Bibelvers der Woche 48/2024

Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehren einziehe!
Ps 24,7

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Wer ist der König der Ehre?

Sehr schön, zu diesem Vers muß ich nichts recherchieren, ich kenne ihn gut! Zum einen gehört er in den Taufspruch meiner Tochter. Sie heisst Mathilde. Das ist ein germanischer Kampfname (ja, das gäbe es bei den Germanen auch für Frauen…) und bedeutet wörtlich: ‚Mächtig im Streit‘. Ihr Taufspruch, Vers 7 und 8 von Psalm 24, sind ein fiktiver Dialog:

Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!
Wer ist der König der Ehre?
Es ist der HERR, stark und mächtig, der HERR, mächtig im Streit.

Im Psalm wird die Frage wiederholt. Beim zweiten Mal lautet die Antwort:

Es ist der HERR Zebaoth, er ist der König der Ehre.

Ich habe gehört, dass man sich diesen Dialog als einen uralten Passwort-Ritus vorstellen soll. Der König, der in seine Stadt Jerusalem einziehen wollte, begehrte Einlass am Tor und wurde dabei gefragt, wer denn der König der Ehre sei. Er musste darauf die ‚richtige‘ Antwort geben, und die lautete nicht etwa „König der Ehre — das bin ich!“

Wir haben oft mit unserer Tochter über die beiden Verse gesprochen. Ihr ist völlig klar, dass „mächtig im Streit“ das Gegenteil ist von „ständig herumstreiten“, und dass eine große Verantwortung darin liegen kann, für das Richtige zu kämpfen, zur rechten Zeit, am rechten Ort. Und sie weiss auch, wem sie diese Verantwortung schuldet.

Und dann gehört unser Vers fest in die Adventszeit. Die Türen in der Welt, die aufgehen sollen, um den König der Ehre hereinzulassen — das können unsere Herzen sein. So will es das Adventslied, das wir alle kennen:

Macht hoch, die Tür, die Tor macht weit;
Es kommt der Herr der Herrlichkeit,
Ein König aller Königreich,
Ein Heiland aller Welt zugleich,
Der Heil und Leben mit sich bringt;
Derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott,
Mein Schöpfer, reich von Rat.

Es ist eine Woche zu früh, aber ich kann nicht umhin, uns allen jetzt schon eine gesegnete Adventszeit zu wünschen…!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 32/2023

Er gedenkt an seine Gnade und Wahrheit dem Haus Israel; aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes. 
Ps 98,3

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Singet dem Herrn…!

Unser Vers gehört zu einem Psalm, der sich ganz dem Lobpreis Gottes widmet. „Er gedenkt an seine Gnade und Treue für das Haus Israel“ — Christen wissen und vertrauen darauf, dass auch sie gemeint sind. Hier ist der ganze, großartige Psalm, nach der Lutherübersetzung von 1984:  

Singet dem HERRN ein neues Lied,
denn er tut Wunder.
Er schafft Heil mit seiner Rechten
und mit seinem heiligen Arm.
Der HERR lässt sein Heil kundwerden;
vor den Völkern macht er seine Gerechtigkeit offenbar.
Er gedenkt an seine Gnade und Treue für das Haus Israel,
Jauchzet dem HERRN, alle Welt,
singet, rühmet und lobet!

Lobet den HERRN mit Harfen,
mit Harfen und mit Saitenspiel!
Mit Trompeten und Posaunen
jauchzet vor dem HERRN, dem König!
Das Meer brause und was darinnen ist,
der Erdkreis und die darauf wohnen.
Die Ströme sollen frohlocken,
und alle Berge seien fröhlich
vor dem HERRN; denn er kommt, das Erdreich zu richten.
Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit und die Völker, wie es recht ist.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, mit einem neuen Lied darin…!
Ulf von Kalckreuth 

Bibelvers der Woche 28/2023

…und Eljasaph, der Sohn Deguels, über das Heer des Stammes der Kinder Gad.
Num 10,20

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Gott in der Bewegung

Wieder und immer noch ist das Thema die große Verheissung, das Gelobte Land. In der vergangenen Woche waren wir Zeuge, wie diese Verheissung an Abraham ging, verbunden mit einem geradezu unglaublichen Zeithorizont für die Erfüllung. Und in der Woche davor konnten wir erleben, wie diese Verheissung scheinbar endgültig zerschellte. 

