Bibelvers der Woche 10/2020

Und abermals spricht er: „Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!”
Röm 15,10

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Wem gilt das Versprechen?

Noch einmal Paulus, diesmal aus dem Römerbrief. Dort bemüht Paulus sich um eine christliche Lehre, obwohl die Voraussetzungen der Mitglieder der ersten Gemeinden sehr unterschiedlich waren. Einige waren Juden. Andere waren Proselyten, also Heiden, die den Gott des Juden für sich angenommen hatten und die Synagogen besuchten, ohne aber konvertiert zu sein und die mosaischen Gebote ganz zu befolgen, zu denen die Beschneidung, detaillierte Speisevorschriften und die Gebote für Schabbat und die vielen Feiertage gehörten. Wieder andere kamen unmittelbar von nichtjüdischen Religionen zum Christentum. Paulus will Exklusivität möglichst vermeiden. Die vielen jüdischen Gebote sind nur Stützen in Ermangelung des Heils, das von Christus kommt. In Christus sind sie entbehrlich. Es ist ein Bruder nicht mehr als der andere, weil er die Speisevorschriften befolgt. 

Aber wie steht es denn um die Erwählung der Juden? War Jesus nicht als Messias und Erlöser zu ihnen gekommen? Paulus sagt, nicht leicht verständlich, dass die Erwählung bleibt, sich aber das Erlösungswerk auch an die Heiden richtet. Jeder empfängt es gültig, dem der Herr seine Gnade schenkt und der sie für sich annimmt — also glaubt. Das sind einige Juden, nicht alle, und einige Heiden, nicht alle. 

Im Abschnitt um den gezogenen Vers gibt er aus dem Gedächtnis einige Stellen wieder, welche die Erwählung auch von Heiden belegen. Der gezogene Vers ist ein Zitat und meine Bibel gibt als Belegstelle Deut 32,43 wieder. Dort aber lautet der Vers (in der Lutherübersetzung 2017): 

Preiset, ihr Heiden, sein Volk; denn er wird das Blut seiner Knechte rächen und wird an seinen Feinden Rache nehmen und entsühnen das Land seines Volks! 

Uups! Die Heiden sollen das Volk Gottes preisen, nicht gemeinsam mit ihm feiern. Im Zusammenhang mit dem Kontext enthält Deut 32, 43 außerdem eine deutliche Drohung an die Fremdvölker.

Paulus‘ Ausrutscher ist ein wenig symptomatisch. Der Tanach, die jüdische Bibel, enthält nicht viele Stellen, die sich mit den „Gojim“ emphatisch befassen: in der Regel sind die Fremdvölker entweder gleichgültig oder (potentielle) Feinde. Wie können wir damit umgehen?

Vielleicht, und das ist meine Lesart, geht es hier um Stadien der Verwirklichung der Beziehung Gottes zu den Menschen. In Genesis tritt JHWH als Sippengott auf, verbunden mit den Clans von Abraham, Isaak und Jakob. Sippengötter hatten auch andere Clans. In Exodus und den nachfolgenden Büchern übernimmt Gott Verantwortung für ein Volk ‑‑ für das Volk Israel. Er befreit, stützt und rettet dieses Volk, durchaus im Gegensatz zu den umliegenden Völkern, den Ägyptern, Midianitern, Kanaanitern. Aber auch diese hatten ihre Götter. Die alten Schriften legen ihre ganze Kraft in die Forderung, dass die Hebräer diese anderen Götter nicht verehren dürfen. Sie sagen nicht, dass diese Götter nicht existieren. Das geschieht erst noch später. Gott wird dann als Schöpfer nicht nur der Menschen, sondern des ganzen Kosmos gesehen, und als einzige göttliche Kraft. Andere Götter zu verehren ist nicht länger nur ein todeswürdiger Treuebruch, sondern darüber hinaus auch eine Dummheit, weil es diese Götter gar nicht gibt. 

