Bibelvers der Woche 36/2023

Nach der Zahl der vierzig Tage, darin ihr das Land erkundet habt; je ein Tag soll ein Jahr gelten, dass ihr vierzig Jahre eure Missetaten tragt; auf dass ihr innewerdet, was es sei, wenn ich die Hand abziehe.
Num 14,34

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Zurückweisung

Oh, das klingt nicht gut…! Was ist passiert? Nach einem Durchzug durch die Wüste kommt das Volk Israel an die Grenze Kanaans des Gelobten Landes. Späher werden ausgesandt, und sie berichten Schreckliches über Kraft und Stärke seiner Einwohner. Eine militärische Eroberung scheint aussichtslos, selbstmörderisch. Die Israeliten wollen den Sprung nicht wagen und murren — gegen Gott und gegen die Führung Moses. 

Dies Mißtrauen ist für Gott die Zurückweisung seines großen Versprechens. Mose hält ihn ab von einem Gewaltakt gegen sein Volk. Aber keiner der jetzt lebenden Erwachsenen soll das Gelobte Land sehen — mit Ausnahme zweier Späher, die sich dem Mainstream der anderen entgegengestellt haben. Erst den Kindern der Wüstenwanderer soll der Ausbruch gelingen. Dazu gibt es Betrachtungen bei BdW 40/2018 und BdW 01/2022. Es ist ein Fluch, der milderen Art immerhin. Die Isrealiten sollen in der Wüste bleiben, aber stehen dort weiter unter Gottes Schutz. 

Der unversöhnliche Ton des Verses irritiert. Gott ist persönlich gekränkt und stellt die Rechnung — ein Jahr Wüste für jeden Tag, den die verfehlte Erkundung dauerte. Woher diese Kränkung? Von Eltern verlangt man heute, dass sie von ihren Kindern viel Schlimmeres entgegennehmen und dabei gleichmütig, offen und zugänglich bleiben. Die andere Wange hinhalten, positiv, ein Fels in der Brandung…

Und auch heute gelingt Eltern das nicht immer. 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 30/2023

Ich will die Früchte auf den Bäumen und das Gewächs auf dem Felde mehren, dass euch die Heiden nicht mehr verspotten mit der Teuerung.
Hes 36,30

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die Not hat ein Ende…!

In dieser Woche stoßen wir gewissermaßen in eine Lücke: Den vorangehenden Vers, Hes 36,29, gab es vor etwa zwei Jahren als BdW 23/2019. Und den unmittelbar folgenden Vers, Hes 36,31, hatten wir ebenfalls schon, siehe BdW 42/2020. Zu beiden Versen früher gezogenen Versen gibt es Betrachtungen, die ich Ihnen gern empfehle 🙂

Das Wort „Teuerung“ steht für existenzielle Not. Mit der Kraft der Erde macht der Herr der Not ein Ende. Es tut gut, diesen Vers zu lesen. Tun Sie es doch einfach, drei oder vier Mal.

Gatineau, Ile de Hull, Quebec, Kanada, 19. Juli 2023

Uns allen wünsche ich eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 27/2023

Da sprach er zu Abram: Das sollst du wissen, dass dein Same wird fremd sein in einem Lande, das nicht sein ist; und da wird man sie zu dienen zwingen und plagen vierhundert Jahr.
Gen 15,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die ganz lange Frist…!

Der Vers dieser Woche ist in gewisser Weise das Gegenstück zu dem der vergangenen Woche. Dort wurde das große Versprechen zurückgenommen — endgültig, wie es schien. Hier hingegen wird das Versprechen gegeben: Abraham soll Stammvater eines großen Volks sein, mit dem Heiligen Land als Heimstatt. Gott und Abraham schließen einen Bund, eine Art Schutz- und Lehensverhältnis. Besiegelt wird der Bund mit einem Opfer, das eindrucksvoll beschrieben wird. 

