlassen. Fürchte dich nicht und erschrick nicht.
Deut 31,8

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Fürchte dich nicht! 

Wenn man Verse zufällig zieht, kann man echte Überraschungen erleben, echte Begegnungen. Vom Vers dieser Woche bin ich wie betrunken.

Mose fühlt sein Ende nahen und übergibt die Führung an seinen Nachfolger, Josua. Er selbst darf das Heilige Land nicht betreten, so hat es Gott lang vorher bestimmt. Hundertzwanzig Jahre ist er alt, bald wird das Volk den Jordan überschreiten und er wird nicht dabei sein. Dein eigenen Tod vor Augen spricht Mose seinem Nachfolger Mut zu. Alleine schafft es Josua nicht, das wissen alle, aber der Herr selbst wird für ihn streiten! 

Es geht um Landnahme und einen Eroberungskrieg, der manches Mal zum Vernichtungskrieg gerät. Ich will hier etwas politisch Unkorrektes tun, das zudem gegen meine eigenen Prinzipien verstößt. Ich will den Kontext ignorieren und nur den Satz selbst betrachten. Hier wird jemanden, der bis weit über seine Grenzen hinaus mit Aufgaben beladen ist, Mut und Gewissheit zugesprochen, Gewissheit, dass des Herrn Kraft ihn tragen wird. 

In dieser Lage sind wir alle, wenn wir unser Leben verstehen. Es gibt kein leichtes Leben — wem seines so vorkommt, der sieht die Herausforderungen nicht. Am Ende muß die Gegenwehr erlahmen, am Ende überwältigen die wachsenden Widernisse die schwächer werdenden Kräfte, in den Strudel eines Zusammenbruchs hinein.  

Und doch! Und doch wird des Herrn Kraft uns tragen. Das ist es, was die Bibel uns im Kern sagt. Auch im Zusammenbruch, in der Überforderung, der Schwäche und der endlichen Vernichtung, dem Tod: 

Des Herrn Kraft wird dich tragen. Fürchte dich nicht!

Das ist eine ungeheure Vorstellung. Wer kann sie annehmen? Der es tut, wird gänzlich anders leben.

Der Herr sei mit uns!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 46/2023

Siehe, also wird gesegnet der Mann, der den HErrn fürchtet.
Ps 128,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Worauf es ankommt

Worin besteht Gottes Segen? Allen, die Religion für eine diffuse und wenig konkrete Angelegenheit halten, sei Psalm 128 empfohlen. Hier ist kurze Psalm vollständig, in der Lutherübersetzung von 1984:

Wohl dem, der den Herrn fürchtet und auf seinen Wegen geht!
Du wirst dich nähren von deiner Hände Arbeit;
wohl dir, du hast’s gut.
Deine Frau wird sein wie ein fruchtbarer Weinstock drinnen in deinem Hause,
deine Kinder wie junge Ölbäume um deinen Tisch her.
Siehe, so wird gesegnet der Mann, der den Herrn fürchtet.
Der Herr wird dich segnen aus Zion, dass du siehst das Glück Jerusalems dein Leben lang
und siehst Kinder deiner Kinder. 
Friede sei über Israel!

Die Aufzählung wird zweimal eingeleitet, danach stehen jeweils zwei Segensversprechen. Ich würde es gern in heutigem Deutsch schreiben. Also:

Wer den Wegen des Herrn folgt, dem wird zuteil:
1) wirtschaftliche Selbständigkeit und ein angemessenes Auskommen
2) ein glückliches Familienleben mit Partner und Kindern
3) ein geistlich erfülltes Leben mit wiederkehrenden, geglückten Pilgerfahrten
4) ein langes Leben mit Enkeln und Urenkeln

Nichts wird darüber gesagt, wie diese Gaben dem Gottesfürchtigen zuteil werden. Es muß durchaus nicht Belohnung sein, für das Einhalten der Gebote etwa, vielleicht sind es eher die Wege des Herrn selbst, die zu den Segensgaben führen.