Wir hatten früher schon Num 10,24 als BdW 49/2020, er sieht dem Vers dieser Woche zum Verwechseln ähnlich: : …und Abidan, der Sohn des Gideoni, über das Heer des Stammes der Kinder Benjamin. Der Kontext ist derselbe: Das Volk Israel hat am Sinai die Offenbarung empfangen und bricht nun auf — mit der Stiftshütte und unter Gottes Leitung –, das Gelobte Land einzunehmen, Stamm für Stamm, und ihre Führer werden einzeln aufgerufen. Was ich seinerzeit geschrieben habe, kann ich heute nicht besser sagen, bitte werfen Sie einen Blick auf diese Betrachtung: 

Der Herr ist Gott in der Bewegung…!

Der große Aufbruch führt zunächst ins Nichts: Viele Jahrzehnte lang ziehen die Israeliten in der Negev umher und reifen in dieser Zeit zum Volk. Erst die Nachkommen gelangen ins verheissene Land. Dann aber sind es in der Tat die Gaditer, die als erste ihr Land einnehmen, einen fruchtbaren Streifen östlich des Jordan. Das Land liegt an der Grenze des israelitischen Siedlungsgebiet, und die Gaditer gelten als kriegerisch. 

Chagall hat den Stämmen Israels zwölf Fenster gewidmet, deren jedes einen der Stämme ins Bild setzt, sie sind zu sehen im Hadassah Medical Center in Ein Kerem, near Jerusalem. Hier ist das Fenster für Gad:

https://www.hadassah.org.il/en/gad/r

Es spricht vom Tod und dem Leben, das den Tod überdauert. 

Der Herr ist Gott in der Bewegung…!

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 27/2023

Da sprach er zu Abram: Das sollst du wissen, dass dein Same wird fremd sein in einem Lande, das nicht sein ist; und da wird man sie zu dienen zwingen und plagen vierhundert Jahr.
Gen 15,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die ganz lange Frist…!

Der Vers dieser Woche ist in gewisser Weise das Gegenstück zu dem der vergangenen Woche. Dort wurde das große Versprechen zurückgenommen — endgültig, wie es schien. Hier hingegen wird das Versprechen gegeben: Abraham soll Stammvater eines großen Volks sein, mit dem Heiligen Land als Heimstatt. Gott und Abraham schließen einen Bund, eine Art Schutz- und Lehensverhältnis. Besiegelt wird der Bund mit einem Opfer, das eindrucksvoll beschrieben wird. 

Es gibt jedoch ein großes „Aber“. Während des Opfers fällt Abraham in einen tiefen Schlaf und wird von Angstgesichten gepeinigt. Die Heimstatt gibt es für seine Nachkommen nicht gleich, so hört er, auch nicht in absehbarer Zeit, sondern erst nach vierhundert Jahren Frondienst in Ägypten, wo sie als heimatlose Fremdlinge leben werden. 

Vielleicht war diese Einschränkung in der ersten Fassung des Texts nicht enthalten, denn sie bricht die Geschlossenheit der Bundes- und Opferszene. Aber sie zeigt etwas Wichtiges. Abraham glaubt der Verheissung und richtet sein Leben danach aus — und er stört sich nicht daran, dass sie erst nach mehr als vierhundert Jahren eintrifft! Da ist mehr als Glaube im Spiel. Abraham hat ein anderes Zeitempfinden als wir.

