Bibelvers der Woche 26/2018

Wo nicht der Gott meines Vaters, der Gott Abrahams und die Furcht Isaaks, auf meiner Seite gewesen wäre, du hättest mich leer lassen ziehen. Aber Gott hat mein Elend und meine Mühe angesehen und hat dich gestern gestraft. 
Gen 31,42

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Lutherbibel 2017 

Schalom

Vom Ende der Bibel zurück an ihren Anfang. Vor nicht allzu langer Zeit, in Woche 11/2018, wurde ein Vers aus der gleichen Geschichte gezogen, und weil ich die Geschichte von Laban und Jakob liebe, bin ich seinerzeit im Kommentar weit nach vorn geeilt, bis hin zu der Stelle, aus der wir nun gezogen haben.

Jakob hatte vor seinem Onkel und Schwiegervater Laban fliehen müssen, mit seinen beiden Frauen, Rahel und Lea, den Töchtern Labans, seinen Knechten sowie einer riesigen Herde, die er sich in der Zeit seiner jahrelangen „Partnerschaft“ mit seinem Schwiegervater erworben hatte. Labans Kinder hatten nicht ohne Grund Betrug gewittert. Vor der Flucht hatte zudem Rahel den Hausgott ihres Vaters gestohlen. Laban hatte mit einer Schar Bewaffneter die Verfolgung aufgenommen und Jakob schließlich gestellt, sein Zelt nach dem Hausgott durchsucht und nichts gefunden. Und nun verhöhnt Jakob seinen Schwiegervater vor allen anderen: was jenem von seiner Hand geschehen ist, sei in Wirklichkeit nichts anderes als die gerechte Strafe Gottes! 

Formal fügt sich der Vers vollständig in ein gut bekanntes Muster der jüdischen Bibel: die Feinde sind übermächtig und moralisch minderwertig, und nur der Schutz des Herrn macht das Überleben möglich, indem er die Feinde vernichtet. Viele Psalmen sprechen so. Aber hier geht es um etwas anderes. Was ist, wenn wir für unser Überleben auf den Feind angewiesen sind? 

Der Vers steht unmittelbar vor der Stelle, an der die Handlung „kippt“. Filmisch könnte man die Stelle so inszenieren: Die beiden Patriarchen stehen einander in dem großen Zelt gegenüber, mit blitzenden Augen, beide im Burnus, der Ältere mit der Schar seiner Kämpfer im Rücken, der Jüngere vor seinen beiden Frauen, mit der rechten Hand in der Nähe des Dolchs auf seiner linken Seite, die Reaktion seines Gegenübers auf die gerade ausgesprochene Beleidigung erwartend. Auch die Knechte Jakobs sind anwesend. Alles geschieht öffentlich. Zeitlupe. Laban ist am Zug, er muss handeln. Eigentlich ist völlig klar, was nun folgt. 

Und dann verkündet Laban den Frieden: 

Laban antwortete und sprach zu Jakob: Die Töchter sind meine Töchter und die Kinder sind meine Kinder und die Herden sind meine Herden und alles, was du siehst, ist mein. Was kann ich heute für meine Töchter oder ihre Kinder tun, die sie geboren haben? So komm nun und lass uns einen Bund schließen, ich und du, der ein Zeuge sei zwischen mir und dir.

Im ersten Satz gewinnt er seine Souveränität zurück. Er stellt einfach den Kontext der Handlung um, geht weg vom dyadischen Antagonismus und macht sich zum Diener seiner Nachkommen, die auch zu Jakob gehören. Dann bietet er Jakob einen Bund an. Und im Unterschied zu den anderen Verträgen zwischen den beiden in der Vergangenheit, die alle durch böswillige Auslegung zerstört wurden, gibt es diesmal keine Hintergedanken. Der Bund ist eine Trennung. Die beiden Männer lösen ihre Umklammerung. Nicht gewaltsam, sondern der Zukunft und den Nachkommen zugewandt.