Als ich anfing, über den Vers nachzudenken, mußte ich plötzlich verblüfft innehalten. Auf meinem Schreibtisch liegt seit vielen Jahren ein ziemlich großer glatter Flusskiesel, oben ist ein Bild. Er steht für drei Steine, mit denen ein Coach mir einst klargemacht hat, worum es geht — was Kraft kostet und woraus wir sie ziehen können. Er benannte drei Sphären:

  • Berufs und Erwerbsleben,
  • Familienleben, und
  • spirituelles Leben, worunter er neben Religion auch Kultur und Musik verstand, soweit sie zu gemeinschaftlichem Ereignis werden. 

Wenn alles in Ordnung ist, beziehen wir aus diesen Sphären Kraft, sagte er. Geraten wir auf einer der Schauplätze in Schieflage, so wird dort Kraft abgezogen, auch aus den anderen Bereichen. Das funktioniert wie bei kommunizierenden Röhren. Eine schwere Störung in einem der Bereiche wird negative Folgen auch in anderen Bereichen nach sich ziehen — eine Ehekrise kann etwas mit Schwierigkeiten im Job zu tun haben und umgekehrt. Andererseits hat Wachstum in einem der Bereiche positive Wirkungen auch in den anderen. 

Aber schauen Sie: die Bereiche, die er aufzählte, sind nichts anderes als die ersten drei Nennungen im Psalm! Die vierte Nennung fehlt in seiner Liste — langes Leben mit Kindeskindern. Sie steht für ein in der Zeit gegründetes Leben, das nicht ohne Folgen bleibt, sondern sich fortschreibt. Ganz kurz gefasst lautet also der Psalm: 

Wer den Wegen des Herrn folgt, erlangt dabei das, worauf es ankommt im Leben!

Nicht alles mögliche oder alles, was man will, sondern das, worauf es ankommt. Was sagen Sie? Fehlt etwas? ‚Gesundheit‘ kann man unter die vierte Nennung subsumieren. Mir fällt sonst nichts ein. Nehmen Sie sich ruhig fünf Minuten Zeit dafür, die Frage ist wichtig. Schreiben Sie in den Blog, wenn Sie möchten, klicken Sie dazu auf den Beitrag, unten gibt es ein Feld dafür

Gott segne unser Leben!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 44/2023

Denn Gott ist mein Zeuge, wie mich nach euch allen verlangt von Herzensgrund in Jesu Christo.
Phi 1,8 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die Macht der Liebe

Am Anfang der Paulusbriefe steht die Begrüßung, am Ende ein Segen und dazwischen die Botschaft. Hier, im Philipperbrief, liegt wesentliche Botschaft schon in der Begrüßung. 

Das habe ich erst gar nicht gesehen. Als ich den Bibelvers zog, sah ich nur, dass Paulus hervorhebt, wie wichtig ihm die Angesprochenen sind. Ich wollte dann eine kleine Betrachtung schreiben über das Thema „Wish you were here“. Weil ich gerade auf dem Rückweg von einer weiten Reise bin, wäre das nicht schwer gewesen. Aber dann irritierte mich das Wörtchen „Denn“. Denn was dahinter steht, ist eine Begründung oder ein Grund. Wofür? Worum geht es? 

Vorher spricht Paulus davon, dass die Gemeinde in Philippi gesegnet sei: Gott werde in ihr das Werk vollenden, das er begonnen hat. Dabei könnte er es belassen. Statt dessen geht er einen Schritt zurück und fragt sich, wie er selbst zu dieser Einschätzung kommt. Er ist überzeugt, dass er recht hat, sagt er, weil er die Gemeinde in seinem Herzen hat, also liebt. Und dafür ruft er Gott in unserem Vers zum Zeugen auf. 

Das klingt sonderbar, wie verkehrte Logik. Wir würden andersherum fragen — warum liebst du diese Gemeinde? — und nach Gründen suchen. Paulus aber begründet mit seiner Liebe die Einschätzung, dass die Gemeinde gesegnet sei. 