Es gibt jedoch ein großes „Aber“. Während des Opfers fällt Abraham in einen tiefen Schlaf und wird von Angstgesichten gepeinigt. Die Heimstatt gibt es für seine Nachkommen nicht gleich, so hört er, auch nicht in absehbarer Zeit, sondern erst nach vierhundert Jahren Frondienst in Ägypten, wo sie als heimatlose Fremdlinge leben werden. 

Vielleicht war diese Einschränkung in der ersten Fassung des Texts nicht enthalten, denn sie bricht die Geschlossenheit der Bundes- und Opferszene. Aber sie zeigt etwas Wichtiges. Abraham glaubt der Verheissung und richtet sein Leben danach aus — und er stört sich nicht daran, dass sie erst nach mehr als vierhundert Jahren eintrifft! Da ist mehr als Glaube im Spiel. Abraham hat ein anderes Zeitempfinden als wir.

Vierhundert Jahre Sklaverei, was für eine Verheissung ist das denn? Für uns wäre an dieser Stelle wohl Schluß gewesen. Wenn es die Welt, wie wir sie kennen, in vierhundert Jahren noch geben soll, müssten wir jetzt auf Urlaubsflüge, Benzinmotoren und Gasheizungen zu verzichten. Die Industrie müsste Vergleichbares tun, und die Waren, die wir kaufen vom Lohn unserer Arbeit, wären deutlich teurer. Eigentlich ist das unstrittig, aber dennoch: damit etwas geschieht, brauchen wir Tornados, Hitzewellen und Dürre JETZT. Sonst geht es leider nicht. Vierhundert Jahre sind ausserhalb unseres „scope“, wie es heute heisst. Selbst wenn es um die ganze Welt geht. 

Nicht für Abraham. Mit vollem Recht ist er daher Stammvater der Juden und der Araber und — im geistlichen Sinne — der Christen.

Und uns allen wünsche ich eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 24/2023

Wenn dann die Fußsohlen der Priester, die des HErrn Lade, des Herrschers über alle Welt, tragen, in des Jordans Wasser sich lassen, so wird das Wasser, das von oben herabfließt im Jordan, abreißen, dass es auf einem Haufen stehen bleibt.
Jos 3,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Zeichen und Wunder

Vor einiger Zeit hatten wir mit BdW 06/2018 einen Vers in der unmittelbaren Nachbarschaft, dessen Betrachtung ich jetzt ein wenig fortspinnen kann.

Josua ist neuer Führer der Israeliten und bekommt von Gott Autorität geschenkt — beim Einzug der Kinder Israel ins Heilige Land wiederholt sich für ihn im Kleinen das Wunder, das unter Mose im Großen den Auszug, die Flucht aus Ägypten, ermöglicht hat. Wie damals im Schilfmeer teilen sich nun die Wasser des Jordan: oberhalb staut sich das Wasser auf wie durch eine unsichtbare Mauer, so dass Priester und Kämpfer den Fluß trockenen Fußes durchschreiten können. 

Die Kinder Israel durchschreiten trockenen Fußes den Jordan.
Ulf von Kalckreuth mit Dall-E, 6. Juni 2023

Es ist dies „nur“ eine Erinnerung, ein Zeichen — die Durchquerung des Jordan wäre auch ohne dies möglich gewesen. Später aber schenkt Gott dem Josua ein eigenes Wunder: auf sein Gebet hin bleiben Sonne und Mond fast einen Tag lang stehen und ermöglichen den Israeliten die Fortführung einer günstig verlaufenden Schlacht, siehe Jos 10,13-15. Auch dieses Wunder erhält ein fernes Echo. Auf Hiskias flehendes Gebet hin gibt Gott dem Todkranken fünfzehn weitere Jahre Lebenszeit, und um die Heilung zu bestätigen, lässt er die Sonnenuhr rückwärts gehen, siehe 2 Kö 20,8ff und BdW 09/2019. Auch hier hat die Wiederholung Zeichencharakter: die Heilung Hiskias selbst hat mit dem Wunder nichts zu tun. 