Vierhundert Jahre Sklaverei, was für eine Verheissung ist das denn? Für uns wäre an dieser Stelle wohl Schluß gewesen. Wenn es die Welt, wie wir sie kennen, in vierhundert Jahren noch geben soll, müssten wir jetzt auf Urlaubsflüge, Benzinmotoren und Gasheizungen zu verzichten. Die Industrie müsste Vergleichbares tun, und die Waren, die wir kaufen vom Lohn unserer Arbeit, wären deutlich teurer. Eigentlich ist das unstrittig, aber dennoch: damit etwas geschieht, brauchen wir Tornados, Hitzewellen und Dürre JETZT. Sonst geht es leider nicht. Vierhundert Jahre sind ausserhalb unseres „scope“, wie es heute heisst. Selbst wenn es um die ganze Welt geht. 

Nicht für Abraham. Mit vollem Recht ist er daher Stammvater der Juden und der Araber und — im geistlichen Sinne — der Christen.

Und uns allen wünsche ich eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 17/2023

Im Reich dieses Königs hat man das Recht lieb. Du gibst Frömmigkeit, du schaffest Gericht und Gerechtigkeit in Jakob.
Ps 99,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Macht und Recht

Wir haben Vers 4 von Psalm 99 gezogen, eines recht kurzen Lobpreispsalms. Aber der Vers ist widerständig. Die Lutherübersetzungen bieten eine Fülle von Übersetzungsangeboten für den ersten Versteil. In der Fassung der Lutherbibel 1912, aus der ich ziehe, lautet der Halbvers: Im Reich dieses Königs hat man das Recht lieb. Die Lutherbibel 1984, oft recht eng am Original, gibt: … und die Macht des Königs, der das Recht lieb hat. Die Fassung von 2017, übersetzt: Die Stärke des Königs ist, dass er das Recht liebt.

Also müssen wir ins Original schauen. Unten ist die Interlinearünbersetzung von Rita Maria Steurer abgebildet. Sie gibt den hebräischen Text Wort für Wort in Aussprache und Übersetzung wieder, der hebräischen Schreibung folgend von rechts nach links. Was man sieht, ist eine Art Puzzle, und ich hätte es so zusammengesetzt: Die Macht eines Königs ist das Recht, das er liebt. Das ist nun allerdings, wie ich feststelle, wörtlich der Vorschlag der katholischen Einheitsübersetzung. Deshalb habe ich dieses Mal oben zur Einheitsübersetzung verlinkt 🙂 

Psalm 99,4 in der Interlinearübersetzung — entnommen aus Steurer, Rita M., Interlinearübersetzung Altes Testament hebräisch-deutsch, Band 4, SCM R. Brockhaus, 1999, S. 817

Im Vers wird Macht und Recht gleichgesetzt. Aber nicht nach dem Muster „Wer die Macht hat, hat das Recht“. Es wird auch nicht gesagt, dass die Macht aus dem Recht folgt, wie es dem modernen Verfassungsverständnis entspricht. Die Macht eines Königs, so sagt der Vers, entspringt vielmehr der Liebe zum Recht. Man muß darüber nachdenken, der Psalm gibt weiter keine Erläuterung. 

Maßnahmen und Verordnungen, die aus der Liebe zum Recht geboren werden, haben ihre eigene Dynamik — sie sind nicht interessengeleitet und auch nicht willkürlich. Das verschafft ihnen einen entscheidenden Überlebensvorteil in der politischen Auseinandersetzung. Ein Herrscher, der für seine Liebe zum Recht bekannt ist, wird mit der Zeit unangreifbar, seine Ordnungsvorstellungen kann er ohne Reibungsverluste und faule Kompromisse durchsetzen, mühelos fast. Das ist wirkliche Macht, nicht die Inhaberschaft des Amts. Nelson Mandela fällt mir ein, und Michail Gorbatschow, in den entscheidenden Jahren ihrer politischen Laufbahn. 