Man kann das auf zwei Arten lesen, und ich denke, beide sind richtig. Zum einen könnte Liebe einen direkten und privilegierten Zugang zur Wirklichkeit vermitteln. Ich sehe richtig, weil ich liebe. Wir würden vielleicht antworten: Nein, Liebe macht blind — wer liebt, dessen Wahrnehmung ist nicht objektiv und spiegelt eher die Wünsche Wünsche und Sehnsüchte des Liebenden als die Wirklichkeit des Geliebten. Paulus dürfte dies nicht fremd sein, aber er mißt der Liebe eine Erkenntniskraft jenseits des Verstandes zu:

Die Liebe höret nimmer auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. (…) Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. (1 Kor 13, 8-10+12).

Weiterhin aber könnte der Liebe eine selbständige, wirklichkeitsverändernde Kraft innewohnen. Wie Fürbitte und Segen. Der Satz hieße dann: Der Segen Gottes wird mit Euch sein, weil ich Euch liebe! Nicht im Sinne von Erklärung, sondern von Ursache und Wirkung. Das hat etwas Grundstürzendes.

Ein Kind würde es vielleicht so sagen: „Warum ist denn dein Papa so großartig? — „Weil ich ihn lieb habe!“ — nicht etwa anders herum. Paulus ist kein Kind, er weiß, was er schreibt. Der Herr wird mit dir sein, dein Leben wird in guten Bahnen verlaufen, du wirst nicht fallen, weil ich dich liebe! Sonderbar. Oder nicht? Welche Rolle spielt die Liebe der Eltern für die Persönlichkeit von Kindern? Hat sie nicht konstitutive Kraft? Und wie steht es um die Liebe zwischen Geliebten und Eheleuten? Kann nicht das Wissen, geliebt zu werden, ein Dasein begründen?

Paulus verallgemeinert dies nur ein kleines bißchen. Durchaus unbescheiden, übrigens. Und er sagt, dass wir die Welt verändern können mit unserer Liebe!

Was bedeutet das? In meinem Lebenskontext, in Ihrem? Können Sie es sehen?

Wie Glaube und Hoffnung hat Liebe Macht, eigenständige Kraft. Sie ist nicht nur das Spiegelbild des geliebten Wesens, sie wirkt auf das Gegenüber zurück. Der Abschnitt aus dem Korintherbrief, aus dem oben schon zitiert wurde, endet wie folgt: Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, die Liebe aber ist die größte unter ihnen (1. Kor 13, 13).

Gott befähige uns zur Liebe,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 38/2023

Er half dem Elenden und Armen zum Recht, und es ging ihm wohl. Ist’s nicht also, dass solches heißt, mich recht erkennen? spricht der HErr.
Jer 22,16

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Das Recht des Schwachen achten

Worauf kommt es Gott bei Macht und Herrschaft an?.Mit einer ungeschminkten und sehr provokativen Warnung wendet Jeremia sich an Zedekia, den letzten König von Juda, um das über dem Reich hängende Unheil noch abzuwenden. Jeremias Botschaft wertet auch die drei schwachen Vorgänger: Joahas (Schallum), der nur drei Monate regierte, als der ägyptische Pharao ihn wieder absetzte, Jojakim, sein Bruder, der sich erfolglos gegen die Babylonier auflehnte, und sein Sohn Jojakin,(Chonja), der mit achtzehn Jahren König wurde und sofort die Politik seines Vaters büßen musste: er wurde weggeführt nach Babylon. Zum Verständnis von Abschnitt 22 siehe die BdW 41/2019 und BdW 41/2019

Der gezogene Vers nimmt den Vers 22,3 wieder auf, der wie eine Art Klammer und Überschrift den kardinalen Fehler der letzten Könige von Juda beschreibt: Die Mächtigen Judas haben sich nicht um Recht und Gerechtigkeit gekümmert, sondern waren vor allem darauf aus, Schwächere auszubeuten: 

So spricht der Herr: Schafft Recht und Gerechtigkeit und errettet den Beraubten von des Frevlers Hand und bedrängt nicht die Fremdlinge, Waisen und Witwen und tut niemand Gewalt an und vergießt kein unschuldiges Blut an dieser Stätte. Werdet ihr das tun, so sollen durch die Tore dieses Hauses einziehen Könige, die auf Davids Thron sitzen, und fahren mit Wagen und Rossen samt ihren Großen und ihrem Volk. Werdet ihr aber diesen Worten nicht gehorchen, so habe ich bei mir selbst geschworen, spricht der Herr: Dies Haus soll zur Trümmerstätte werden. (22,3-5)