Da ist eine Art Handschrift, eine Semantik. Die Wunder setzen den klassisch physikalischen Gang der Dinge einfach aus. Eine Wassersäule steht, und statt mit der Schwerkraft zu fallen und im Fallen sich auszubreiten, bleibt sie einfach weiter stehen. Und Himmelskörper — scheinbar der Mond und die Sonne, in Wahrheit aber die Erde selbst — halten in ihrer Rotation inne. Eine äußere Kraft, die das Drehmoment der Erde in kurzer Zeit überwindet, und anschließend wieder herstellt, müsste die Erdoberfläche zerstören und alles Leben unmöglich machen. 

Es wird gesagt, dass Gott durch die Naturgesetze spricht — hier spricht er durch ihre Aufhebung, in denkbar machtvoller Weise. 

Aber noch ein Zeichen gibt Gott am Jordan, vielleicht an derselben Stelle, aber über tausend Jahre später. Es kommt ohne Eingriff in die Naturgesetze aus. Gott spricht selbst, in direkter Rede. In allen Evangelien wird berichtet, wie Jesus sich von Johannes taufen lässt: 

Und als Jesus getauft war, stieg er alsbald heraus aus dem Wasser. Und siehe, da tat sich der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und über sich kommen. Und siehe, eine Stimme aus dem Himmel sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe (Mt 3,13f). 

Gott bestätigt Jesus in der Öffentlichkeit, wie er Josua bestätigt hat, ebenso eindrucksvoll, aber es geschieht mit einer ganz anderen Semantik. Warum? Ich weiss es nicht. 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

P.S. Gestern konnte ich für ein paar Stunden den Kirchentag in Nürnberg besuchen — und als ich die Kirchentags-App öffnete, um sehen, was ich mit dieser Zeit anfangen kann, fand sich auf meinem Bildschirm meines Handys plötzlich eine jüdisch-christliche Diskussion zu 2. Kö 20, der Geschichte von Hiskias Heilung und der Sonnenuhr, die rückwärts läuft. Darüber hatte ich doch gerade erst geschrieben! Natürlich ging ich hin. Ein klitzekleines Zeichen vielleicht für mich…

Bibelvers der Woche 18/2023

Und welcher gefunden wird im Bann, den soll man mit Feuer verbrennen mit allem, was er hat, darum dass er den Bund des HErrn übertreten und eine Torheit in Israel begangen hat.
Jos 7,15

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Heilig und unantastbar!

Wieder haben wir einen Vers zur Vernichtungsweihe gezogen — zum dritten Mal seit Beginn des Jahres. In den Betrachtungen zu den BdW 06/2023 und 07/2023 wurde über diesen Modus der Kriegführung bereits gesprochen. In extremen, existenziellen Situationen sollte Gott selbst den Kampf für sein Volk führen. Die menschlichen Kampfer waren dann nur ausführende Organe. Insbesondere hatten sie keinerlei Recht an der Beute, die gesamte Beute stand als Opfer Gott selbst zu. Die besiegten Gegner, auch Frauen und Kinder, waren dem Tode geweiht, sie konnten nicht versklavt werden, wie dies sonst üblich war.

Ein solcher Fall war mit dem Überschreiten des Jordan und dem Einbruch ins Heilige Land gegeben. Die Eroberung Jerichos wurde von Josua als Bannkrieg geführt. Alle Einwohner der Stadt kamen um — bis auf die Hure Rahab, deren Verrat den Sieg ermöglicht hatte.

Einer der Kämpfer aber hatte sich unbemerkt Gold und Silber vom gebannten Gut genommen. Bald darauf ging die Schlacht um die in der Nähe gelegenen kleine Stadt Ai für die Israeliten schmählich verloren. Seitens der Israeliten war der Angriff mit halber Kraft geführt worden, gewissermaßen beiläufig. Nun war Josua ratlos. Der Frevler muss sterben, sagt Gott — das ist der gezogene Vers. Er befiehlt Josua, ihn mit dem Los zu suchen. Zunächst sollten die Stämme antreten, dann die Geschlechter, die Häuser und schließlich die Kernfamilien mit ihren Männern.