Ein König dieser Art ist Gott, sagt der Vers. Aber es dürfte in der Welt ruhig noch mehr solche Herrscher geben. Liebe zum Recht muß kein göttliches Monopol sein. Wir aber, heute, geben diesen Kredit keinem Politiker, sei er noch so demokratisch gewählt. Das halten wir für klug. Aber wie klug ist es? Was bekommen wir denn statt dessen? 

Ich wünsche uns allen gesegnete Tage, besonders aber unseren Politikern,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 16/2023

Und er sprach zu mir: das ist der Fluch, welcher ausgeht über das ganze Land; denn alle Diebe werden nach diesem Briefe ausgefegt, und alle Meineidigen werden nach diesem Briefe ausgefegt.
Sach 5,3

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die fliegende Schriftrolle

Eine Schriftrolle gigantischen Ausmaßes kommt geflogen und enthält — eine Verfluchung der Diebe und meineidigen Lügner durch Gott selbst. Der Abschnitt aus dem Buch Sacharja enthält auch eine kleine Kostprobe des Fluchs: der Dieb soll in seinem Haus bleiben und es selbst aufessen, mit Holz und Steinen. 

Groß wie eine Cessna kommt sie geflogen, die Schriftrolle mit dem Fluch. Flüche im Orient können lang und ausführlich sein. Karl May bezeugt es und auch die Bibel: wir haben die Fluchpsalmen gesehen, die seitenlange Selbstverfluchung Hiobs und den Fluch, mit dem Gott sein Volk belegt für den Fall, dass es seinen Weg verlässt (Deut 28) . Hier aber ist der Fluch wichtiger Teil einer positiven Botschaft: alles soll wieder in die Ordnung kommen. Die Diebe und meineidigen Lügner sollen nicht länger tun können, was ihnen beliebt. Der Fluch trifft nun sie, und nicht das Volk Gottes,. Sie werden ihre wohlverdiente Strafe empfangen. Und wie!

Sacharja -- Fliegende Schriftrolle über Jerusalem
Sacharja — die Vision von der fliegenden Schriftrolle.
Ulf von Kalckreuth mit Dall-E2, 14.04.2023

Alles wird wieder gut. Das ist die Grundbotschaft des ganzen Buchs Sacharja. Gott wendet sich nach der traumatischen Exilserfahrung seinem Volk wieder zu. In einer Reihe von Visionen beschreibt es der Prophet: Jerusalem soll wieder aufgebaut werden, ein neuer geistlicher Leiter wird berufen, die Gottlosigkeit wird ausgekehrt und von zwei Engeln aus dem Land geflogen — das Bild von der Frau in der Tonne. Im zweiten Teil des Buchs entwickelt sich daraus ein endzeitliches Bild der Herrschaft Gottes.

Alles wird wieder gut. Ein Vers für die erste Woche nach Ostern. Ich persönlich finde ich die Vorstellung von der fliegenden Schriftrolle sehr eindrucksvoll. Daher habe ich mir von einer KI ein Bild dazu erstellen lassen. Die Anweisung dazu war einfach „A scroll, large as a Cessna, flying over ancient Jerusalem“. Wie finden sie es?

Ich wünsche uns allen gesegnete Tage, und dass die Diebe und meineidigen Lügner im Lande ihren Weg wieder finden…
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 05/2023

Und ich will sie unter die Völker säen, dass sie mein gedenken in fernen Landen; und sie sollen mit ihren Kindern leben und wiederkommen.
Sach 10,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Zeitlos…!

In der Betrachtung zum Bibelvers der vergangenen Woche schrieb ich, dass bei den Propheten Unheil und Verheissung oft nebeneinander stehen, manchmal sogar durcheinander. Hier geschieht es in ein und demselben Vers. 