Herrschaft des Rechts — wie im BdW 17/2023 aus diesem Jahr. Der gezogene Vers oben richtet sich spezifisch an Jojakim: Jeremia fragt, ob sein Vater, der große Reformkönig Josia, denn „nicht auch gegessen und getrunken“ habe. Dabei habe er aber das Recht der Elenden und Armen geachtet und geschützt. Für Gott und Jeremia müssen gute Könige keine heiligen Asketen sein. Aber sie müssen die Basics hochhalten, und die liegen im Recht des Schwachen. 

Und im Nachsatz verstärkt der Vers die Botschaft auf eine Weise, die ich zuvor noch nie gesehen habe. Das Recht des Schwachen achten heisst den Herrn achten. Gott identifiziert sich hier geradezu mit dem Recht des Schwachen. Nicht nur von fern erinnert das an Mat 25,40: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Herrschaft des Rechts. Zeitlos und aktuell. Man wünscht sich mehr davon. Auch in diesem Land.  

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 21/2020

Jerusalem, 3. Januar 2019, Stadtmauer Jerusalem

Da sie das hörten, wurden sie froh und verhießen, ihm Geld zu geben. Und er suchte, wie er ihn füglich verriete.
Mk 14,11

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Sammler von Schuld

Wenig wissen wir über Judas, obwohl er eine zentrale Rolle spielt im Schlussakt des Dramas um Schuld und Entsühnung im Neuen Testament. Judas gehörte zu den Zwölfen, zur engsten Schar um Jesus. Einige Zeit vorher war er mit den anderen von Jesus ausgesandt und mit Wunderkräften versehen worden, um zu missionieren und zu heilen. Er verwaltete die Kasse der Gruppe und hat Jesus nach Jerusalem begleitet auf dem Weg, der zum letzten Abendmahl und zu seinem Tod führen sollte. Und noch bevor alles begann, hatte er beschlossen, Jesus seinen Todfeinden ans Messer zu liefern. 

Warum nur? 

Das Neue Testament ist mit Antworten karg. Im gezogenen Vers wird als Motiv Geldgier angedeutet. Doch wer seine Tage und Nächte mit einer religiösen Gruppe verbringt, die sich der Besitzlosigkeit verschrieben hat, kann hier eigentlich nicht sehr anfällig sein. Johannes spricht davon, dass der Teufel in Judas gefahren sei. Das ist eher das Gegenteil einer Erklärung. Eine gängige Begründung lautet, Judas sei Zelot gewesen, Mitglied einer Gruppe, die den gewaltsamen Umsturz beförderte und plante, und der Verrat sei aus Enttäuschung über den gewaltfreien Kurs Jesu geschehen. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass Judas seinem Meister vorher nie zugehört haben sollte. Die schmale Stütze dieser Vorstellung ist der Beiname „Iskariot“. Das könnte auf einen „Sikarier“ verweisen, die ständig Messer mit sich trugen, bereit zum Attentat in Gottes Auftrag — aber genausogut kann eine Herkunft aus dem Dorf Kariot in Juda dahinterstehen. Joh 13,26 macht es in meinen Augen klar, der Vers nennt ihn „Judas, Sohn des Simon Iskariot“. 

Irenäus von Lyon erwähnt (und verwirft) das Judasevangelium einer gnostischen Sekte. Darin wird Judas als herausgehobener Jünger beschrieben, der als einziger die Notwendigkeit des Opfertods Jesu versteht und den Weg dorthin ebnet, im Auftrag Jesu. Der Text war verschollen, tauchte aber 2006 in einer koptischen Fassung aus dem vierten Jahrhundert wieder auf. Literarisch spielte dieses „Evangelium“ aber bereits zuvor in der gewaltigen Jesuserzählung des jüdischen Autors Schalom Asch aus den dreissiger Jahren eine Rolle. Asch stellt Judas als einen Jünger zwischen abgründigem Zweifel und fanatischem Glauben vor, den der Stillstand fast um den Verstand bringt, bis er schließlich wie unter Zwang die Starre lösen, die Heilstat in Gang bringen will, die zum Reich Gottes führen soll.