Aber wie passt denn konsequenter Monotheismus zur Stellung JHWHs als Gott des Volkes Israel? Gar nicht, es sei denn, man argumentiert, dass Gott mit dem erwählten Volk etwas beginnt, das er mit anderen fortsetzt und zu Ende führt. In der Tat findet sich diese Figur bei den Propheten — Jesaia, Jeremia, Hesekiel, Joel. Paulus entwickelt sie im Römerbrief zu Ende und wendet sie spezifisch auf die Christen an – sein eigenes Volk nun eben, wie auch die Juden sein Volk sind und bleiben.

Gott, der universale Schöpfergott, ist also in Christus der Gott potentiell aller Menschen. Soweit sie seine Gnade empfangen — das liegt in seinem Ratschluss — und soweit sie diese Gnade annehmen — das liegt in der Entscheidung des Einzelnen. Vielleicht besteht die Gnade auch einfach darin, glauben zu können. 

Die drei Stufen, Sippengott, nationaler Gott und universeller Gott, sind Stadien für uns, die wir in der Zeit leben. Für Gott ist immer alles gleichzeitig. Er ist Gott einzelner Individuen, Gruppen und Nationen wie auch der Herr des Universums. Das heißt: Man kann sich betend an jemanden wenden, der den subatomaren Bereich ebenso kontrolliert wie die Anfangsbedingungen des Urknalls. Das ist ganz und gar nicht intuitiv. Um diese Gleichzeitigkeit zu verstehen, müssen wir tatsächlich in Stadien denken, in denen sich eines über das andere wölbt. Tanach und Neues Testament gehen diesen Weg mit uns. 

Die Spannung zwischen der Erwählung der Juden als Volk und der Erwählung der Glaubenden als Personen verschwindet damit nicht, auch für Paulus nicht, denn die beiden Pole sind nicht nur analytische Konstrukte, „Stadien“, sondern Hoffnungen und Ansprüche realer Menschen. Aber man kann diese Spannung in innerer Ruhe aushalten, wenn man es denn will.

Ich wünsche uns eine gute Woche, in der wir uns freuen mit seinem Volk!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 47/2019

Ihr werdet aber über den Jordan gehen und in dem Lande wohnen, das euch der HErr, euer Gott, wird zum Erbe austeilen, und er wird euch Ruhe geben von allen euren Feinden um euch her, und ihr werdet sicher wohnen.
Dtn 12,10

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Licht und Schatten

Das ist die Klammer um die ganze Torah, alle fünf Bücher, das große Versprechen: Ich führe euch heraus aus der Sklaverei, ich habe euch erwählt und nenne euch keinen Grund dafür, ihr müsst mir treu sein, dann gebe ich euch ein großes, reiches Land, das eure Heimstatt sei, und ihr werdet frei sein von Feinden und Bedrohung.

Das ganze fünfte Buch Mose spielt eine logische Sekunde, bevor das Versprechen wahr zu werden beginnt. Die Israeliten brechen aus der Wüste hervor, sie haben den Jordan erreicht und stehen nun bereit, ihn zu überschreiten, das Land einzunehmen. Mose darf diesen letzten Schritt nicht mehr mitgehen, er stirbt vorher, das weiß er, aber jetzt, am Ufer des Flusses, fasst er in einer langen Rede die ganze bisherige Heilsgeschichte zusammen, blickt nach vorn und rekapituliert und interpretiert die Gebote, die das Volk empfangen hat.

***

Unser Vers benennt das große Versprechen in einem besonderen Kontext. Zu einer Zeit, die noch nicht bekannt ist, an einem Ort, den Gott noch nicht benannt hat, soll das ganze Opferwesen der israelitischen Stämme zentralisiert werden. Im gezogenen Abschnitt wird also, noch bevor die Stämme die Stadt überhaupt kennen, der Anspruch des Tempels in Jerusalem begründet, einzige legitime Opferstätte und Ort der Anbetung zu sein, ja Wohnstätte Gottes. Das wirkt sehr ungleichzeitig: Als Mose spricht, ist Israel ein Volk „ohne festen Wohnsitz“ und eine einzige Anbetungsstätte für ihren körperlosen und unsichtbaren Gott, der stets mit seinem Volk zieht, ist eine absurde Vorstellung. Der Text beugt dem Einwand vor: jetzt tut ihr noch, was ihr wollt (V 8), aber bald werdet ihr ein festes und sicheres Land haben (unser Vers), dann könnt und sollt ihr anders verfahren.