Der gezogene Vers aus der Lutherübersetzung von 1912 steht ganz im Futur. In der neueren Lutherübersetzung 1984 (siehe den Link oben) steht folgendes:

Ich säte sie unter die Völker, dass sie meiner gedächten in fernen Landen und leben sollten mit ihren Kindern und wieder heimkehren. 

Die für das Alte Testament sehr akkurate katholische Einheitsübersetzung schreibt: 

Säe ich sie auch unter die Völker aus, werden sie doch in der Ferne an mich denken. Sie werden mit ihren Kindern am Leben bleiben und heimkehren. 

Das Aussäen — die schreckliche Diasporaerfahrung der Juden im Nordreich Israel und im Südreich Juda — wird in diesen drei Übersetzungen wechselnd in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesetzt. In der ersten und der dritten Fassung liegt die dazugehörige Verheissung in der Zukunft, in der zweiten hat sich auch die Verheissung schon vollzogen.

Und nun wird es sonderbar: Nichts davon ist „falsch“. Der Originaltext ist sprachlich mit allen drei Fassungen vereinbar. Im alten Hebräisch haben die Verben keine „Zeitformen“, wie wir sie kennen, es sind vielmehr Aspekte. Den punktuellen, tatsachen- und faktenorientierten Aspekt nennt man Perfekt, den offenen, zeitraumbezogenen und potentialorientierten Aspekt dagegen Imperfekt. Der gezogene Vers steht im Perfekt. Oft stehen Handlungen, die in der Vergangenheit bereits stattgefunden haben und die man daher genau kennt, im Perfekt, wohingegen die Zukunft unsicher ist und in der Regel das Imperfekt fordert. Aber bei einer Prophetie, die der Sprechende sozusagen in Stein gemeisselt vor sich sieht, kann durchaus ein Perfekt stehen. Der Zeitbezug wird im alten Hebräisch manchmal durch Angaben wie „Wenn das Jahr sich wieder neigt“, oder „Im dritten Jahr des Königs Nebukadnezar“ geschaffen, in der Regel aber durch den Kontext. 

Wie sieht es inhaltlich aus? Wer ist gemeint? Teile von Sacharjas Buch wurden kurz nach dem Ende des babylonischen Exils geschrieben, als die Bevölkerung von Juda in ihr Land zurückzukehren begann. Der Vorgang war noch nicht beendet. Die Rückkehr der Nordstämme, die hundertfünfzig Jahre früher von den Assyrern deportiert wurden, erwartete man weiterhin vergeblich, sie gelten heute als die „verlorenen Stämme“.

Alles wäre sinnvoll — Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 

Wir können Unheil und Verheissung heute als zeitlos lesen. Gott hat sein Volk unter die Heiden zerstreut, tut dies und wird es wieder tun, dies aber immer dergestalt, dass etwas Gutes daraus erwachsen kann — die Entwurzelten mögen Seiner gedenken, mit ihren Kindern leben und gedeihen, dort, wo immer sie hingepflanzt sind, Identität und Glauben weitergeben und dereinst zurückkehren… Der Vers enthält eine Aufforderung zum Leben, fast schon eine Verpflichtung. Folgerichtig findet der Prophet ein eigentümliches Wort für die Zerstreuung: „Aussaat“. 

Kann aus soziokultureller Vernichtung etwas Gutes, eine Renaissance erwachsen? Leben, Wachstum? Ernte? Spricht der Vers auch vom Leben einzelner Personen, Familien, Gruppen? Kann er Chiffre sein für unser aller Leben? Jesus gibt das Gleichnis vom Samenkorn, das vergehen muss, damit die Ähre erstehen kann.

Und ich will sie unter die Völker säen, dass sie mein gedenken in fernen Landen; und sie sollen mit ihren Kindern leben und wiederkommen.

Lesen Sie den Vers noch einmal so. Vielleicht antwortet er auf den Vers der vergangenen Woche. Unheil und Verheissung sind Seiten derselben Münze, irgendwie gibt es die beiden im Doppelpack. Vor nicht allzu langer Zeit, im September 2022, hatten wir einen Vers aus Sacharja mit sehr ähnlichen Botschaft, siehe den BdW 37/2022.