Ist da ein Körnchen Wahrheit versteckt? In den Tagen vor seiner Verhaftung lebten Jesus und seine Jünger verdeckt, streng konspirativ — sie zeigten sich tags im Tempel, weil sie in der zugewandten Menge vor Verhaftung sicher waren und verschwanden abends wieder im Umland, in Betanien. Mk 14,12-16 schildert die Wege und Umwege, damit das Pessachmahl in Jerusalem gefeiert werden konnte. Sollte es also zur Kreuzigung kommen, mußten Jesus und seine Verfolger zusammengeführt werden. Judas‘ Tat war im Sinne des Neuen Testaments notwendig. Alle vier Evangelisten berichten, dass Jesus von Judas Verrat wusste, und dass Judas dies seinerseits bekannt war. Zwischen beiden herrschte eine Art Einverständnis. Bei Johannes sogar explizit: „Was du tust, das tue bald“, sagt Jesus zu seinem Jünger. 

Jesus löst von Schuld. Judas sammelt Schuld. Alle versagen: die Priester, die Schriftgelehrten, das einfache Volk, die Römer und auch die Jünger. Das Versagen macht den Opfertod nötig und führt ihn gleichzeitig herbei. Hierfür steht Judas, der Jünger aus dem engsten Kreis, als Allegorie der Schuld. Auf seine Art trägt auch er die Sünde der Welt. Mit dem Verrat und dem späteren Selbstmord wird er zum dunklen Bruder, zum Gegenbild, von Petrus oder sogar von Jesus selbst. In dem Moment, als Jesus und Judas beim Abendmahl gemeinsam den Bissen in den Becher tauchen, bedingen sie sich gegenseitig, beider Schicksal hängt am jeweils anderen.

Sonderbar: Jesus lässt Judas sehenden Auges an der Abendmahlsfeier teilnehmen, auf der er symbolisch den Leib für die anderen hingibt. Und Judas: er bleibt und geht erst dann hinaus in die Nacht. Ist Jesus eigentlich auch für Judas gestorben? Und Judas, schließlich, am Ende, für Jesus? 

Ich wünsche uns eine friedliche Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 02/2020

Also auch, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.
Lk 15,10

Der Vers ist uneingeschränkt zufällig gezogen aus der Lutherbibel 1912. Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Lost and found

Jeder, der regelmäßig zur Bibel schreibt, wird irgendwann über etwas schreiben wollen, zu dem er eine frühere Ausarbeitung bereits besitzt. In der Wahrscheinlichkeitstheorie gibt es sogar einen Satz dazu. Bei mir ist es heute soweit. Die Vorlage ist allerdings kein „Bibelvers der Woche“, sondern eine Lesung für den Gottesdienst vom November 2018, also vor etwas mehr als einem Jahr. Ich habe mich damals sehr intensiv mit dem Abschnitt auseinandergesetzt, und sie hat meinen Blick auf Gott und mein Leben verändert. Ich kann heute nichts Substanzielles hinzufügen. Ich will den Text aber auch nicht anpassen, glätten oder als Steinbruch verwenden. Daher gebe ich ihn hier ungekürzt wieder. Dem Anlass entsprechend ist er etwas länger und die Sprache bekenntnishafter als gewohnt. Wenn Sie möchten, können Sie ihn als Dokumentation betrachten.


Schriftlesung 11. November 2018, Kirche des Nazareners, Frankfurt Hügelstr.

Wir alle gehören zu Gott. Das ist unser Geburtsrecht. Aber was geschieht, wenn wir verloren gehen? Was geschieht mit uns, was geschieht bei Gott? 