Eine erhebliche Einschränkung. Der Text zeigt, dass immer, wenn die Israeliten Rind oder Schaf schlachteten und aßen, sie Teile davon dem Herrn opferten, beinahe so, wie wir heute ein Tischgebet sprechen. Das Opfer und die Anrufung des Herrn mit seinem Namen war der Kern des Austauschs eines jeden Israeliten mit Gott. Sie haben mit Gott gegessen und gesprochen.

Die Monopolisierung von Opfer und Gottesdienst im Tempel geschah spät in der Geschichte der Königreiche. Das große Nordreich war schon untergegangen, als die Könige des kleineren Juda, namentlich Hiskia und Josia, das Opfer und das religiöse Steuerwesen auf Jerusalem konzentrierten. Nur in Jerusalem durfte noch geopfert werden, nur die Priester dort durften den Zehnten empfangen und all die freiwilligen und mandatorischen Gaben. Noch später durfte auch der Name des Herrn nur an diesem Ort ausgesprochen werden, nur zu einer Zeit, Jom-Kippur, nur von einem Menschen, dem Hohepriester.

Die Konzentration auf Jerusalem war verbunden mit einer Einhegung von Wildwuchs und hatte damit große Bedeutung für die Durchsetzung des Monotheismus. Auf „den Höhen“ wurde nämlich durchaus nicht nur dem Herrn geopfert. Die Kehrseite ist, dass der Gottesdienst sehr verletzlich wurde. Ökonomen würden von systemischen Risiken sprechen. Der Tempel wurde zweimal zerstört, und nach dem zweiten Mal konnte er nicht mehr wiederaufgebaut werden. Für das Judentum eine existenzielle Krise. Sie konnte überwunden werden, aber die Riten, die sich in einem Jahrtausend herausgebildet hatten und nur im Tempel vollzogen werden durften, hatten keinen Ort mehr, ein großer Teil der 613 Ge- und Verbote, die jüdische Gelehrte aus der Torah destillieren, läuft seither leer.

Auch die Christen sind getroffen. Die Aussprache des Eigennamen Gottes ging verloren, als es nach der Zerstörung des Tempels niemanden mehr gab, der ihn legitimiert rufen durfte. Wir kennen noch die Konsonanten, J H W H, und hinsichtlich der Vokalisierung gibt es eine Anzahl mehr oder weniger begründeter Theorien. Aber kann man im Gottesdienst nach vorn treten oder auf einen Berg steigen und dort, in Verzweiflung, Hoffnung, Freude oder Triumph, den Namen Gottes, des Herrn, laut ausrufen? Gott ist nicht nur körperlos und unsichtbar, auch sein Name entzieht sich uns wieder. Und dabei misst die Bibel Namen (Gottes und der Menschen) große Bedeutung zu. 

***

So wirft unser Vers ein helles Licht auf die Zukunft und auch einen Schatten. Ich wünsche uns eine Woche, in der wir Ruhe haben vor unseren Feinden und sicher wohnen,
Ulf

Bibelvers der Woche 39/2019

…kamen sie zu Gedalja gen Mizpa, nämlich Ismael, der Sohn Nethanjas, Johanan und Jonathan, die Söhne Kareahs, und Seraja, der Sohn Thanhumeths, und die Söhne Ephais von Netopha und Jesanja, der Sohn eines Maachathiters, samt ihren Männern.
Jer 40,8

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Trümmerblume

Viele Namen gibt es in diesem Vers… Die Geschichte Judas, die große Geschichte, die von Königen, Reichen, Armeen, Städten, Siegen und Niederlagen handelt, ist zu Ende. Jerusalem ist erobert und niedergebrannt, seine Mauern und Festungen geschleift, der König getötet, der Tempel beraubt und zerstört, ein Großteil der Einwohnerschaft hinweggeführt, soweit nicht vorher schon Hunger, Pest und Schwert das ihre getan hatten. All das, was Jeremia über lange Jahre hin immer deutlicher drohend über der Stadt hängen sieht und sagt, ist auf sie niedergefallen. 