Gottes Segen sei mit uns, in dieser Woche, der vergangenen und den Wochen, die da kommen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 48/2022

Und stärkten also das Königreich Juda und befestigten Rehabeam, den Sohn Salomos, drei Jahre lang; denn sie wandelten in den Wegen Davids und Salomos drei Jahre.
2 Chr 11,17

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Gottesfurcht als Staatskunst?

Drei Jahre lang war alles gut!

Immer wenn sich die Könige Judas abwenden vom Herrn, geht es bergab mit ihnen und dem Reich. Zuwendung und Treue hingegen werden belohnt, meist unmittelbar. Das ist die Kernbotschaft des zweiten Buchs der Chronik. Der Darstellung nach ist der Zusammenhang fast naturgesetzlich, Er erklärt die große Katastrophe in der jüdischen Geschichte, die Vernichtung des Reichs Juda, der Hauptstadt Jerusalem und des Tempels, die Wegführung der Bevölkerung.

Schon ganz zu Beginn der Geschichte des Südreichs scheint der Zusammenhang mit Händen zu greifen. Da folgt ein König drei Jahre lang dem Herrn und ist erfolgreich. Er verlässt die Wege des Herrn und schnell gerät das Land an den Rand der Katastrophe. 

Rehabeam hatte einen denkbar schlechten Start. Nach dem Tod Salomos war er designierter Nachfolger auf dem Thron des israelitischen Gesamtreichs. Die Nordstämme baten — recht höflich, wie ich finde — um eine Verminderung der Last, die nur sie allein tragen mussten. Das große Juda hatte unter Salomo keine Abgaben zu leisten, siehe den BdW 43/2022. Rehabeam, schlecht beraten von jugendlichen Altersgenossen, antwortete harsch und unnachgiebig. Zehn Stämme verweigerten daraufhin die Gefolgschaft. Rehabeam blieb König nur über Juda. Im weitaus größeren Nordteil des salomonischen Reichs etablierte sich Jerobeam als König. Von da an herrschte ständig Krieg. 

Und doch läuft es zunächst gut. Der König des Nordreichs nämlich führte ausländische Kulte ein und vertrieb die Leviten aus seinem Land, die Priester des Herrn. Sie gingen nach Jerusalem. Dieser Migrationswelle schlossen sich andere Teile der Elite des Nordreichs an, die mit den neuen Götzen und dem veränderten Wind im Land nichts anfangen konnten. Der Zustrom half dem jungen Südreich bei der nationalen Konsolidierung. Drei Jahre lang. Dann, so wird weiter berichtet, wendet sich auch Rehabeam neuen Einflüssen zu, und prompt kommt mit Pharao Schischeck eine schreckliche Bedrohung aus Ägypten. Rehabeam bereut und demütigt sich vor Gott. Die Vernichtung der Hauptstadt kann abgewendet werden. 

Soweit der Vers und seine Botschaft. Ist es so? Meiner eigenen Lebenserfahrung entspricht es nicht: Abwendung von Gott bedeutet in der Welt, die ich kenne, durchaus kein sofortiges Scheitern, ebensowenig, wie die Hinwendung zu Gott Erfolg und Reichtum programmiert. Die Psalmen wissen das und beklagen vielfach, dass es der Gottlose sei, der auf der reich gedeckten Seite des Tischs sitzt, vorübergehend jedenfalls. Wenn der Zusammenhang so einfach und mechanisch wäre — wie könnte ein machtfokussierter König von Juda oder ein statusorientierter Manager unserer Zeit je die Wege des Herrn mißachten? Das hätte sich in interessierten Kreisen herumgesprochen, und die Zehn Gebote und ausgewählte Psalmen stünden in den Eingangskapiteln jedes Karriereleitfadens…! 