Dieser Moment macht Laban zu einem Heiligen, in meinen Augen. In der jüdischen Tradition hat Laban eine ausgesprochen „schlechte Presse“, wie ich von meiner Hebräischlehrerin weiß. In der Tat ist er ein Schlitzohr, mit allen Wassern gewaschen. Aber nun dieser Mut, mit dem er das feste Geleis der Handlung aufbricht und ihr ein neues gibt! Wieviel Enttäuschung und jahrelange Frustration, wieviel verinnerlichte und selbst geglaubte Rechtfertigung muss er in diesem einen Moment hinter sich lassen — einem Moment extremer Anspannung, in dem Gruppendruck und Adrenalin ihn blind machen sollte? Hierin mag man das göttliche Wunder erkennen, nicht in der „Strafe“, wie Jakob glaubt. Jakob wäre zu einer solchen Handlung nicht in der Lage gewesen. Er wird in diesem Augenblick ohne eigenes Verdienst gerettet, von seinem Schwiegervater und Feind. 

Einmal Laban sein! Damit das Leben weitergeht.

Ich wünsche uns eine Woche voll Frieden. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 21/2018

… und zu dem einem Lamm ein Zehntel Semmelmehl, gemengt mit einem Viertel von einem Hin gestoßenen Öls, und ein Viertel vom Hin Wein zum Trankopfer.
Ex 29,40

Bemerkung: Ein Zehntel Epha sind etwa 3,6 Liter. Ein Viertel eines Hin sind etwa 1,5 Liter. Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Vom Opfer

Der erste Teil des Satzes lautet: „Und das sollst du mit dem Altar tun: zwei jährige Lämmmer sollst du allewege des Tags darauf opfern, ein Lamm des Morgens, das andere gegen Abend; … (Exodus 29, 38+39)

Der Bibelvers dieser Woche ist ganz aus der Nähe des Verses der letzten Woche gezogen. Gemeinsam mit den zehn Geboten empfängt Moses eine Reihe von Vorschriften, die für die sich bildende israelitische Gemeinde konstitutiv sind. Ein Vers zum Pfingstfest: die Jünger Jesus trafen sich in Jerusalem, um gemeinsam Shavu’ot zu feiern, das Fest des Empfangs des Gesetzes auf dem Berg Sinai. Der Vorläufer von Pfingsten ist also Shavu‘ot. In diesem Jahr werden beide Feste sogar gleichzeitig gefeiert!

In Exodus sind auch Gebote zum Opfer zu finden, obwohl eine systematische Behandlung erst im dritten und vierten Buch Mose stattfindet. In unserem Bibelvers geht es um das tägliche Opfer, das vor der Stiftshütte erbracht werden sollte, und später im Tempel. Es wird in Numeri 28, 3-8 noch einmal genauer festgelegt. Dabei handelte es sich um ein sogenanntes „Ganzopfer“: das Tier wurde vollständig verbrannt. Dieses Opfer wurde von der Kultgemeinschaft als Ganzer erbracht, also quasi-staatlich. Andere und ursprünglichere Opferarten hatten eher den Charakter eines gemeinschaftlichen Mahls, bei dem die Gottheit in besonderer Weise anwesend und beteiligt war. Es gab auch individuelle Schuld- und Sühneopfer für Verfehlungen.

Der Bibelvers der Woche wird zufällig gezogen. Dabei entsteht mit der Zeit ein Bild der Bibel, das zumindest in den quantitativen Strukturen immer genauer werden sollte. Es fällt auf, wie oft in diesen Ziehungen das Opfer thematisiert wird. In den beiden Teilen der Bibel hat es eine ungeheure Bedeutung. Das Opfer ist Kommunikation mit Gott, hat aber auch wichtige gemeinschaftsstiftende Funktion. Zu den großen Opferfesten traf sich die Sippe und vergewisserte sich ihrer Zusammengehörigkeit. Die Opferfeste strukturierten das Jahr. 

Heute opfern weder die Juden noch die Christen. Die Christen haben das Opfer aufgegeben, weil mit und durch Christus das größte Opfer gebracht wurde. Die Juden opfern nicht, weil die hebräische Bibel als einzige legitime Opferstätte den Tempel in Jerusalem vorsieht, den es nicht mehr gibt.