Im Buch Jeremia gibt es zwei große, treibende Themen. Das eine ist die unabwendbar werdende Vernichtung, die sehr präzise geschildert wird, das andere die trotz allem weiterbestehende Heilszusage Gottes an sein Volk. Die beiden Motive schließen sich eigentlich aus, aber das Buch geht in einen akrobatisch anmutenden Spagat und hält sie gleichzeitig hoch. Das hat eine Menge mit unserem Leben zu tun, wenn man darüber nachdenkt.

Jeremia gelingt es nicht, die beiden Motive nachhaltig in eine Synthese zu führen. Die in aller Schärfe gestellte Frage wird eigentlich erst in den Evangelien beantwortet, in der Erzählung von Gottes Heil, das getötet wird und wieder aufersteht. Aber es gibt Andeutungen: Jeremia kauft einen Acker in seiner Heimatstadt Anatot, die ihn verstoßen hat und tut dies gefangen in einem Verlies in der Stadt Jerusalem, die ihrerseits ausweglos von Feinden umstellt ist. Er erhält von Gott die Zusage, dass die Zeit kommen wird, in der man wieder sät und erntet, in der geheiratet und vererbt wird. Und auch die Geschichte um unseren Vers spricht so. Die große Geschichte ist vorbei, aber die kleine Geschichte, die der Männer, Frauen und Kinder, kann weitergehen und sich vielleicht irgendwann wieder zu einer großen Erzählung zusammenfinden. 

Nebukadnezar hat Gedalja zum Statthalter ernannt. Gedalja kommt aus einer Familie von Ministerialen am judäischen Hof, die mit dem Königshaus nicht verwandt waren. Der Statthalter ist anfangs fast allein in Mizpa, das Land ist verwaist. Jeremia gesellt sich zu ihm, nachdem er seine Freiheit wieder erlangt hat. Aber auch andere kommen, einzelne Führer mit ihren Leuten. Der Satz, dessen zweiter Teil der gezogene Vers ist, lautet im Zusammenhang:

Als nun die Hauptleute, die samt ihren Leuten noch im Lande verstreut waren, erfuhren, dass der König von Babel Gedalja, den Sohn Ahikams, über das Land gesetzt hatte und über die Männer, Frauen und Kinder und über die Geringen im Lande, die nicht nach Babel weggeführt waren, kamen sie zu Gedalja nach Mizpa, nämlich Jischmael, der Sohn Netanjas, Johanan und Jonatan, die Söhne Kareachs, und Seraja, der Sohn Tanhumets, und die Söhne Efais von Netofa und Jaasanja, der Sohn eines Maachatiters, samt ihren Leuten

Gedalja beginnt mit dem Nächstliegenden. Es ist Erntezeit, und über allem Hauen, Stechen und Morden hat niemand mehr an das Korn auf dem Halm gedacht. Gedalja organisiert die Ernte. Das ist eine Saite, deren Schwingung Resonanz findet: nun kommen immer mehr Menschen zurück, die im ganz Juda und den angrenzenden Ländern verstreut sind, von überall her. Die Ernte fällt gut aus: sie „ernteten viel Wein und Sommerfrüchte“.

Gedalja sorgt ganz einfach dafür, dass das Leben weitergehen kann. Das ist machtvoll auf ganz eigene Art. Gedaljas Name bedeutet „Der Herr lässt wachsen“. Mir ist das Wort „Trümmerblume“ eingefallen. Von Blumen verstehe ich nichts, aber als ich sie im Internet fand, sah sie genau aus, wie ich sie mir vorstellte — die blaue Blume. Hier ist ein Link.