Ich habe eine sehr alte Erinnerung. Ich war jünger als Mathilde jetzt, noch vor der Scheidung meiner Eltern, in der alten Wohnung, als mein Vater mir eines Abends erklärte, dass Eltern und Kinder immer Eltern und Kinder bleiben, und dass er stets für mich da sein werde, auch wenn ich jemanden umgebracht hätte. Ein sonderbares Bild für einen Sieben- oder Achtjährigen, vor fünfzig Jahren zumal, aber ich habe es nie vergessen! 

Jesus hat dazu drei Gleichnisse, sie stehen in Lukas 15. Die ersten beiden will ich hier lesen, das dritte steht nachher im Mittelpunkt von Lars’ Predigt. Ich lese Lukas 15, 1-10:

Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.

Vom verlorenen Schaf
Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Vom verlorenen Groschen
Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

Jesus spricht hier über die besondere Zuwendung, die er für die Verlorenen hat, die Zöllner und Prostituierten, die Gottesfernen. Er setzt voraus, dass jeder normal denkende Mensch die 99 Schafe verlässt, um nach dem einen verlorenen Schaf zu suchen. Nur dann funktioniert das Gleichnis. Es ist sein Bild, um plausibel zu machen, dass Gott es genauso hält. Also: Da ist auf der anderen Seite jemand, der sucht! Dem nichts wichtiger ist als diese Suche! Das ist die erste frohe Botschaft der Gleichnisse.

Aber da gibt es noch, etwas versteckt, eine zweite Botschaft. Das verlorene Schaf ist wichtiger als die Herde, der gefundene Groschen Grund für ein Fest, Grund zur Freude im Himmel und auf Erden. Wie kann das sein? Was ist mit den anderen Schafen? Warum diese besondere Freude? 

Geschieht vielleicht in Scheitern und Umkehr etwas Besonderes und Unersetzliches, das mehr ist als eine bloße Wiederherstellung?  

Ja, ich glaube, genauso ist es. Wer scheitert und versteht, dass er aus eigener Kraft nichts mehr vermag, der hat die Chance sich zu öffnen für die grenzenlose Kraft Gottes, in seinem Leben und durch sein Leben Veränderungen zu bewirken. Der Heilige Geist, Gottes heilige Kraft zu Veränderung, ist dort, wo jemand verloren geht und zurückfindet. 

Der Psalmist hat dafür ein sehr starkes, beinahe krasses Bild. David hat sich mit Batseba und dem Mord an Urja schwer versündigt und wird von Nathan zur Rede gestellt. David ist moralisch am Ende. Psalm 51 gibt sein Bußgebet wieder. Im zweiten Teil heißt es: 

12 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz
und gib mir einen neuen, beständigen Geist.
16 Errette mich von Blutschuld, / Gott, der du mein Gott und Heiland bist,
dass meine Zunge deine Gerechtigkeit rühme.
18 Denn Schlachtopfer willst du nicht, / ich wollte sie dir sonst geben,
und Brandopfer gefallen dir nicht.
19 Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist,
ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten.

David spricht hier von geistlicher Wiedergeburt. Wiedergeburt geschieht nicht dadurch, dass man eine Pille schluckt und plötzlich alles rosa ist. Wiedergeboren werden kann mit Gottes Hilfe jemand, der verloren gegangen ist und dies auch weiß:

Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist, 
ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten…

Geängsteter Geist, zerschlagenes Herz — vielleicht wissen Sie, was das bedeutet? Das ist überhaupt nicht attraktiv, nicht hip, auch nicht nach den Maßstäben des Alten Testaments. Ist denn das frohe Botschaft? 

Ja!  Das ist frohe Botschaft, gerade das! Am Tor zum Reich Gottes stehen die, die wissen, dass sie vor Gott nichts vorweisen können und daher alles von ihm erwarten. Vielleicht vor allem sie! Und so kann am Ende gar die Sünde selbst, die Gottesferne, in Gott einen Sinn erhalten. Hier ist Gottes Gnade, das ist ihr Kern!