Nach der Zerstörung des Tempels stellten die jüdischen Rabbinen fest, dass drei Dinge an die Stelle des Opfers treten könnten: Das Studium des Gesetzes (einschließlich der Opfervorschriften!), die Befolgung der dort niedergelegten Ge- und Verbote (Mizvoth) und das Gebet. Bei den Christen ist die Vorstellung des Opfers an zwei Stellen präsent. In der Feier des Abendmahls als Nachvollzug des Opfertodes Christi, und zum anderen beim Gemeindeopfer oder kirchlich gebundenen Spenden. In beiden Fällen pflegen katholische Christen eine deutlich stärkere und konkretere Anbindung an den ursprünglichen Opfergedanken als evangelische.

Was in unserem Leben kann denn für ein Opfer stehen? 

Mit dieser ziemlich schweren Frage wünsche ich uns ein frohes Pfingstfest, in Gottes Heiligem Geist!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 19/2018

Da hörten die drei Männer auf, Hiob zu antworten, weil er sich für gerecht hielt.
Hiob 32,1 

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Die Bäume und der Wald

Das Buch Hiob handelt vom menschlichen Leid und der Gerechtigkeit vor Gott. In einem Prolog wird eine Laborsituation hergestellt: Hiob ist ein gottesfürchtiger und gerechter Mann, auf dem das Wohlwollen des Herrn ruht. Der Teufel, hier als Angehöriger Gottes Entourage, äußert die Überzeugung, mit Hiobs Gottesfürchtigkeit wäre es nicht weit her, wenn der Herr ihn nicht in allem beschützen und bewahren würde. Der Herr lässt sich auf eine Wette ein: der Teufel darf alles an und um Hiob vernichten, nur sein Leben muss er ihm lassen. So geschieht es — Gott lässt ihn damit in eine unerträgliche und entwürdigende Situation fallen, in Krankheit und Schmach. Er behält nur das nackte Leben. 

Drei Freunde suchen ihn auf, ihn seelisch zu stützen. Zum ihrem großen Verdruss beharrt Hiob darauf, gerecht zu sein. Im Verhältnis zu Gott fordert er seinerseits Gerechtigkeit ein, andererseits und gleichzeitig äußert er aber auch die feste Überzeugung, dass Gott ihm diese Hilfe am Ende geben wird („Ich weiß, dass mein Erlöser lebt…“). Hiob behält seinen Glauben, auch noch in der tiefsten Verwundung. 

Hier ist ein theologisches Problem. Im damaligen Judentum war die Sache klar: wer die Bundeszusage hatte und sich an die Gebote hielt, konnte der Unterstützung des Herrn sicher sein. Wem es schlecht ging, der hatte dies entweder durch Übertretungen selbst verschuldet, oder aber war das Opfer von Übertretungen seiner unmittelbaren Vorfahren (siehe hierzu BdW, KW 7). Insofern können die Freunde nicht anders, sie müssen Hiobs Anspruch zurückweisen. Er solle sich erforschen, er werde Übertretungen finden.

Schließlich, nach langen Diskussionen, ist Hiobs Antwort harsch. In einem kurzen Abschnitt stellt er fest, dass er sein ganzes Leben lang in Gottes Gebot gelebt hat. Er nennt die Gebote und die wichtigsten Regeln einzeln und kann auch darlegen, dass er Gottes Gebote nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem Geiste nach befolgt hat: immer war er für den Nächsten, den Schwachen da. Er ist sogar zur Feindesliebe gelangt, damals beileibe noch keine explizite Forderung.

Und dann kommt ein Satz, der den Freunden Blasphemie sein muss: 

35 O hätte ich einen, der mich anhört – hier meine Unterschrift! Der Allmächtige antworte mir! –, oder die Schrift, die mein Verkläger geschrieben! 36 Wahrlich, dann wollte ich sie auf meine Schulter nehmen und wie eine Krone tragen. 37 Ich wollte alle meine Schritte ihm ansagen und wie ein Fürst ihm nahen.

Hiobs Vertrauen in die eigene Gerechtigkeit ist dergestalt, dass er Gott und seiner Anklage wie ein Fürst gegenübertreten zu können glaubt!

An diese Stelle gehört der gezogene Vers: die drei Männer schweigen, weil Hiob sich für gerecht hält! Auf dieses Schweigen nun folgen die Rede eines vierten Freundes (der bis dahin nicht erwähnt wurde), und dann die Antwort Gottes selbst aus dem Sturm. Durch die Laborsituation weiß der Leser, dass Hiob tatsächlich gerecht ist: in der Rahmenerzählung stellt Gott selbst das unzweideutig fest. Auch seinen Glauben und die Gottesfurcht behält er. Hiobs Beharren auf die eigene Gerechtigkeit aber lässt alle anderen verstummen und es zieht die sehr nachdrückliche Zurechtweisung Gottes nach sich. 