Nein, so ist es nicht. Es ist anders, und wirklich ausbuchstabieren kann ich es hier nicht. Hinwendung zu Gott bedeutet die Bereitschaft, Sinn zu erkennen und dankbar zu sein. Das Leben als Geschenk zu begreifen befähigt uns, die in den verworrenen Pfaden dieses Lebens verborgenen Chancen zu sehen. Dazu bekommen wir den Mut, diese Chancen zu ergreifen und auch Stehvermögen, wenn es zunächst nicht klappt. Das ist eine Erfahrung, die ich tatsächlich gemacht habe. Gebet hilft, zu sehen, worauf es ankommt, und richtet unsere Aufmerksamkeit auf Wunder oder ihre Keime — auf Außerordentliches also, das mit den Regeln, die wir zu kennen meinen, nichts zu tun hat. Das macht uns stark, und auf lange Sicht auch erfolgreich. 

Aber es geschieht dies in einer Weise, die wir nicht kontrollieren. Es ist das Gegenteil einer abrufbaren Mechanik — es ist offen. Unverfügbar.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche auf dem unbekannten Weg mit Gott,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 36/2022

So höret nun und merket auf und trotzt nicht; denn der HErr hat’s geredet.
Jer 13,15

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Subway wall

Was hat der Herr geredet? Jeremia erzählt erst von einer Zeichenhandlung. Auf Weisung Gottes legt er sich einen Gürtel zu, trägt ihn eine Weile und legt ihn dann in einer Felsspalte in der Nähe eines Bachs ab. Als er lange Zeit später wiederkommt und den Gürtel sucht, findet er ihn verrottet. So kann Gott das Volk, mit dem er sich gegürtet hat, auch wieder von sich lösen, dann wird es verrotten. Im Anschluß kündigt Jeremia die Vernichtung an, die dem Volk wiederfahren wird — jeder wird wie volltrunken sein und der eine am andern zerschmettern. 

Das Buch Jeremia ist voll solcherlei Ankündigungen, und im Großen und Ganzen werden sie wahr. Das Königreich Juda büßt seine staatliche Existenz ein, die Hauptstadt und der Tempel werden vernichtet, ein großer Teil der Bevölkerung ins babylonische Ausland deportiert. In Kapitel 13 des Buchs ist das angekündigte Ende noch bedingt darauf, dass das Volk die eingeschlagenen Wege weitergeht. Das Unheil kann noch abgewendet werden. Dafür steht der gezogene Vers. Später schwindet die Bedingtheit: aus der Drohung wird eine einfache, hilflose Vorhersage.

Hier wird kollektive Vernichtung angedroht, als Konsequenz für kollektives Versagen. Aus der katholischen Konfessionsschule meiner Kindheit habe ich mitgenommen, dass — nach dem Tod übrigens, nicht vorher —  meine individuellen Sünden gewogen würden. Und aus evangelischen Gottesdiensten heutigen Tags scheint uns Gott als Allerbarmer auf, der möglichst vielen Menschen möglichst großes Glück schenken will. 

Es ist sonderbar, wie die Vorstellungen sich immer weiter von der Bibel und auch von der erfahrbaren Wirklichkeit entfernen. Kollektives Versagen bringt kollektives Unheil mit sich, das ist sehr bodenständig, hier gilt das Gesetz der großen Zahl. Beim Individuum ist der Zusammenhang längst nicht so streng: Glück, günstige Umstände und Zufall können verhindern, dass jemand für seine Fehler büßt. Mit Glück erntet auch ein dummer Bauer große Kartoffeln. Ob jemand für seine Fehler büßt scheint mir vor allem davon abzuhängen, wie gut er vernetzt ist. Und die letzte Vorstellung — gehen Sie gedanklich die Geschichte zurück: scheint es möglich, dass ein allmächtiger Gott zu jedem Zeitpunkt das größtmögliche Glück aller verfolgt hätte? 

