Bibelvers der Woche 39/2024

…denn es steht geschrieben: „Er wird befehlen seinen Engeln von dir, dass sie dich bewahren…
Luk 4,10

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Wenn zwei das gleiche sagen…

… so ist es nicht das gleiche, sagt das Sprichwort. Im vorliegenden Fall ist einer der Psalmist, der andere der Teufel höchstpersönlich. In der Wüste trifft er auf Jesus, der vom Fasten geschwächt ist, und versucht ihn. Dabei bezieht er sich auf die überlieferten heiligen Gebete. Es ist Psalm 91, 11+12, den der Teufel zitiert:

Denn er hat seinen Engeln befohlen,
dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen,
dass sie dich auf den Händen tragen
und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest

Das sind beliebte Taufverse — Eltern wünschen das ihren Kindern. Der Teufel interpretiert die Verse messianisch: der Psalm richte sich an den Sohn Gottes. Er kann tun, was er will, er kann vom Turm springen, Gott wird ihn schützen. Damit will der Teufel Jesus versuchen. 

Hat er vielleicht recht? Ist der Sohn Gottes gemeint, oder wenigstens der König? Im Psalm geht es weiter: „Auch wenn tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten: es wird dich nicht treffen“. Wer sind die Tausende, die es erwischt? Wer ist der Angesprochene, den es nicht trifft — bin das ich? Wer unter uns wird von Engeln getragen, wer stößt seinen Fuß nicht an einen Stein? Vor einigen Jahren habe ich zu Psalm 91 ein Lied geschrieben. Aber es lässt mir keine Ruhe: wer fällt, wen wird es nicht treffen? 

Es ist Freitagmorgen. In einer Stunde muß ich aufbrechen zu einer Beisetzung. Ein Bruder unserer Gemeinde ist gestorben. Nach einem Herzinfarkt und vor einer Operation, die ihn hätte retten sollen, fiel er in ein Koma und erwachte nicht mehr. N. war 59 Jahre alt. Er hinterlässt eine Frau und vier Söhne.

Im Sommer dieses Jahres ist auch L. ins Koma gefallen, ein anderer Bruder unserer Gemeinde. Nach einem Herzstillstand war sein Gehirn wohl etwa zehn Minuten ohne Versorgung. Aber nach mehreren Wochen erwachte er. Er hat sich sehr weitgehend erholt und alles spricht dafür, dass keine wesentlichen Beeinträchtigungen verbleiben werden. L. ist etwa gleich alt wie N., auch er hat vier Kinder. Beide gehörten zur Kerngemeinde, gingen ihren Weg mit Gott, für beide wurde viel gebetet, intensiv, und auch verzweifelt. Warum L., warum nicht N.? 

Das wirkt beinahe erfunden, nicht wahr, fast wie ein Gleichnis. Aber es ist die reine Wahrheit. Mich erinnert es an den Bibelvers der Woche 04/2024. Im Gefängnis, dem Vorhof des Todes, trifft Josef auf den Mundschenk und den Bäcker des Pharao. Der Mundschenk wird begnadigt, der Bäcker aber gehängt. Der Ratschluss Gottes und des Pharao, und Josef erfährt ihn im Traum. Von Gründen erfährt er nichts. 

Jesus gibt dem Teufel eine Antwort. Es stehe auch geschrieben, so Jesus, dass wir den Herrn, unseren Gott, nicht versuchen dürfen. Vom Turm zu springen, hieße Gott zwingen zu wollen. Gott ist unverfügbar. Am Anfang und am Ende. Für Martin Luther war es die Frage seines Lebens: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Unter den Antworten, auf die er im Laufe seines Lebens stieß, ist sola gratia vielleicht die wichtigste: Allein durch Gnade. Das ist in machtvoller Weise zirkulär. Wir können uns die Gnade nicht verdienen. Oder mit Gebeten erzwingen. 

Der Teufel ist der Verwirrer. Wenn er Psalmen wörtlich zitiert, so dürfen wir davon ausgehen, dass seine Interpretation in die Irre leiten will. Nein, es ist nicht nur der Sohn Gottes gemeint. Und noch einmal nein, die Zusage kann nicht eingefordert werden. Sie gilt dem, der ‚unter dem Schirm des Höchsten sitzt‘, dem Gott gnädig ist, den er in dieser Welt behalten will. Wer das ist, entscheidet Er. Der HERR spricht: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich (2. Mose 33,19).

Das ist schwer zu akzeptieren, schwer zu tragen. Juden beten Psalm 91 auf Beerdigungen. Darin steckt eine Interpretation. Zum Ende seiner Traueransprache für N. sagte unser Pfarrer, dass der Herr unseren Ausgang und unseren Eingang behüten möge — unseren Ausgang aus dieser Welt und unseren Eingang in eine neue Welt, in der Gott all unsere Tränen abwischt…! 

So sei es.
Ulf von Kalckreuth

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