Das Bestehen auf der eigenen Gerechtigkeit wird im Buch Hiob verurteilt. Es isoliert uns von den anderen Menschen — das zeigt der Vers –, es entfremdet uns aber auch von Gott. Seine Gerechtigkeit, das sagt seine Rede aus dem Sturm, ist nicht mit menschlichen Maßstäben zu messen. Wir können uns mit einem Wesen, das so hoch über uns steht, nicht mit Kategorien auseinandersetzen, die für das Verhalten von Menschen gemacht sind. Vor lauter Totholz sehen wir dann den Wald nicht mehr: Gottes Macht und Größe. 

Es ist gut, den Versuch zu machen, Gottes Geboten zu folgen. Soweit der Versuch (mit Gottes Hilfe) gelingt, ist dies noch besser. Und man soll keinen Gedanken an die Position verschwenden, die man sich dadurch möglicherweise erwirbt — der Gedanke selbst führt in die Irre. 

Was aber die anderen Menschen betrifft:  Mit dem Beharren auf die eigene Gerechtigkeit verwandelt man jede fruchtbare Auseinandersetzung in ein Schweigen.

Ich wünsche uns eine gute Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 18/2018

Jasub, daher das Geschlecht der Jasubiter kommt; Simron, daher das Geschlecht der Simroniter kommt.
Num 26,24

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Dieser Vers ist spröde, wenn er allein steht — so spröde, dass ich der plötzlichen Versuchung nachgab, eine neue Zufallsziehung zu generieren und erst später wieder hineinzuschauen. Aber irgendetwas funktionierte nicht, und als ich nachschaute, war die alte Ziehung noch intakt. Und das ist auch gut so. Zum einen ist es gänzlich gegen die Regeln, einen inkommoden Vers einfach wieder zurückzulegen. Das sollen wir ja mit unserem Leben auch nicht tun. Und zweitens war mir mittlerweile eingefallen, warum der Vers wichtig sein könnte.

Num 26 handelt vom Ende der Wüstenwanderung der Israeliten. Die Stämme haben sich am Ostufer des Jordan versammelt, gegenüber von Jericho, und sind bereit, in das Heilige Land einzufallen. Eine gewaltige Zahl von Menschen: Mose zählt 601.730 Männer über zwanzig Jahren, die Land einnehmen dürfen, zuzüglich 23.000 männliche Angehörige des Stammes Levi, die kein Land bekommen. Dazu kommt eine mindestens ebenso hohe Zahl von Frauen und Mädchen. Die Volkszählung ist der Spiegel jener Zählung, die Mose recht bald nach dem Auszug aus Ägypten gemacht hatte. Weil die Israeliten zum entscheidenden Zeitpunkt mutlos wurden, waren sie dazu bestimmt, vierzig Jahre lang in der Wüste zu wandern, so lange, bis alle ursprünglichen Auswanderer gestorben waren außer zweien, die sich als treu erwiesen hatten,. Und nun war es so weit. Das Volk vergewissert sich seiner selbst — nach Zahl, nach Stämmen, nach Geschlechtern und nach Sippen. Die Geschlechter als Teile der Stämme werden einzeln aufgezählt. 

Und hier liegt eine interessante Botschaft: die hebräische Bibel führt alles — die Menschheit, die Rassen (Sem, Ham, Japhet), Völker (Jakob/Israel, Lot, Jismael, uva.) und Geschlechter jeweils auf Individuen, einzelne Männer und Frauen, zurück. Und große Kollektive werden regelmäßig mit Personennamen benannt. Das hat mit dem modernen Individualismus, für den das Individuum alles ist und das Kollektiv nichts, ebenso wenig zu tun wie mit den modernen kollektivistischen Anschauungen, für die das Gegenteil gilt. Die Idee ist vielmehr, dass das Schicksal von Kollektiven über Individuen vermittelt ist, und zwar über sehr lange Zeiträume hinweg.