So geschieht es, und so auch wird der Schuldige gefunden. Er gesteht. Das gestohlene Beutegut wird geborgen und zusammen mit dem Frevler verbrannt. Mit einer Kriegslist gelingt darauf die Eroberung der Stadt Ai. Der Angriff wird diesmal mit vollem Einsatz geführt. Wie in Jericho müssen alle Einwohner sterben, die Beute aber geht diesmal an die menschlichen Kämpfer. Man meint, im Hintergrund ein Anreizproblem wahrzunehmen.

Bannkrieg, Vernichtungsweihe, das ist eine ungeheuerliche Idee. Alles ist Opfer für den Herrn, Leben und Gut der Feinde, und dieses Eigentum ist heilig und unantastbar! Das ist der Hintergrund, vor dem sich dann und danach über viele Jahrhunderte die Vorstellung von einem liebenden Gott gebildet hat. Christen glauben, dass dieser Gott so sehr liebt, dass er seinen erstgeborenen Sohn und sich selbst zum Opfer bringt… Auch das ist irgendwie ungeheuerlich. Wer ist unser Gott? Trägt er mehrere Personen in sich?

Wenn wir uns für einen Moment vom Bannkrieg lösen — und das fällt mir schwer — welche Botschaft hat der Vers? Was Gottes ist, muß Gottes bleiben, sagt er. Was Gott geweiht ist, dürfen wir nicht für unsere eigenen Zwecke einsetzen!

Wen betrifft das, und wie? Jeden vielleicht an anderer Stelle. Ich selbst habe einen konkreten Anlass, hier aufmerksam zu sein. Aus Anlass meines sechzigsten Geburtstags will ich nämlich bald mit meiner Gemeinde ein Dankopferfest feiern. Die ganze Gemeinde ist nach dem Gottesdienst eingeladen. Wir wollen mit Gott essen, trinken, singen und beten und uns aneinander und am Leben freuen — und gemeinsam für einen guten Zweck einstehen.

Vielleicht kann mich der Vers daran erinnern, dass ich nicht mich selbst feiern soll, sondern Gott?

Ich wünsche uns allen gesegnete Tage,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 15/2023

Und sprich zu ihnen: So spricht der HErr: Werdet ihr mir nicht gehorchen, dass ihr nach meinem Gesetz wandelt, das ich euch vorgelegt habe,…
Jer 26,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Karfreitag

Hier ist zunächst der vollständige Satz mit der Botschaft, die Jeremia an das Volk von Juda weitergeben soll: 

Und sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Werdet ihr mir nicht gehorchen und nicht nach meinem Gesetz wandeln, das ich euch vorgelegt habe, und nicht hören auf die Worte meiner Knechte, der Propheten, die ich immer wieder zu euch sende und auf die ihr doch nicht hören wollt, so will ich’s mit diesem Hause machen wie mit Silo und diese Stadt zum Fluchwort für alle Völker auf Erden machen.

Worum geht es hier? Jeremia lebt und predigt im Südreich Juda, in Jerusalem. Das Nordreich gibt es nicht mehr. In Silo stand der Tempel Gottes im Nordreich, bis er gemeinsam mit der Stadt von den Assyrern vernichtet wurde, wir hatten das in der vergangenen Woche kurz nachgezeichnet. Mittlerweile hat die Hegemonialmacht gewechselt: die Stelle der Assyrer hat die neubabylonische Supermacht eingenommen. Aber sonst ist in der Tat vieles wie zur Zeit der Vernichtung des Nordreichs. Die Könige Judas taktieren und suchen Bündnisse, um sich aus der Abhängigkeit von Babylon zu befreien. 

Gott befiehlt nun Jeremia, in den Tempel von Jerusalem zu gehen und dort mit des Tempels und der Stadt Vernichtung zu drohen, das ist die Botschaft des Verses. Einige Jahre später, unter der Herrschaft des nächsten Königs, sollte seine Prophezeiung wortwörtlich eintreffen. Die Warnung und die harten Worte sind lebensgefährlich für den Propheten. Jeremia verteidigt sich klug und entkommt der Hinrichtung, siehe hierzu die Betrachtung zum BdW 11/2019

Die Botschaft Jeremias ist dem Spruch Jesajas im Vers der vergangenen Woche recht ähnlich. Aber noch eine andere strukturelle Verwandtschaft fällt mir auf — muss mir auffallen. Heute ist Karfreitag. Am Palmsonntag vor rund 2000 Jahren, knapp 640 Jahre nach der Tempelrede Jeremias, zog Jesus von Nazareth in Jerusalem ein, um im Tempel zu predigen. Auch er kündigt die Vernichtung des Tempels an. Was er in den folgenden Tagen sagt und tut, ist für seine Umwelt unerträglich und löst dieselben Reaktionen aus wie die Tempelrede Jeremia. Dann war es schließlich so weit, am Karfreitag. Am frühen Morgen wird Jesus festgenommen, dann steht er vor Gericht, wie Jeremia in unserem Vers. Er verteidigt sich nicht und verliert noch am Abend sein Leben. Eine Fahrt in die Nacht. Was den Tempel betrifft, sollte Jesus allerdings genauso Recht behalten wie Jeremia.

Karfreitag also. Es ist früh am Morgen, es regnet. Ich sitze am Tisch, müde und mit Kopfschmerzen. Ostern ist kaum zu ahnen. Aber dennoch warten wir darauf, sonst wäre alles Nichts. Ich wünsche uns gesegnete Tage!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 13/2023

Und der HErr redete mit euch mitten aus dem Feuer. Die Stimme seiner Worte hörtet ihr; aber keine Gestalt saht ihr außer der Stimme.
Dtn 4,12

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die Welt als Kippbild

Gott nimmt sich in dieser Welt auf eigenartige Weise zurück. Er tritt nicht als König auf, als Weltenherrscher, als ‚Big Brother‘. ChatGPT, obschon dem Wesen nach körperlos, ist greifbarer als der Schöpfer dieser Welt. Das Alte Testament kennt zwei Erklärungen. Die erste gibt es in Ex 33, als Mose bittet, Gott sehen zu dürfen. Gottes Präsenz ist zu groß, zu mächtig, um erträglich zu sein, ein Mensch kann Gott nicht sehen und leben, heisst es. Die zweite gibt es hier, im Text von Deut 4: Wenn Gott sich kenntlich machte, würden Menschen sich Bilder von ihm fertigen und diese anbeten: die Fasslichkeit würde die Beziehung von Gott und Mensch zerstören. Man kann beide Gedanken noch etwas verfolgen: Wenn Gott für jedermann sichtbar würde, es wäre dies das Ende der Welt, wie wir sie kennen, ein Leben in eigener Verantwortung wäre nicht möglich.  

Unser Gott ist ein unsichtbarer Gott. Ob wir ihn annehmen oder nicht, ihn in unser Leben nehmen oder nicht, hat tatsächlich etwas mit freier Entscheidung zu tun. Die Welt ist wie eines dieser Vexierbilder, auf denen man alternativ eine junge oder eine alte Frau sehen kann, in denen sich eine Vase in zwei Gesichter verwandeln lässt, mit einem puren Willensakt. Dieselben Elemente des Bildes können auf mehrere Weisen zueinander in Beziehung gesetzt werden, die Interpretationen allerdings schließen einander aus. 

Eine Welt mit Gott ist fundamental verschieden von einer Welt ohne Gott, aber die Welt und Gott zwingen uns keine der beiden Interpretationen auf. Wir können wählen. Und wir wählen dabei auch und vor allem zwischen unterschiedlichen Lebenszusammenhängen für uns selbst.  Lassen Sie das Bild oben in Ihrem Kopf hin- und herkippen. So ändert sich unsere Welt, je nachdem, ob wir sie als Gottes Werk sehen oder nicht.

Rubins Vase, das bekannteste Kippbild
Face or vase, by Nevit Dilmen, 16.08.1011,
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Face_or_vase_7741.svg?uselang=de#filelinks

So ist das, was von Ihm in unsere Welt hineinspricht, nur sein Wort — ein Wort aus dem Feuer, ein körperloses Wort, eine Existenzform eigener Art. „Keine Gestalt saht ihr ausser der Stimme.“ Gottes Wort ist so heilig wie sein Name, wie er selbst. 

„Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar…!“

Der Herr, unser unsichtbarer Gott, sei mit uns!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 03/2023

Ich will sie mit ihrem Trinken in die Hitze setzen und will sie trunken machen, dass sie fröhlich werden und einen ewigen Schlaf schlafen, von dem sie nimmermehr aufwachen sollen, spricht der HErr.
Jer 51,39

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Becher des Zorns

Ich glaubte schon, wir hätten diesen Vers bereits gesehen. Aber nicht dieser Vers, sondern sein unmittelbarer Nachfolger, Jer 51,40, hatten wir im vergangenen Frühling gezogen. Bitte gucken Sie kurz auf den Kommentar zum BdW 13/2022 — das wichtigste zum Kontext ist dort gesagt. Die beiden Verse, der frühere und der für diese Woche, gehören zusammen und auf der ersten Ebene machen sie dieselbe Aussage: Babylon, das Großreich, das Juda vernichtet und seine Bewohner deportiert hat, soll nun seinerseits vernichtet werden, das Werkzeug Gottes wird von Gott bestraft. 

Die Strafe, und das ist das Besondere hier, wird bewirkt durch Trunkenheit. Trunkenheit steht für Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit und die Ausschaltung des gesunden Empfindens. Das wird recht konkret beschrieben: In der größten Hitze setzen die Kämpfer sich nieder zum Trinken. „Hitze“ meint zweierlei: Die Lage der babylonischen Krieger ist zugespitzt und verzweifelt, aber auch die Lufttemperatur ist angesprochen. Hitze beschleunigt den Stoffwechsel, der Alkohol geht „schnell ins Blut“ und ein Mensch kann der aufsteigenden Trunkenheit nichts entgegensetzen. Im Augenblick größter Bedrohung also werden die babylonischen Krieger fröhlich und schlafen ein.

Das Motiv taucht auch in Jer 51,54 auf. In Kapitel 25 (15ff sowie 27ff) gebraucht Jeremia das Bild in verwandelter Form: die Völker des Großraums trinken reihum vom Becher des Zornes Gottes, zuletzt auch Babylon. Hier ist nicht mehr von physisch existierenden Kämpfern die Rede, es geht um Völker und ihre geschichtliche Schicksale in übertragener Form. Jesaja verwendet das Bild vom „Taumelbecher“ ganz ähnlich. In der Offenbarung (14,10 ff) steigert Johannes die Vorstellung des Zornestrunks noch einmal, er wird zum Teil des Weltgerichts,

Das sind keine angenehmen Bilder… Wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit, lautet eine Redewendung aus dem antiken Griechenland. In unserem Vers schlägt Gott die Babylonier mit Trunkenheit. Das erinnert mich an die Geschichte vom Turmbau zu Babel: dort werden die Babylonier durch Verwirrung der Sprache ausser Gefecht gesetzt. Vielleicht hat die Fähigkeit zur koordinierten militärischen Aktion eine besondere Stärke der babylonischen Streitkräfte ausgemacht? 

Der Herr bewahre uns die Fähigkeit, unser Unglück zu sehen und gemeinschaftlich das Notwendige zu tun. 
Ulf von Kalckreuth


Nachtrag: Seit Juni 2017 ziehe ich jede Woche einen Vers. Bislang sind es 292. Zusammengenommen ist das immerhin schon fast ein Prozent des gesamten Korpus der Lutherbibel 1912, rund 0,974%! So hoch ist derzeit die Wahrscheinlichkeit, einen der bereits gezogenen Verse ein zweites Mal zu ziehen. Ich warte schon eine ganze Weile darauf, dass dies geschieht. Aber wer kurz nachdenkt, sieht, dass die Wahrscheinlichkeit, so wie in dieser Woche den unmittelbaren Nachfolger eines der bereits gezogenen Verse zu ziehen, genau denselben Wert hat, fast ein Prozent…! So oder so, allmählich entsteht ein Bild, stark verpixelt noch, aber erkennbar

Bibelvers der Woche 01/2023

Und sie nahmen Jona und warfen ihn ins Meer; da stand das Meer still von seinem Wüten.
Jon 1,15 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

A day in a life

Ein Vers für Jahresende und Jahresbeginn. In der Vergangenheit galten die „Rauhen Nächte“ in den zwölf Tagen zwischen Weihnachten und Dreikönig als unheilig. Geister und Dämonen hatten das Sagen. Meine Großmutter hat mir noch erzählt von den Stürmen und Unwettern, der Wilden Jagd und den Saalweibchen, die in diesen Nächten auf markiertem Gehölz Schutz vor ihren mächtigen Verfolgern suchen. Diese Tage und Nächte sind wie aus der Zeit gefallen, und mit Böllern wehren wir uns.

Jona rennt davon. Gott hat ihn gerufen, mit einem gefährlichen Auftrag — er soll nach Ninive gehen, dem Zentrum der brutal herrschenden assyrischen Großmacht, und die Bewohner der Stadt auf einen neuen Weg bringen. Ein Himmelfahrtskommando. Jona antwortet nicht. Er schifft sich ein, aber statt nach Osten fährt er nach Westen, nach Tarsis an der spanischen Atlantikküste, dem äußersten Rand der damals bekannten Welt. Bloß weg!

Ein Sturm bricht los auf dem Meer, immer wütender. Jona bleibt wortlos, er verkriecht sich ins Innere des Schiffs, um dort zu schlafen. Nur weg. Aber die verängstigten Seeleute holen ihn nach oben, fragen ihn nach seinem Gott und ein Los wird geworfen, um zu erfahren, welcher der Schiffsinsassen denn hier verfolgt wird, wem die wütende Hatz gilt. Das Los trifft Jona, und endlich spricht er, gibt zu, dass er vor seinem Gott flieht. Man möge ihn ins Meer werfen, und alle anderen würden gerettet, sagt er. Er will, dass es endlich vorbei ist!

Der Sturm wird zum Orkan und nach langem Widerstand tun es die Seeleute — sie werfen den Flüchtigen ins Meer. Das ist unser Vers. Augenblicklich wird das Meer ruhig und glatt. Das mag lauter gedröhnt haben als der Orkan. Wenn ich es mir vorstelle, verschlägt es mir den Atem. A Day in a Life von den Beatles endet so, mit einem mächtigen, minutenlang verklingenden Klavierakkord in Dur, nach einem wilden, sich irrwitzig steigernden Crescendo. Mit einem gewaltigen Schlag kommt die Welt zur Ruhe. 

Aber für Jona ist es nicht vorbei. Er ist jetzt unter der Wasseroberfläche, allein mit sich und seinem Gott. Fliehen kann er jetzt nicht mehr. Am dritten Tage wird er wieder auftauchen aus dem Meer, und wird verwandelt sein. 

Der Herr beschütze uns in unseren Nächten,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 50/2022

Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahinkommt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und wachsend, dass sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen:…
Jes 55,10

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Advent

Am Sonntag beginnt die dritte Adventswoche. Advent — das Kommen des Herrn, der Weg, der Ihn zu uns führt und uns zu Ihm. Als Jesus einen schrecklichen Foltertod starb, waren seine Jünger verzweifelt — ein solches Ende des Messias hatten sie nicht erwartet. In den schon damals sehr alten Versen, in denen Jesaja vom Gottesknecht singt, der sterben muss und mit seinem Opfer das Volk erlöst, fanden sie die Blaupause, die Erklärung für das Unerklärliche. Der gezogene Vers gibt ein Bild, ein Gleichnis für die lebensspendende Kraft von Gottes Wort. Hier ist der unmittelbare Kontext, zitiert nach der Lutherbibel 1984:

Suchet den HERRN, solange er zu finden ist; ruft ihn an, solange er nahe ist. Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum HERRN, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung. Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln. Und dem HERRN soll es zum Ruhm geschehen und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.
Jes 55,6-11

Ich wünsche uns allen eine gesegnete dritte Adventswoche!
Ulf von Kalckreuth