Für mich hat das sogar eine ganz bestimmte Melodie. Ich kenne diese Melodie seit meiner frühesten Kindheit, die Botschaft verstehe ich erst heute. John Newton hat vor seiner geistlichen Wiedergeburt ein Sklavenschiff als Kapitän befehligt. Er geriet in einen Sturm, und die Lage war aussichtslos. Er betete und das Schiff wurde gerettet. Das hat sein Leben völlig verändert, vom Sklavenhändler wurde er zum Kämpfer gegen die Sklaverei. Hier ist sein Lied, Sie kennen es:

Amazing grace, how sweet the sound,
That saved a wretch like me!
I once was lost, but now I am found,
Was blind, but now I see.

‚Twas grace that taught my heart to fear,
And grace my fears relieved;
How precious did that grace appear,
The hour I first believed!

Hallelujah! Amen!

Ende Ansprache 11. November 2018

Wie damals könnte ich das heute nicht schreiben… Mich erinnert der BdW an eine wichtige Erfahrung. Ich wünsche uns eine Woche, in der wir nicht nur suchen, sondern wissen, dass wir selbst Gesuchte sind!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 51/2019

Nun aber begehren sie eines bessern, nämlich eines himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, zu heißen ihr Gott; denn er hat ihnen eine Stadt zubereitet.
Hebr 11,16

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Die Verheißung

Unser Vers fügt sich nahtlos an den BdW der Kalenderwoche 47 an, an das große Versprechen, das sich durch die Bibel zieht. Erinnern Sie sich?

Ihr werdet aber über den Jordan gehen und in dem Lande wohnen, das euch der HErr, euer Gott, wird zum Erbe austeilen, und er wird euch Ruhe geben von allen euren Feinden um euch her, und ihr werdet sicher wohnen. (Dtn 12,10)

Hier geht es um die spezifische christliche Fassung dieser originären Verheißung, die im Alten Testament erst einem Menschen, dann einem Volk gegeben wurde. Nun soll sie Menschen aus allen Völkern gelten und sich nicht auf irdisches Land beziehen, sondern auf das Reich Gottes. Zum besseren Verständnis hier der Vers in seinem unmittelbaren Kontext

Diese alle (Abel, Henoch, Noah, Abraham, Sarah, d.V)) sind gestorben im Glauben und haben die Verheißungen nicht ergriffen, sondern sie nur von ferne gesehen und gegrüßt und haben bekannt, dass sie Gäste und Fremdlinge auf Erden sind. Wenn sie aber solches sagen, geben sie zu verstehen, dass sie ein Vaterland suchen. Und wenn sie das Land gemeint hätten, von dem sie ausgezogen waren, hätten sie ja Zeit gehabt, wieder umzukehren. Nun aber streben sie zu einem besseren Land, nämlich dem himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott zu heißen; denn er hat ihnen eine Stadt gebaut.

Ich glaube, man kann es einfacher sagen. Die Zeugen der ersten Zeit, über die in Genesis berichtet wird, haben geglaubt. Sie glaubten etwas, das sie nicht sehen konnten und im Vertrauen darauf sind sie ausgezogen und haben Bekanntes aufgegeben. Es ist das Reich Gottes, das sie eigentlich suchten und auf das immer schon die Verheißung lautete. Diese Verheißung haben sie zu Lebzeiten nicht erlangt, sie steht ihnen noch aus. Sie werden sie gemeinsam mit denen erlangen, die jetzt leben, so steht es am Ende des Abschnitts. 

Ich liebe die Vorstellung vom Reich Gottes. Etwas, das nicht hier ist, aber doch schon da, das wir als einzelne, lokal, schon leben können, manchmal wenigstens, dessen Erfüllung für alle, global, aber noch aussteht. Vielleicht ist die globale Erfüllung (und die dazugehörige Apokalypse) am Ende auch ein Gleichnis für die lokale Form, das Reich Gottes in unserem eigenen Leben. 

Auch wir müssen ausziehen und aufgeben, um suchen und finden zu können, und vermutlich finden wir, indem wir in Bewegung sind, nicht alles auf einmal, sondern entlang des Wegs immer mehr. So verstehe ich die Geschichte der Alten. Und jeder von uns hat am Ende seine eigene Apokalypse vor sich. 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Adventswoche auf dem Weg zum besseren Land,
Ulf von Kalckreuth