Die Stammväter der zwölf Stämme, die nun nach Palästina einfallen, waren vierhundert Jahr vorher dort ausgezogen, in Gestalt von zwölf lebenden Individuen, und die Verdienste und Fehler, die sie mit sich brachten, wirkten fort. Der gezogene Vers steht konkret in einer Reihung, in welcher die Untergruppen des Stammes Issachar aufgezählt werden — wiederum als Söhne je eines bestimmten Mannes.

Sachlich ist das nicht haltbar. Völker bilden sich nicht durch Projektion, durch Hochskalierung einzelner Individuen in die Hundertausende, sondern eher durch Zu- und Abwanderung und Vermischung und Akkulturation. Aber es kann ein starkes Bild sein für die Verantwortung, die wir alle für die Zukunft tragen. Die Zukunft ist durch die Gegenwart vermittelt, ihr Keim sind unsere Handlungen und dasjenige, was wir unseren Kindern weitergeben. Und dies ist eine Kernbotschaft der hebräischen Bibel. 

Ich wünsche uns einen schönen Maifeiertag,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 16/2018

Und daselbst kam des HERRN Hand über mich, und er sprach zu mir: Mache dich auf und gehe hinaus ins Feld; da will ich mit dir reden. 
Hes 3,22

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Ezechiel, auch Hesekiel genannt, war ein junger Tempelpriester, der von den Babyloniern aus seiner Heimat in Juda verschleppt worden war. Es war dies die sogenannte erste Verschleppung, die nur einen Teil der Elite betraf. Nebukadnezar von Babylon hatte zwar dem Großmachtstreben des jüdischen Staates ein brutales Ende bereitet und diesen Staat auf einen Kern rund um die Stadt Jerusalem reduziert. Aber noch stand sie, die Hochgebaute. Ihre Zerstörung in einem weiteren Krieg und die Verschleppung größerer Teile der jüdischen Bevölkerung stand erst bevor. 

Ezechiel lebte mit seinen Gefährten am Fluss Kebar in einer babylonischen Stadt namens Tel Abib —von der viel später die heutige israelische Hauptstadt ihren Namen erhielt. In den Abschnitten vorher wird erzählt, wie Ezechiel seine Berufung als Prophet erhielt: in einer überwältigende Vision begegnet er dem Herrn, der ihn in seinen Dienst nimmt. Nicht als beamteter Tempelpriester, sondern als Prophet. Und nun will der Herr ein zweites Mal das Wort an ihn richten. Der gezogene Satz oben lautet fast gleich wie Eze 1, 3, mit der sich die erste Erscheinung ankündigt. 

Wie mag sich das angefühlt haben? 

Ich wollte es nachspüren. Vielleicht richtete sich der suggestive Vers, den ich gezogen hatte, ja auch irgendwie an mich selbst. Bei der Dichte von Verpflichtungen beruflicher und privater Art kostete es mich fast eine Woche, bis ich überhaupt vor die Tür kam. Am Ende gelang es nur dadurch, dass ich beschloss, den Weg zur Arbeit zu Fuß zu gehen statt mit dem Fahrrad zu fahren. 

Durch das Niddatal, den Niddapark und den Grüneburgpark in die Innenstadt. Eine Stunde und zwanzig Minuten. Die Übersetzung des gezogenen Verses enthält eine Ungenauigkeit: es sollte nicht „Feld“ heißen (hebräisch ßadé) sondern „Ebene“. Eigentlich ungewöhnlich — Gottesbegegnungen in der Bibel haben ihren Platz sonst eher im Gebirge oder in der Wüste. Als ich unterwegs war und über den Vers nachzudenken begann, verstand ich, dass ich vielleicht das richtige getan hatte. Die Verschleppten saßen in einer Stadt, die an einem Fluss lag. Wenn Ezechiel auf die „Ebene“ hinausgehen sollte, war damit gerade nicht Einöde und meditative Ruhe gemeint, sondern die Flussebene —ein zwar offener, aber belebter Raum, in dem Verkehr und Bewegung von und zu der Stadt stattfand. Vielleicht war Ezechiel in seinen Möglichkeiten eingeschränkt; wie ich, der ich nun auf dem Weg zur Arbeit die Nidda überquerte.

Auch in der Ebene allerdings ist man ungeschützt. Schon als ich das Haus verließ, war der Himmel dunkel. Recht bald wurde er schwarz, es begann zu regnen, Blitz und Donner gesellten sich dazu. Ich hatte von vornherein darauf verzichtet, beim Gehen wie sonst Musik zu hören. Das Wasser, die Blitze und die sich in ein Matschfeld verwandelnde Landschaft um mich herum machte nun alles sehr konkret und real.  

Ich erinnerte mich, was ich von Ezechiel wusste. Unter Christen ist er im Vergleich zu den anderen beiden „großen“ Propheten Jeremiah und Jesajah weniger gut bekannt, weil seine Bilder von Gottes Erbarmen für die Zeit nach der Zerstörung nicht recht kompatibel sind mit den heilsgeschichtlichen Vorstellungen des Christentums. Für die Juden aber und ihre mystischen Traditionen sind seine Gottesvisionen von sehr großer Bedeutung, besonders die erste, die er genau beschrieben hat. 

Nach seiner ersten Begegnung mit Gottwar Ezechiel eine Woche lang „verstört bei seinen Gefährten gesessen“. Vermutlich wäre Ezechiel heute in einer geschlossenen Anstalt untergebracht worden. Direkte Begegnungen mit Gott werden in der Bibel als unerträglich beschrieben. Niemand kann Gott sehen, ohne zu sterben. Selbst Mose durfte (wie Ezechiel) nur ein Bild sehen, die „Herrlichkeit Gottes“. Als nun Gott ihn am Ende dieser Woche zu einem zweiten Treffen nach draußen fordert, weiß Ezechiel noch nicht, was auf ihn zukommt, aber die erste Erfahrung steckte ihm noch in den Knochen.

Ezechiel weicht der — potentiell tödlichen — Begegnung nicht aus. Aber es war mir nun völlig klar, dass er große Angst hatte, und nicht ohne Grund. Diesmal erhält er einen konkreten Auftrag. Er soll die Umgebung vor der drohenden Katastrophe für Jerusalem warnen. Aber dies hatte wortlos zu geschehen: für lange Zeit verlor er die Sprache und war gezwungen, sich pantomimisch und mit Hilfe von Zeichnungen und selbstgebauten Modellen zu äußern. Dabei war Ezechiel ein am Wort orientierter, scharfsinniger und intellektueller Mensch. Sein Text ist verständlich und sprachlich beeindruckend, gut aufgebaut und enthält keine der redaktionellen Brüche und Überblendungen, die das Verständnis anderer Propheten so schwer machen. Und hinter der klaren Sicht spürt man eine große Wärme. In diesem Augenblick stand er mir sehr nahe. 

Gott kann sich auf viele Weisen äußern. Hier ist eine. Mittlerweile war ich durchnässt auf der Fußgängerbrücke über die Stadtautobahn angekommen. U- und Straßenbahnwagenfahrer streikten an diesem Tag. Der Verkehr in Frankfurt war völlig zusammengebrochen. Ich stand hoch oben und im Wolkendunkel war der Weg in die Stadt markiert mit einer unbeweglichen rotleuchtenden Spur aus Rücklichtern. Nach hinten in die Gegenrichtung waren es weiße Lichter, bis zum Horizont. Und ich konnte mich selbst sehen, wie von noch weiter oben, völlig ungehindert und in angenehmen, schnellen Tempo über die Brücke gehend, in den Grüneburgpark hinein. Der Regen war nass, aber weiter kein Problem. Vor mir, im 29. Stock eines dreieckigen Hochhauses, lag eine Arbeit, die oft frustrierend war, oft aber auch interessant, die mir immer wieder neue Möglichkeiten eröffnet hat, und mich jenseits aller relevanten materiellen Sorgen stellt. Zu Hause erwarten mich eine Frau und zwei Kinder, drei komplizierte Menschen, alle auf ihre Weise wertvoll und kreativ, eigene Welten, an deren Werden, Wandeln und auch Vergehen ich beteiligt war. Am Nachmittag würde ich mir freinehmen und auf die Frankfurter Musikmesse gehen. Am Sonntag würde ich im Gottesdienst singen und Gitarre spielen. Auf dem Weg zur Arbeit konnte ich mit meinem Gott sprechen oder auch mit den Propheten, wenn nötig auf Hebräisch, und in einigen Wochen würde ich wieder in Israel sein, in Jerusalem. 

Musik, Familie, Gott, Arbeit, Sprache, Bewegung. Und ich ging weiter durch das dampfende, brodelnde Aprilwetter. Phantastisch! Ich fand mein eigenes Leben auf einmal spannend, reich und interessant. Trotz meiner 55 Jahre. Lange Zeit hatte ich das nicht mehr gefühlt. Wer würde nicht mit mir tauschen wollen? Was hätte denn Ezechiel gewählt —sein eigenes Leben oder meins? Wohl doch sein eigenes, er hätte es für wesentlich und notwendig gehalten, trotz der Unzuträglichkeiten eines Daseins im sechsten vorchristlichen Jahrhundert im Allgemeinen und seiner schwierigen Lage im Besonderen.

Ja, und am Nachmittag wanderte ich im weiter strömenden Regen zum Frankfurter Messegelände und hatte dort drei Begegnungen mit großartigen Gitarristen, von denen ich wichtige Dinge lernte.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 10/2018

Am zehnten Tage des fünften Monats, welches ist das neunzehnte Jahr Nebukadnezars, des Königs zu Babel, kam Nebusaradan, der Hauptmann der Trabanten, der stets um den König zu Babel war gen Jerusalem…
Jer 52, 12

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Over and out

Der gezogen Vers ist ein Fragment, der Satz schließt im nächsten Vers: …und verbrannte des HERRN Haus und des Königs Haus und alle Häuser zu Jerusalem; alle großen Häuser verbrannte er mit Feuer. 

Die Sätze stehen ganz am Ende des Buchs Jeremia. Der Abschnitt ist den Prophetien und der Lebensgeschichte Jeremias nachgeschoben und fast wortgleich mit dem Ende des Buchs der Könige. Er zeigt, wie der erste Teil der Prophetien Jeremias eintrifft. Im gezogenen Vers ist die Hand erhoben, für eine logische Sekunde ist alles in der Schwebe. Im nächsten Vers fällt der Stich. Jerusalem ist von den Truppen Nebukadnezars erobert, bereits am 9. Tag des vierten Monats war die Stadt gefallen. Die militärische Arbeit ist getan. Vier Wochen später nun kommt ein Administrator aus dem inneren Kreis um König Nebukadnezar und führt das Zerstörungswerk planmäßig aus. Im Detail wird dann beschrieben, wie die kostbare Tempelausstattung nach draußen getragen und ökonomisch verwertet wird, beinahe wie eine Rückabwicklung des Tempelbaus in 1. Könige 6 und 7.

Passionszeit. Der Tempel, das Interface zwischen Gott und seinem Volk, ist nicht mehr. Gott hat nicht nur seine Gnade vom Volk genommen, sondern auch den Kontakt abgebrochen. Fast wie bei Harry Mulisch „Die Entdeckung des Himmels“ — in diesem Roman bricht Gott die Beziehung mit der modernen Menschheit ab, indem er die Tafeln mit den zehn Geboten wieder zurücknimmt. Die Elite des Volks wird nach Babylon verschleppt. In der jüdischen Bibel ist dieser Moment herausgehoben traumatisch, er ist die Scheide, um die herum die Schriften sich in ein „Vorher“ und ein „Nachher“ gruppieren. Eine Analogie für den gezogenen Vers im Neuen Testament wäre die Stelle, in der Jesus, der Mittler zwischen Mensch und Gott, die Dornenkrone trägt, aber noch nicht am Kreuz hängt. 

Der Vers erinnert daran, dass Gott uns seine Gnade gibt und er sie wieder von uns nehmen kann. Wem nicht ein Bauwerk, sondern die eigene Person der Ort der Begegnung mit Gott ist, den erinnert er an die Endlichkeit des Lebens. Und ganz entfernt scheint eine neue Perspektive auf: mit der Erfüllung des ersten Teils der Prophetie Jeremias wird nun der zweite Teil relevant, in dem es Sätze gibt wie: „So spricht der Herr: Das Volk, das dem Schwert entronnen ist, hat Gnade gefunden in der Wüste; Israel zieht hin zu seiner Ruhe. Der Herr ist mir erschienen von ferne: ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. Ich will dich wiederum bauen, dass du gebaut sein sollst, du Jungfrau Israel, du sollst dich wieder schmücken und mit Pauken ausziehen im fröhlichen Tanz.“ (Jer 31, 2-4)

Ich wünsche Euch eine schöne Woche
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 05/2018

Aber den Brandopferaltar setzte er vor die Tür der Wohnung der Hütte des Stifts und opferte darauf Brandopfer und Speisopfer, wie ihm der HErr geboten hatte.
Ex 40,29

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Mobiles Heiligtum

Der gezogene Vers ist aus der Beschreibung der Aufrichtung der Stiftshütte im zweiten Jahr der langen Wanderung der Israeliten durch die Wüste. Die Stiftshütte ist etwas sehr Spannendes: von der Funktion her ein Tempel, und in seiner Portabilität und Mobilität gerade eben kein Tempel. In wichtigen Teilen des AT wird großer Wert darauf gelegt, dass ein gottgefälliger Tempel als Ort des Austauschs mit Gott nur in Jerusalem stehen könne. Aber zur Anfangszeit des Weges mit Gott, in der Wüste, lag Jerusalem in einem mythischen, weit entfernten Land. Der fortdauernde Kontakt mit Gott, bei dem das Opfer einen hohen Stellenwert hatte, musste anders gewährleistet werden. 

Mose erhält den Befehl, eine mobile Anbetungsstätte einzurichten, die jeweils dort aufgebaut werden soll, wo die Israeliten sich temporär niederlassen. Sie beherbergt die Bundeslade, in der die Gebote Gottes vom Sinai enthalten sind. Während der Aufenthalte ruhte die Wolke mit der Herrlichkeit des Herrn auf der Stiftshütte und auf dem Weg zog sie dem Volke voran, nachts erfüllt von Feuerschein. Vor der Stiftshütte kann und soll geopfert werden — im gezogenen Vers geschieht dies zum ersten Male. Nicht der Ort ist dabei entscheidend, sondern die Bestimmung. Dies ist eigentlich eine sehr „moderne“ Vorstellung. Die Juden haben sie erst nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels gezwungenermaßen übernommen. Mystisch orientierte Juden oder Christen haben die Idee weiterentwickelt und weisen darauf hin, dass der eigentliche Tempel des Herrn in der Person des Betenden selbst liegt — wo auch immer dieser gerade sich befindet…

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,  
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 04/2018

Geschrei geht um in den Grenzen Moabs; sie heulen bis gen Eglaim und heulen bei dem Born Elim.
Jes 15,8

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Trauer

Jesaja  und Jeremia sind die beiden großen Propheten, deren Gottesbegriff die heutige komplexe jüdische und christliche Sicht vorbereiten. Was sie beschreiben, ist eine Zumutung.

Einerseits besteht Gott darauf, dass die mit dem Bund eingegangenen Verpflichtungen erfüllt werden und macht die angekündigten Sanktionen wahr. In dieser Hinsicht ist er berechenbar. Andererseits trauert er um sein Volk und versucht, auf der Grundlage von fast verbrannter Erde die Beziehung neu aufzubauen. Unter Bedingungen, die nicht klar sind, ebensowenig wie die zeitliche Verortung. Vergebung, Erlösung, Neuanfang, Umarmung, Trost, die elterliche Beziehung zu kleinen Kindern beschreiben diesen Aspekt. Und dies vor dem Hintergrund unsäglichen Leids, weitgehender Zerstörung und „Umwertung aller Werte“ in der Lebenszeit Jesajas und der mit ihm assoziierten Autoren. Der unüberbrückbare Spalt, der sich hier auftut, prägt Judentum und Christentum gleichermaßen.  

Auch die umliegenden Völker werden vom Untergang erfasst. Der vorliegende Vers ist aus der Prophezeiung des Untergangs Moabs, ein traditioneller Feind des Südreichs auf der anderen Seite des Jordans. Die beiden genannte Orte liegen im Norden (Elim) und vermutlich im Süden (Eglaim) von Moab, wahrscheinlich sind beides Quellen. Bemerkenswert sind die Verse 15,5 und 16,9-11: hier weint Gott, dessen Wort Jesaja wiedergibt, über die Vernichtung der feindlichen Moabiter, die doch er selbst ins Werk setzt. 

Gott sei mit uns in der kommenden Woche,
Ulf von Kalckreuth