Leider endet die Geschichte traurig. Jischmael (Ismael im Vers), ein Davidianer aus der Königsdynastie, ist unter denjenigen, die zu Gedalja stoßen. Als so etwas wie eine nationale Wiedergeburt im Reich der Babylonier in der Luft zu liegen beginnt, tötet Jischmael mit zehn seiner Männer Gedalja und viele andere bei einem Mahl. Johanan, ein anderer der Hauptleute in unserem Vers, überwindet JiKernschmael im Kampf, aber die übrigen verlieren allen Mut. Sie fliehen nach Ägypten, wo sich später ihre Spur verliert. Jeremia zieht mit ihnen. Seinen Acker in Anatot sieht er vermutlich nie. Die Juden gedenken Gedaljas mit einem Fastentag zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur.

Gedalja bleibt Episode. Aber seine Geschichte zeigt, wie es hätte gehen können. Wie nach der Katastrophe ein Neuanfang möglich gewesen wäre. Das Potential wird nicht realisiert, die alten Träume von Ruhm und Ehre Davids sind zu mächtig. Aber in Umrissen ist eine andere, alternative biblische Geschichte zu erkennen. Bei Jesaja steht: 

Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde. (Jes 43, 18-19)

Der Gedanke an das Vorige, das Vergangene und Verlorene, birgt Gift und hält uns ab, in die Welt hineinzuwachsen, die vor uns liegen kann, mit Gottes Hilfe, wenn wir es denn zulassen. 

Ich wünsche uns eine Woche, in der das Vorige uns nicht den Blick verstellt für das Neue.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 32/2019

… die trat hinzu von hinten und rührte seines Kleides Saum an; und alsobald stand ihr der Blutgang. 
Luk 8,44

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Unreinheit und Heil

Jesus war als Wunderheiler bekannt und immens populär in Galiläa und darüber hinaus. Seine Heilungen waren durch körperliche Berührungen gekennzeichnet. In der Geschichte um den Vers ist eine kleinere Heilung in eine größere eingebettet. Jesus eilt zu einem sterbenden Mädchen und gerät er in ein Gedränge. Eine Frau mit unstillbarem Blutfluss setzt dabei ihre eigenen Hoffnungen in den Wunderheiler: sie berührt Jesus von hinten. Augenblicklich ist sie geheilt. 

Jesus merkt, dass etwas geschehen ist. Mitten im Getümmel stellt er eine Untersuchung an. Schließlich bekennt die Frau, wie es um sie steht und was sie getan hat. Jesus sagt ihr zu, dass ihr Glaube sie geheilt habe.

Im Judentum ist eine Frau unrein, solange sie menstruiert. Wen sie berührt und was sie berührt, wird unrein. Dies bringt heftige Einschränkungen sozialer Art mit sich. Normalerweise nur für einige Tage im Monat, aber Frauen mit krankhaftem Blutfluss kommen aus diesem Status gar nicht mehr heraus. Reinheit kann nur durch ein Opfer wieder erlangt werden, dies aber erst, wenn der Blutfluss mindestens sieben Tage zum Stillstand gekommen ist. Unten angefügt sind die Bestimmungen aus Leviticus im Wortlaut. 

Die Frau, der Jesus begegnet, hatte also fast ständig den Staus einer Unberührbaren. Darüber hinaus war sie körperlich geschwächt: der dauernde Blutverlust ging an die Substanz. Auch materiell war sie am Ende: ihr ganzes Vermögen hatte sie bei Ärzten gelassen, ohne Erfolg. Das Spannungsmoment liegt nun darin, dass sie in ihrer Not es wagt, Jesus, den über alle Maßen Heiligen, zu berühren. Sie selbst tut dies bewusst, Jesus hingegen spürt nur eine Kraft von sich abgehen, weiß aber — so jedenfalls sagt er — nicht an wen. 

Wer eine Blutflüssige anrührt, wird selbst unrein bis zum Abend. Die Frau nun hat Jesus angerührt, die personifizierte Reinheit. Leviticus 15,31 enthält eine nachdrückliche Warnung aus der Zeit der Wüstenwanderung: wer das Allerheiligste (die Stiftshütte, den Sitz der Thora) verunreinigt, muß sterben. Hier aber, in dieser Szene, ist Jesus das verkörperte Wort Gottes. Was wird geschehen?