Mit der Bibel hat diese Vorstellung nicht viel zu tun. Das Alte Testament spricht vom Bund, der Treue Gottes zu diesem Bund und der Strafe für die fehlende Bundestreue des Volk Gottes. Ebenso das Neue Testament. Diese Welt ist gefallen, sie bewegt sich unabwendbar ihrem Ende zu, sagt das Neue Testament. Gerettet wird, wer das Angebot des Bundes annimmt und hält, jenes diesmal, das Gott uns in Seinem Sohn macht. 

Gibt es kollektive Strafe? An den Judäern, an den Babyloniern, an den Deutschen wegen des Genozids, an den Reichen wegen der Armut der anderen, an uns allen wegen unseres Umgangs mit der Ökosphäre? Und wer ist gerettet? Alle? Das Volk Gottes in seinen zwei Gestalten? Die unter ihnen, die den Bund halten? Ich? Mein Nachbar? Und wenn ich, warum nicht er? Auch wenn Tausende fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, es wird dich nicht treffen! sagt Psalm 91. Wer sind die, die fallen, und wer ist hier gerettet? Was kann zur Rettung geschehen? Kann etwas geschehen?

Das sind Rätsel und Fragen, die mich verfolgen. And the sign said: The words of the prophets are written on a subway wall. „So höret nun und merket auf und trotzt nicht, denn der HErr hat’s geredet.“ Die Bibel ist eigentlich ziemlich deutlich. Was die Kirchen sagen, verstehe ich nicht. 

Uns allen wünsche ich die Gnade Gottes, derer wir bedürfen!  
Ulf von Kalckreuth


In dieser Woche starb Michail Gorbatschow, letzter Präsident der Sowjetunion und Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU bis zu ihrem Untergang. Im vergangenen Jahr gab es zum BdW 12/2021 eine Betrachtung, die Elemente eines Nachrufs enthält.

Bibelvers der Woche 15/2022

Ich harre des HErrn; meine Seele harret und ich hoffe auf sein Wort.
Ps 130,5 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Palmsonntag

Es ist nicht leicht zu fassen. Erinnern Sie sich an den Bibelvers der letzten Woche? Es war der Eröffnungsvers des siebten Bußpsalms. Nun ein Schlüsselvers aus dem sechsten Bußpsalm, der wie eine Antwort ist. Als Zufall ist das gar nicht zu begreifen. Irgendwie ergibt es ein perfektes Ganzes — so fühle ich mich, so fühlt sich die Welt, so ist das Kirchenjahr und auch das Wetter. Ostern und Pessach sind nun sehr nahe, aber noch bleibt die Welt dunkel. 

Der Vers sagt uns, sehr klar übrigens, wie wir damit umgehen sollen — warten, hoffen, harren, getrost sein. Die Welt wird das nicht ändern, nein, aber wir können in ihr bestehen mit Blick auf ein besseres Morgen. Gerade habe ich den Psalm neu gelesen. Er spricht unmittelbar zur Seele. Ich lade Sie ein, dasselbe zu tun:

Ps 130 Ein Wallfahrtslied. 

Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir. Herr, höre meine Stimme! 
Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!
Wenn du, HERR, Sünden anrechnen willst – 
Herr, wer wird bestehen? 
Denn bei dir ist die Vergebung, 
dass man dich fürchte. 

Ich harre des HERRN, meine Seele harret, 
und ich hoffe auf sein Wort. 
Meine Seele wartet auf den Herrn 
mehr als die Wächter auf den Morgen; 
mehr als die Wächter auf den Morgen
hoffe Israel auf den HERRN! 
Denn bei dem HERRN ist die Gnade 
und viel Erlösung bei ihm. 
Und er wird Israel erlösen 
aus allen seinen Sünden.

Ich wünsche uns eine gesegnete Karwoche!!
Ulf von Kalckreuth