Unser kleiner Vers enthält in der Nussschale eine Schlüsselbotschaft des Neuen Testaments. Die Frau stirbt nicht, sie wird geheilt. Das ist die frohe Botschaft. Diese Heilung ist prototypische Erlösung, wie ja Sünde im Judentum in erster Linie eine Form der Unreinheit ist. Jesus verlangt von der Frau, dass sie sich zu ihrer Unreinheit und zu ihrer Rettung bekenne und verkündet dann, dass ihr Glaube es sei, der sie reinige. Dabei stellt er die überlieferte jüdische Dichotomie von Reinheit und Unreinheit in keiner Weise in Frage. 

Zwischenzeitlich ist das Kind, das Jesus retten wollte, gestorben. Nun geht nicht mehr um Unreinheit und Sünde, sondern um das unschuldige Leben selbst. Jesus dringt vor zu dem toten Mädchen. Dann nimmt er einfach ihre Hand und sagt: Kind, steh auf. Und das Mädchen steht auf.

Ich wünsche uns eine Woche, in der uns der Glaube hilft, 
Ulf von Kalckreuth

Anhang: Leviticus 15,19-31

Wenn eine Frau ihren Blutfluss hat, so soll sie sieben Tage für unrein gelten. Wer sie anrührt, der wird unrein bis zum Abend. Und alles, worauf sie liegt, solange sie ihre Zeit hat, wird unrein und alles, worauf sie sitzt, wird unrein. Und wer ihr Lager anrührt, der soll seine Kleider waschen und sich mit Wasser abwaschen und unrein sein bis zum Abend. Und wer irgendetwas anrührt, worauf sie gesessen hat, soll seine Kleider waschen und sich mit Wasser abwaschen und unrein sein bis zum Abend. Und wer etwas anrührt, das auf ihrem Lager gewesen ist oder da, wo sie gesessen hat, soll unrein sein bis zum Abend. Und wenn ein Mann bei ihr liegt und es kommt sie ihre Zeit an bei ihm, der wird sieben Tage unrein und das Lager, darauf er gelegen hat, wird unrein.

Wenn aber eine Frau den Blutfluss eine lange Zeit hat, zu ungewöhnlicher Zeit oder über die gewöhnliche Zeit hinaus, so wird sie unrein, solange sie ihn hat; wie zu ihrer gewöhnlichen Zeit, so soll sie auch da unrein sein. Jedes Lager, worauf sie liegt die ganze Zeit ihres Blutflusses, soll gelten wie ihr Lager zu ihrer gewöhnlichen Zeit. Und alles, worauf sie sitzt, wird unrein wie bei der Unreinheit ihrer gewöhnlichen Zeit. Wer davon etwas anrührt, der wird unrein und soll seine Kleider waschen und sich mit Wasser abwaschen und unrein sein bis zum Abend. Wird sie aber rein von ihrem Blutfluss, so soll sie sieben Tage zählen und danach soll sie rein sein. Und am achten Tage soll sie zwei Turteltauben oder zwei andere Tauben nehmen und zum Priester bringen vor die Tür der Stiftshütte. Und der Priester soll die eine zum Sündopfer bereiten und die andere zum Brandopfer und die Frau entsühnen vor dem HERRN wegen ihres Blutflusses, der sie unrein macht.

Und ihr sollt die Israeliten wegen ihrer Unreinheit absondern, damit sie nicht sterben in ihrer Unreinheit, wenn sie meine Wohnung unrein machen, die mitten unter ihnen ist.

Bibelvers der Woche 07/2019

Doch so spricht der Herr HErr: Wenn die vierzig Jahre aus sein werden, will ich die Ägypter wieder sammeln aus den Völkern, darunter sie zerstreut sollen werden,…
Hes 29,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel von 2017.

Eine nicht erfüllte Prophezeiung

Liest man den Vers der Woche, so möchte man sofort stutzen: Wieso Ägypten? Was Ezechiel schreibt, hätte man ohne weiteres auf Juda beziehen können: von Eroberern zerstreut, sammelt es sich nach geraumer Zeit wieder aus den Völkern.

Aber Ägypten ist gemeint. Ezechiel prophezeit eine Niederlage des Pharao und eine vierzig Jahre andauernde, völlige Verwüstung des Landes als Strafe für den Hochmut seiner Herrscher und die Unzuverlässigkeit gegenüber dem Bündnispartner Israel. Im nachfolgenden Kapitel 30 gibt es eine weitere Prophezeiung, dergemäß der Untergang Ägyptens konkret durch Nebukadnezar von Babylon herbeigeführt werde. Auch die nachfolgenden Kapitel 31 und 32 behandeln den bevorstehenden Untergang Ägyptens. Ähnliche Visionen gibt es in Jesaja 19 und in Jeremia 46. Die drei großen Propheten sind sich über das Schicksal Ägyptens einig. 

Nun ging allerdings Ägypten nicht unter, nicht durch die Babylonier jedenfalls. Erst später, durch den persischen König Kambyses II, Sohn des Kyros, verliert das Land seine Unabhängigkeit. Aber auch dann wird es nicht verwüstet, sondern eher erneuert und zu Wohlstand geführt.

Was können wir anfangen mit einer nicht erfüllten Prophezeiung aus sehr ferner Zeit? Vielleicht ist das Bild wichtig, das die Propheten zeichnen. Die kulturelle und politische Großmacht Ägypten war immer geistiger Bezugspunkt für die Israeliten — oft gehasst, viel bewundert, manchmal auch geliebt. In Ägypten fand Josef Sicherheit vor seinen Brüdern und später sein Namensvetter vor Herodes. In Ägypten wurden die Israeliten ein Volk, aus Ägypten zogen sie durch die Wüste ins Heilige Land, geführt von einem Propheten, der einen ägyptischen Namen trug und am ägyptischen Königshaus erzogen wurde. Im Bündnis mit Ägypten wollten sie der babylonischen Herrschaft entkommen.

Beim Lesen von Ezechiels Text tritt mir mein eigenes Land vor Augen. Nach dem Krieg war Deutschland zerschlagen und verwüstet. Nach fünfundvierzig Jahren konnte es die Teilung überwinden. Wie einstmals Ägypten, so war Deutschland geistiger Bezugspunkt für die Juden, nicht erst in der Katastrophe, lange vorher schon und irgendwie auch nachher noch, for better or worse. Das jüdische Volk und Deutschland haben denselben Schutzpatron, den Erzengel Michael.

In den Visionen von Ezechiel und Jesaja ergeht es den Ägyptern perspektivisch wie dem jüdischen Volk. Bei Ezechiel eher negativ gefärbt, die Ägypter sinken politisch auf den Status von Juda herab: 

Denn so spricht Gott der HERR: Wenn die vierzig Jahre um sein werden, will ich die Ägypter wieder sammeln aus den Völkern, unter die sie zerstreut werden sollen, und will das Geschick Ägyptens wenden und sie wieder ins Land Patros bringen, in ihr Vaterland; aber sie sollen dort nur ein kleines Königreich sein. Sie sollen kleiner sein als andere Reiche und nicht mehr sich erheben über die Völker, und ich will sie gering machen, dass sie nicht über die Völker herrschen sollen,… (Eze 29, 13-15) 

Jesajas Prophezeiung ist rund hundertfünfzig Jahre älter. Der große Rivale Ägyptens heißt hier noch Assyrien. Auch Jesaja schließt in einer Parallelführung mit Israel, seine Vision aber ist ergreifend versöhnlich: 

Und der HERR wird die Ägypter schlagen und heilen; und sie werden sich bekehren zum HERRN, und er wird sich von ihnen bitten lassen und sie heilen. Zu der Zeit wird eine Straße sein von Ägypten nach Assyrien, dass die Assyrer nach Ägypten und die Ägypter nach Assyrien kommen, und die Ägypter samt den Assyrern werden dem Herrn dienen. Zu der Zeit wird Israel der Dritte sein mit Ägypten und Assyrien, ein Segen mitten auf Erden; denn der HERR Zebaoth wird sie segnen und sprechen: Gesegnet bist du, Ägypten, mein Volk, und du, Assur, meiner Hände Werk, und du, Israel, mein Erbe! (Jes 19, 22-25)

Der Herr sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth