Bibelvers der Woche 14/2020

Es kam aber die Sage von ihm immer weiter aus, und kam viel Volks zusammen, daß sie ihn hörten und durch ihn gesund würden von ihren Krankheiten.
Luk 5,15

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Take-off

Unser Vers steht am Anfang des Lukas-Evangeliums. Jesus hat sein öffentliches Wirken in Galiläa begonnen. Er ist wortmächtig — in Kapernaum wirkt seine Predigt in der Synagoge gewaltig — und vor allem: er ist wunderkräftig. Es gelingt ihm, durch Berührung und Beschwörung Krankheiten zu heilen, an denen alles andere versagt. Jesus schart die ersten Jünger um sich, und die Kunde seiner Kraft breitet sich aus. Wo immer er auftritt, sammeln sich die Menschen. Bald bringt ihn dies in Schwierigkeiten. Noch steht der Höhepunkt der öffentlichen Aufregung bevor (siehe den BdW 48/2018 über die Speisung der 5000), aber die Zuwendung der Menschen und ihr dringendes Bedürfnis nach heilenden Berührungen können unerträglich werden, wenn aus einzelnen Menschen Menschenmassen werden. Alles werden die Menschen tun, im Kollektiv, für die Heilung ihrer Krankheiten. 

Im Neuen Testament wird zweimal erzählt, wie eine Lehre sich ausbreitet. Das erste Mal in den drei Jahren der Wirksamkeit Jesu in Galiläa und Teilen Judäas, und dann nochmals im Zuge der Missionstätigkeit von Paulus und anderen in Kleinasien und Griechenland. Die Ausbreitung von Neuerungen, sogenannten Innovationen, wurde in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit epidemiologischen Modellen beschrieben. Gebrauchs- und Konsummuster, Musikstile, Ideologien können sich verbreiten wie ansteckende Krankheiten: sie übertragen sich von einer wachsenden Zahl von „Trägern“ immer weiter auf die verbliebenen „Nicht-Träger“. Der Anstieg ist anfangs exponentiell. Nach einer Phase, in der die Zahl der Träger noch klein ist, kann es zu einem stürmischen Anstieg kommen, der die Kräfte der Beteiligten überfordert, dem „Take-off“. 

Die Passage rund um den Vers handelt von einem einen Aussätzigen, der Jesus erkennt und ihn flehentlich bittet, ihm zu helfen. Jesus heilt ihn, aber bittet ihn, nichts darüber zu erzählen, sondern nur zum Priester zu gehen und sich die wieder gewonnene Reinheit bestätigen zu lassen, sehe hierzu den BdW 43/2019. Aber die Kunde verbreitet sich wie ein Lauffeuer, immer mehr Menschen kommen, die gesund werden wollen. Jesus wird es zu viel, er flieht in die Einöde. Später wird er Techniken finden, mit der Zuwendung der Massen umzugehen — er predigt von einem Boot aus oder auf einem Berg stehend — aber immer wieder muss er fliehen: in die Wüste, mit dem Boot ans andere Ufer des Sees, über die Grenze ins heidnische Land.

Es wird von drei Versuchungen erzählt, die der Teufel für Jesus bereithielt. Aber war diese hier nicht noch viel gefährlicher? Was macht massenhafte Hinwendung aus ihrem Objekt? Wie geht ein Mensch damit um, Messias zu sein — wundertätig, Sohn Gottes? Wann hat Jesus selbst es eigentlich verstanden? Als er lernte, seine Wunderkräfte zu gebrauchen, oder erst später? Wie konnte er dabei geistig im Gleichgewicht bleiben? Unvorstellbar eigentlich. 

Wir können wohl dankbar sein, wenn wir keine „großen Menschen“ sind. Das hat Jesus selbst in unterschiedlicher Weise immer wieder gesagt. Ich wünsche uns Augenmaß, Realitätssinn und Seelenfrieden in dieser schwierigen Zeit, mit Gottes Hilfe. Und Gesundheit, gerade jetzt!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 13/2020

Und ich fiel vor ihn zu seinen Füßen, ihn anzubeten. Und er sprach zu mir: Siehe zu, tu es nicht! Ich bin dein Mitknecht und deiner Brüder, die das Zeugnis Jesu haben. Bete Gott an! (Das Zeugnis aber Jesu ist der Geist der Weissagung.)
Off 19,10

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Vom Geist der Weissagung

Die Offenbarung des Johannes, und darin eines der letzten Kapitel. Die Welt, wie wir sie kennen, und auch die Bibel selbst, endet in diesen Abschnitten. Nach zwei Wochen Hiob, und mitten im take-off einer Pandemie, hatte ich ein wenig Herzklopfen, als ich nun diesen Vers zog. 

Off 19 ist der Höhepunkts der Agonie der alten Welt: die „Hure Babylon“, das Römische Reich, ist untergegangen und der Anbruch von Gottes Reich wird ausgerufen:

Und ich hörte etwas wie eine Stimme einer großen Schar und wie eine Stimme großer Wasser und wie eine Stimme starker Donner, die sprachen: Halleluja! Denn der Herr, unser Gott, der Allmächtige, hat seine Herrschaft angetreten! Lasst uns freuen und fröhlich sein und ihm die Ehre geben; denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und seine Frau hat sich bereitet. Und es wurde ihr gegeben, sich zu kleiden in Seide, glänzend und rein. – Die Seide aber ist das gerechte Tun der Heiligen. (Off 19, 6-8)

Johannes als Zeuge des Geschehens ist so überwältigt, dass er tut, was ein Jude oder Christ auf gar keinen Fall tun darf: er fällt zu den Füßen des Engels nieder und will ihn anbeten. Der Engel hindert ihn und heißt ihn, Gott anzubeten. Er tut dies schonend, trotz des Verstoßes gegen das erste Gebot, und hebt Johannes dabei auf eine Stufe mit sich selbst: er, der Engel, sei doch Johannes‘ Mitknecht und Mitknecht aller anderen, die den Geist der Weissagung haben — das „Zeugnis Jesu“. Kaum hörbar schwingt mit, dass Johannes sich nicht anstellen solle wie ein Kind, er sei doch schon erwachsen. Der Vers wird ganz am Ende der Bibel, in Off 22,8-9, noch einmal fast wörtlich wiederholt, so wird seine Bedeutung nachhaltig unterstrichen. 

Keiner der Propheten, die in der Bibel zu Wort kommen, erlebt den Geist der Weissagung als befreiend oder erhebend, im Gegenteil, es scheint sich um eine ausgesprochene Last zu handeln. Prophetie scheint uns etwas Unglaubliches, aber der ersten Christenheit war sie eins in einer ganzen Reihe von „Charismen“, die Menschen haben können oder auch nicht, siehe 1. Kor 12,1-11. Durch Prophetie spricht Gott zu uns, und in der Anbetung sprechen wir zu Gott. Das ist eine natürliche Entsprechung. Vielleicht haben wir ihn, diesen Geist der Weissagung, wenn wir die Welt unvermittelt klar erkennen und — nur für wenige Sekunden — die wichtigen Zusammenhänge sehen, in der richtigen Gewichtung. 

Wer aber diesen Geist hat, steht in einem besonderen Dienst, das machen die Worte des Engels klar, und in einer besonderen Verantwortung. In der Wiederholung in Off 22,8-9 wird dies noch deutlicher. Johannes hat eine Aufgabe, er darf sich nicht gehen lassen! 

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir die Konturen dessen, was um uns geschieht, klar erkennen und unsere Aufgabe sehen und annehmen. Gottes Segen und sein Geist sei mit uns, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 12/2020

und ich habe achtgehabt auf euch. Aber siehe, da ist keiner unter euch, der Hiob zurechtweise oder seiner Rede antworte.
Hiob 32,12

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Ein Sinn des Leids

Noch einmal Hiob, wie in der vergangenen Woche. Von Genesis 1,1 „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“ bis Off 22,21 „Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch. Amen“ umfasst die alte Lutherbibel 31.173 Verse. Davon gehören 1069 zu Hiob, das Buch ist recht umfänglich. Wenn man Hiob gezogen hat, liegt die Wahrscheinlichkeit, in der kommenden Woche nochmals Hiob zu ziehen, bei 3,43%. Wenn man Woche für Woche zieht, kann eine solche Konstellation nicht ausbleiben. Andererseits: ex ante liegt die Wahrscheinlichkeit, zweimal hintereinander Hiob zu ziehen, bei nur 0,12%

Habe ich in der letzten Woche etwas Wichtiges übersehen? 

Vor langer Zeit muss jemand genau dies Gefühl gehabt haben. Elihus Reden, aus der wir gezogen haben, sind nämlich eine spätere Einfügung. Elihu wird im Buch Hiob vorher nicht erwähnt und nachher nicht, stets ist nur von drei Freunden die Rede, Elifas, Bildad und Zofar. Durch den Einschub der Reden Elihus folgt die Antwort des Herrn auf die ultimative Herausforderung durch Hiob eigenartig verzögert, um ganze sieben Kapitel. Die Einfügung muss den Redaktoren sehr wichtig gewesen sein. Was wird hier nachgetragen, was rechtfertigt den Eingriff?

Elihu ist deutlich jünger als die anderen, und was er zu sagen hat, platzt schier aus ihm heraus, er kann es nicht halten. Elihu spricht charismatisch, er führt den Geist Gottes als Quelle unmittelbarer Erkenntnis an und wirkt dabei gelegentlich etwas überheblich. Man findet viel, was schon in den Reden der Freunde anklingt, und der letzte Teil ist eine Einleitung für die nachfolgende Rede des Herrn aus dem Sturm. Ein Argument aber ist eigenständig und steht im Zusammenhang mit dem gezogenen Vers. Es geht um einen Zweck des Leids:

Leid muss nicht Strafe sein, es ist eine der beiden Wege, in denen Gott direkt zu uns spricht — die andere ist Traum und Inspiration. Leid bekommt bei Elihu eine positive Bedeutung. Es ist Teil des Gesprächs des Menschen mit Gott. Wir sollen dieses Gespräch nicht zurückweisen. 

Das aber tut Hiob. Es steht uns nicht an, uns über Gott zu erheben. Gott ist vollkommen und kann notwendig nicht anders sein als gerecht. Hiobs Verfehlung liegt nicht in vergangenem Verhalten, wie es die drei anderen Freunde vergeblich darzulegen suchen, sondern in seinem gegenwärtigen Umgang mit dem Leid. Hierauf bezieht sich der gezogene Vers. Hiob verhält sich grundlegend falsch und keiner der älteren Freunde spricht es an.

Leid kann Quelle von Ärgernis sein, aber auch von Erkenntnis. Was es uns wird, liegt in gewissem Rahmen bei uns. Und es ist wahr: wieviel kann denn jemand wissen, der nie gelitten hat? 

Das Buch Hiob mag weise sein, aber es ist nicht tröstlich. Wie im Talmud folgt Gegenrede auf Rede, alles kann wahr sein oder auch falsch — das Gesagte muss sich im Diskurs bewähren. Am Ende werden vom Herrn sowohl die Reden der drei Freunde verworfen wie auch der Anspruch Hiobs. Gilt nun die Vorläufigkeit auch für die Rede des Herrn selbst? Das Buch schillert unheimlich. Keiner der fünf menschlichen Gesprächspartner kennt die Wahrheit hinter Hiobs Leid. Sie ist nicht schön: Der Mann liegt festgeschnallt auf einem kosmischem Seziertisch, seine Reaktion soll erforscht werden. Ein allmächtiger Gott kann und darf das. „Gerecht“ im üblichen Sinne des Worts ist es nicht. Aber wir dürfen auf Gnade hoffen. Wie im Märchen steht am Ende Hiob wieder da wie am Anfang, nur größer noch und schöner.

Elihus Intervention genießt eine Ausnahmestellung: Auf sie folgt keine Gegenrede: was er sagt, wird nicht bestätigt, noch verworfen, auch vom Herrn nicht. Es steht gewissermaßen jenseits des Diskurses. Vielleicht ist es ja so: unabhängig von der dahinterliegenden Wahrheit kann uns Leid ein Weg sein. Im Leid lernen wir über uns, über die Welt und über Gott. Wenn wir das Leid nutzen, nehmen wir ihm von seiner vernichtenden Wirkung. 

Die kommenden Wochen werfen viele von uns auf sich selbst und die engste Familie zurück. Das kann eine arge Einschränkung bedeuten. Nicht ohne Grund leben die meisten anders, wenn man sie lässt, vernetzt, in ständigem Austausch, auf hoher Drehzahl. Aber es ist mit Händen zu greifen, dass dieses allgemeine und gleichzeitige Herunterfahren des Lebens auch eine Chance ist — wenn und nur wenn man bereit ist, es als Chance zu sehen. Fastenzeit für Christen und Nicht-Christen.

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir in Freud und Leid Gott, der Welt und auch uns selbst innig verbunden bleiben. Und Gottes Segen!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 11/2020

Du weißt es ja; denn zu der Zeit wurdest du geboren, und deiner Tage sind viel.
Hiob 38,21

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Größenordnungen

Der Vers ist aus dem Buch Hiob, aus der ersten Rede des Herrn aus dem Sturm. Aus derselben Rede stammte vor knapp einem Jahr den BdW 15/2019. Allgemeines zum Buch Hiob gab es zum BdW 19/2018. In einer Art Laborexperiment muss Hiob leiden, obwohl er sein Leben gerecht führt. Gott und der Versucher wollen beobachten, ob seine Gottesfurcht bestehen bleibt, oder — so erwartet es der Versucher — einfach verdunstet, wenn die Zeiten hart werden. Sie verdunstet nicht, aber Hiob tut etwas Unerwartetes: Er klagt sein Recht ein. Er hat sich an die Spielregeln gehalten, möge Gott dasselbe tun. Es gibt einen Bund! Und er ruft Gott selbst als Anwalt und Richter an in seinem Rechtsstreit mit Gott.

Der antwortet, als Hiobs Freunde schweigen, und was er sagt, ist niederschmetternd. In einer gewaltigen Rede ruft er die Größe der Schöpfung auf. Rechten zu können setzt Wissen voraus, und der Mensch und sein Wissen sind inkommensurabel mit der Größe des Schöpfers und seiner Schöpfung. Rechten mit Gott ist daher unmöglich. Unser Vers sagt das mit fast boshafter Ironie: sein zeitlicher Bezug — „zu der Zeit“ — ist die Schöpfung selbst. Damit wirft er ein scharfes Licht auf die Größenordnungen. Ganz ohne Ironie tut dies auch Psalm 90:

Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!
Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.
Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom,
sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst,
das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt. (Ps 90,3-6)

Und etwas weiter unten: 

Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden (Ps 90,12)

Erstaunlich ist nun aber, dass Gott dem Hiob am Ende unvermittelt recht gibt, als dieser gänzlich aufgegeben hat und gar nichts mehr sagt. Zu den Freunden Hiobs spricht er: 

Mein Zorn ist entbrannt über dich und über deine beiden Freunde; denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob. So nehmt euch nun sieben junge Stiere und sieben Widder und geht hin zu meinem Knecht Hiob und opfert Brandopfer für euch; aber mein Knecht Hiob soll für euch bitten; denn ihn will ich erhören, dass ich euch nichts Schlimmes antue. Denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob. (Hiob 42,7f)

Worin hat Hiob recht vom Herrn geredet? Der Text lässt es offen, der Leser muss es erraten. Der juristische Ansatz ist es nicht, unser Vers macht klar: bei Gott kann man nichts einklagen. Ich meine, es war das immer fortbestehende Vertrauen, das Hiob sagen lässt: 

Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. (Hiob 19, 25-27)

Das Buch sagt uns, dass wir uns auf den Herrn verlassen können, auch wenn wir nicht verstehen und nicht nachvollziehen können, was uns geschieht. Und noch etwas gibt es: Der Herr wendet das Geschick Hiobs erst, als dieser — in all seinem Elend und nun gänzlich gebrochen — tatsächlich für seine Freunde bittet, die ihn bis aufs Blut gereizt haben.  

Ich wünsche uns eine gute Woche, in der wir die Größenordnungen im Blick behalten und füreinander einstehen, klein und sterblich wie wir sind. Etwas anderes macht eigentlich keinen Sinn. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 10/2020

Und abermals spricht er: „Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!”
Röm 15,10

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Wem gilt das Versprechen?

Noch einmal Paulus, diesmal aus dem Römerbrief. Dort bemüht Paulus sich um eine christliche Lehre, obwohl die Voraussetzungen der Mitglieder der ersten Gemeinden sehr unterschiedlich waren. Einige waren Juden. Andere waren Proselyten, also Heiden, die den Gott des Juden für sich angenommen hatten und die Synagogen besuchten, ohne aber konvertiert zu sein und die mosaischen Gebote ganz zu befolgen, zu denen die Beschneidung, detaillierte Speisevorschriften und die Gebote für Schabbat und die vielen Feiertage gehörten. Wieder andere kamen unmittelbar von nichtjüdischen Religionen zum Christentum. Paulus will Exklusivität möglichst vermeiden. Die vielen jüdischen Gebote sind nur Stützen in Ermangelung des Heils, das von Christus kommt. In Christus sind sie entbehrlich. Es ist ein Bruder nicht mehr als der andere, weil er die Speisevorschriften befolgt. 

Aber wie steht es denn um die Erwählung der Juden? War Jesus nicht als Messias und Erlöser zu ihnen gekommen? Paulus sagt, nicht leicht verständlich, dass die Erwählung bleibt, sich aber das Erlösungswerk auch an die Heiden richtet. Jeder empfängt es gültig, dem der Herr seine Gnade schenkt und der sie für sich annimmt — also glaubt. Das sind einige Juden, nicht alle, und einige Heiden, nicht alle. 

Im Abschnitt um den gezogenen Vers gibt er aus dem Gedächtnis einige Stellen wieder, welche die Erwählung auch von Heiden belegen. Der gezogene Vers ist ein Zitat und meine Bibel gibt als Belegstelle Deut 32,43 wieder. Dort aber lautet der Vers (in der Lutherübersetzung 2017): 

Preiset, ihr Heiden, sein Volk; denn er wird das Blut seiner Knechte rächen und wird an seinen Feinden Rache nehmen und entsühnen das Land seines Volks! 

Uups! Die Heiden sollen das Volk Gottes preisen, nicht gemeinsam mit ihm feiern. Im Zusammenhang mit dem Kontext enthält Deut 32, 43 außerdem eine deutliche Drohung an die Fremdvölker.

Paulus‘ Ausrutscher ist ein wenig symptomatisch. Der Tanach, die jüdische Bibel, enthält nicht viele Stellen, die sich mit den „Gojim“ emphatisch befassen: in der Regel sind die Fremdvölker entweder gleichgültig oder (potentielle) Feinde. Wie können wir damit umgehen?

Vielleicht, und das ist meine Lesart, geht es hier um Stadien der Verwirklichung der Beziehung Gottes zu den Menschen. In Genesis tritt JHWH als Sippengott auf, verbunden mit den Clans von Abraham, Isaak und Jakob. Sippengötter hatten auch andere Clans. In Exodus und den nachfolgenden Büchern übernimmt Gott Verantwortung für ein Volk ‑‑ für das Volk Israel. Er befreit, stützt und rettet dieses Volk, durchaus im Gegensatz zu den umliegenden Völkern, den Ägyptern, Midianitern, Kanaanitern. Aber auch diese hatten ihre Götter. Die alten Schriften legen ihre ganze Kraft in die Forderung, dass die Hebräer diese anderen Götter nicht verehren dürfen. Sie sagen nicht, dass diese Götter nicht existieren. Das geschieht erst noch später. Gott wird dann als Schöpfer nicht nur der Menschen, sondern des ganzen Kosmos gesehen, und als einzige göttliche Kraft. Andere Götter zu verehren ist nicht länger nur ein todeswürdiger Treuebruch, sondern darüber hinaus auch eine Dummheit, weil es diese Götter gar nicht gibt. 

Aber wie passt denn konsequenter Monotheismus zur Stellung JHWHs als Gott des Volkes Israel? Gar nicht, es sei denn, man argumentiert, dass Gott mit dem erwählten Volk etwas beginnt, das er mit anderen fortsetzt und zu Ende führt. In der Tat findet sich diese Figur bei den Propheten — Jesaia, Jeremia, Hesekiel, Joel. Paulus entwickelt sie im Römerbrief zu Ende und wendet sie spezifisch auf die Christen an – sein eigenes Volk nun eben, wie auch die Juden sein Volk sind und bleiben.

Gott, der universale Schöpfergott, ist also in Christus der Gott potentiell aller Menschen. Soweit sie seine Gnade empfangen — das liegt in seinem Ratschluss — und soweit sie diese Gnade annehmen — das liegt in der Entscheidung des Einzelnen. Vielleicht besteht die Gnade auch einfach darin, glauben zu können. 

Die drei Stufen, Sippengott, nationaler Gott und universeller Gott, sind Stadien für uns, die wir in der Zeit leben. Für Gott ist immer alles gleichzeitig. Er ist Gott einzelner Individuen, Gruppen und Nationen wie auch der Herr des Universums. Das heißt: Man kann sich betend an jemanden wenden, der den subatomaren Bereich ebenso kontrolliert wie die Anfangsbedingungen des Urknalls. Das ist ganz und gar nicht intuitiv. Um diese Gleichzeitigkeit zu verstehen, müssen wir tatsächlich in Stadien denken, in denen sich eines über das andere wölbt. Tanach und Neues Testament gehen diesen Weg mit uns. 

Die Spannung zwischen der Erwählung der Juden als Volk und der Erwählung der Glaubenden als Personen verschwindet damit nicht, auch für Paulus nicht, denn die beiden Pole sind nicht nur analytische Konstrukte, „Stadien“, sondern Hoffnungen und Ansprüche realer Menschen. Aber man kann diese Spannung in innerer Ruhe aushalten, wenn man es denn will.

Ich wünsche uns eine gute Woche, in der wir uns freuen mit seinem Volk!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 09/2020

Wandelt weise gegen die, die draußen sind, und kauft die Zeit aus.
Kol 4,5

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Drinnen und draußen

Der Kolosserbrief ist ein Lehrschreiben des Paulus. Er handelt in erster Linie vom „Drinnen“ — wie soll man als Christ die Rettung, die Erlösung annehmen, wie sich stellen zu seinen Mitmenschen. Der Kern ist ein Bild: wir sind mit Christus gestorben und neu geboren. Gestorben der Welt und ihren Prioritäten, ihren Werten, ihren Kämpfen, Eifersüchteleien, ihrer Unreinheit und ihren Affekten; Zorn, Grimm, boshafte Worte. Neu geboren zu Christus hin und damit hin zur Fülle Gottes sind wir nicht mehr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie. Die alten Unterscheidungen werden unwichtig, und auch die überlieferten kultischen Vorschriften. Der Begriff fällt nicht, aber es geht um das Reich Gottes, das mit Christus und in uns bereits begonnen hat. Die folgende Stelle, Kol 3,12-16, sagt, wie wir uns „drinnen“ verhalten sollen:

So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut und Geduld; und ertrage einer den anderen und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Christi, zu dem ihr berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen und seid dankbar. Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. 

Wow! Wem das gelingt, gemeinsam mit anderen, dessen Leben ist gelungen! Auch der letzte Satz spricht mich persönlich sehr an. Aber da ist es doch immer noch, das „Draußen“, das wir eigentlich hinter uns gelassen haben, das doch eigentlich unwichtig ist — „Maya“ hätte Gautama Buddha es vielleicht genannt. Ich denke an mein Büro und all die Menschen, mit denen ich dort zu tun habe, und ich sehe, dass das Draußen fortbesteht mit seinen Forderungen. Es konditioniert unser Leben, auch unser Glaubensleben. Konsistent wäre es vielleicht, sich zurückzuziehen, dem Draußen so wenig Gewicht wie möglich zu geben, etwa Eremit zu werden oder Mitglied einer geistlichen Gemeinschaft, die sich abschottet. Das gibt es in der Tat. Manche Gemeinschaften verbinden es mit Gleichgültigkeit, Geringschätzigkeit und abweisendem Verhalten.

Mit dem Bibelvers dieser Woche weist Paulus uns an, genau dies nicht zu tun. Wir sollen uns weise gegenüber denen verhalten, die draußen sind. Das bedeutet zunächst einmal, dass wir sie wahrnehmen sollen und uns auf sie einlassen. Sicherlich nicht bedingungslos, das wäre nicht weise, aber ebenso wenig sollen uns bedingungslos abgrenzen. Interaktion ist gefordert. Wir sollen die Zeit „auskaufen“, also gut nutzen und nicht teilnahmelos den Dingen ihren Lauf lassen. Der darauffolgende Vers 6 verdeutlicht: Eure Rede sei allezeit wohlklingend und mit Salz gewürzt, dass ihr wisst, wie ihr einem jeden antworten sollt

Paulus fordert, dass wir uns ernsthaft um die anderen bemühen sollen, dass wir kommunikativ sind, gewinnend, nicht abweisend, auch dann nicht hochmütig sind, wenn wir uns einbilden, Grund dazu zu haben. Dabei geht es hier gar nicht um Mission. Es geht darum, wie wir uns gegen unsere Mitmenschen stellen, „drinnen“ und „draußen“. 

Der Vers ist aktuell. Vor hundertfünfzig Jahren hätte man darüber nachdenken müssen, wer denn eigentlich gemeint sei mit „denen, die draußen sind“ — die Sozialisten, die Heiden in den Kolonien, Trunkenbolde vielleicht? Heute nicht mehr. Wie zu Paulus‘ Zeit ist der größte Teil unserer Umwelt „draußen“. 

Also: wir sollen eine Welt ernst nehmen, von der wir wissen, dass sie unwichtig ist!? Ja. Das Reich Gottes ist angebrochen und es ist unter uns, aber die alte Welt besteht fort. Wie Jesus im Reich Gottes lebte und zugleich in unserer Welt und endlich die Grenze gegenstandslos machte, so sollen wir es auch tun. Dem Kaiser geben, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist. Das geht nicht — aber anders geht es nicht…!

Lasst uns, in dieser Woche und darüber hinaus, mit Freude und mit Gottes Segen in beiden Welten leben, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 08/2020

Und er kam gen Jerusalem im fünften Monat, nämlich des siebenten Jahres des Königs.
Esr 7,8

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Jahr und Tag

Manchmal ist ein Ereignis so wichtig, dass Menschen sich seiner versichern müssen. Jahr und Tag oder auch der Ort eines Sieges, einer Gründung oder einer Katastrophe werden dokumentiert, mit Urkunden, Feiertagen, Denkmälern. 

In Abschnitt 7 des Buchs Esra geschieht das nicht weniger als dreimal hintereinander. Der Schriftgelehrte Esra ist auf seiner Reise von Babylon nach Jerusalem dort angekommen. Vers 7 gibt das Jahr der Reise an, Vers 8 — unser Bibelvers der Woche — gibt Jahr und Monat an, und Vers 9 noch einmal Jahr, Monat und Tag der Ankunft. Die Tatsache dieser Reise wird in den Versen vorher bereits zweimal bekräftigt, in Zusammenhang mit dem Stammbaum Esras und seinem königlichen Auftrag.

Ganz gewiss ist es geschehen: Wir kennen Name, Stammbaum und Auftrag des Mannes, und Jahr, Monat und Tag seiner Ankunft in Jerusalem! Es ist eigentümlich: unser Vers ist, auch formal, das Gegenstück eines anderen BdW vor zwei Jahren, 2018 KW 11, erinnern Sie sich?

Am zehnten Tage des fünften Monats, welches ist das neunzehnte Jahr Nebukadnezars, des Königs zu Babel, kam Nebusaradan, der Hauptmann der Trabanten, der stets um den König zu Babel war, gen Jerusalem…
Jer 52,12, wortgleich in 2. Kö 25,8

Nebusadaran kam aus Babylon, um den Tempel zu zerstören. Nun kommt Esra auf demselben Weg, um den Dienst im zweiten Tempel einzurichten und den Glauben neu zu institutionalisieren. Das Rad der Mühle dreht sich wieder. Aber es ist eine neue Mühle, mit anderen Müllern darin.

Das Buch Esra und das Buch Nehemia erzählen von der Rückkehr wichtiger Teile des Volks Israel aus dem babylonischen Exil, rund siebzig Jahre nach ihrer Verschleppung. Das entspricht etwa der Zeit, die bis heute seit der Bombardierung Dresdens und der Vertreibung der Deutschen aus Schlesien und Böhmen vergangen sind. Und die Hebräer hatten es in ihrer neuen Umgebung nicht schlecht getroffen, den Klageliedern in den Psalmen zum Trotz. Sie waren von der Peripherie ins Zentrum gekommen, ein wenig so, ob heute jemand aus Mittelamerika oder Südosteuropa nach Palo Alto in Kalifornien kommt. Viele von ihnen stiegen in die Führungsschicht auf, erst des babylonischen Reichs, dann der persischen Macht. Jüdische Gelehrsamkeit blühte, wichtige redaktionelle Arbeiten an den Schriften setzten ein, eine neue Theologie entstand. Viele wanderten nicht zurück. Babylon blieb ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit bis weit ins erste Jahrtausend nach Christus. Die wichtigere der beiden Fassungen des Talmuds wurde dort erstellt. 

Warum eigentlich zurückkehren in die Trümmerwelt der Vorfahren? Mit wenigen Ausnahmen waren die Rückkehrer in Babylon geboren, nicht in Palästina. Und keiner dort wartete auf sie. Wie viele Deutsche sind nach Schlesien zurückgekehrt, als dies möglich wurde? In den beiden Büchern wird die erste Zeit aus der Perspektive zweier wichtiger Protagonisten beschrieben, des jüdischen Statthalters Nehemia und des Hohepriesters Esra. Die Rückwanderung verlief in Wellen, und es war anfangs nicht klar, wer eigentlich „dazu“ gehörte und wer nicht. Wichtige äußere Bezugspunkte waren der Neubau des Tempels und der Stadtmauer, in Wahrheit aber musste eine ganze Gesellschaft neu aufgebaut werden. Diesen Vorgang leitet Esra ein. Der BdW sagt uns, dass es wirklich geschehen ist — ab dem fünften Monat im siebten Jahr des Königs. Und zweieinhalbtausend Jahre später sollten die Juden es wiederholen…

Die Rückkehr wird in Esra und Nehemia erzählt wie ein zweiter Exodus. Wenn wir uns auf das besinnen, was eigentlich zu uns gehört und es zurückholen in unser Leben, dann kann das Mut erfordern, als ginge es um Neuland. Einen Grund hat es für die Trennung ja immer gegeben. Den Mut zur Rückkehr kann Gott geben. 

Am Samstag, als ich dies schrieb, kreiste eine Gruppe Kraniche laut rufend in der Thermik über unserer Siedlung in Praunheim und flog dann weiter nach Nordosten. 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 07/2020

Denn diese Nacht ist bei mir gestanden der Engel Gottes, des ich bin und dem ich diene,…
Apg 27,23

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017

Orkan, Glaube und Hoffnung

Auf unserer stochastischen Reise durch die Bibel begegnen wir manchen Gestalten immer wieder, so dass sich allmählich ihre Geschichte zusammensetzt. Im BdW 2019 KW 20 haben wir Paulus kurz vor seinem großen Ziel getroffen: Jerusalem. Er wollte dort vermitteln und integrieren, es war aber schon absehbar, dass es böse enden würde. In der Tat: Er wird verklagt und mit dem Tod bedroht. Als es unübersichtlich wird, zieht er den Joker und beruft sich — als römischer Staatsbürger — auf sein Recht, an den Kaiser zu appellieren. Das enthebt ihn der lokalen Justiz: seine Sache muss in Rom verhandelt werden. 

Er ist noch einmal davongekommen. Aber nun beginnt ein weiteres Abenteuer, denn seine Fahrt in Gefangenschaft nach Rom wird mühsam und gefährlich. Schließlich wollen seine Mitreisenden verzweifeln, darunter sowohl Glaubensgenossen wie auch römische Wachleute. Ein tagelang wütender Sturm hat das Schiff steuerlos gemacht. Die Mannschaft wirft alles Schiffsgerät über Bord und versucht dann, sich auf dem Beiboot abzusetzen, was die Soldaten gerade noch verhindern. Mitten im Sturm träumt Paulus – hier ist unser Vers: 

Doch nun ermahne ich euch: Seid unverzagt; denn keiner von euch wird umkommen, nur das Schiff wird untergehen. Denn diese Nacht trat zu mir der Engel des Gottes, dem ich gehöre und dem ich diene, und sprach: Fürchte dich nicht, Paulus, du musst vor den Kaiser gestellt werden; und siehe, Gott hat dir geschenkt alle, die mit dir fahren. 

Und so geschieht es: das Schiff bohrt sich in den Strand der Insel Malta und zerbricht, aber alle Reisenden werden gerettet.

Geradezu tagesaktuell, dieser Vers, angesichts des Orkantiefs gestern Nacht… Viel kann einem da einfallen: die Träumer Josef und Daniel, die ihr Glaube aus Not und Gefangenschaft rettet. Aber auch Jesus auf dem See Genezareth, der den Sturm beinahe verschläft und von seinen Jüngern geweckt wird. Jonas, der Schiffbrüchige im Bauch des Wals. Paulus glaubt an seinen Weg, immer, und an den Schutz des Herrn, dem er gehört, und dem er dient, auch wenn dieser Weg ihn vor ein Gericht führt. Paulus fühlt sich behütet und beschirmt. Auch sehr viel später noch, in seiner Todeszelle: siehe den BdW 49/2018

Noch etwas fällt mir ein: das Engellied von Rabbi Shlomo Carlebach. Er hat es als Nachtlied für seine Tochter geschrieben. Hier ein Link zum Lied, und unten der Text und meine Übersetzung:

Im Namen des Herrn, des Gottes Israels: Michael ist zu meiner Rechten, Gabriel zu meiner Linken, Uriel ist vor mir und Rafael hinter mir, und über meinem Kopf, über meinem Kopf, ist Gottes Gegenwart!בְּשֵׁם הַשֵּׁם אֱלֹהֵי יִשְׂרָאֵל, מִימִינִי מִיכָאֵל, וּמִשְּׂמֹאלִי גַּבְרִיאֵל, וּמִלְּפָנַי אוּרִיאֵל, וּמֵאֲחוֹרַי רְפָאֵל, וְעַל רֹאשִׁי וְעַל רֹאשִׁי שְׁכִינַת אֵל
Bashem Hashem, Shlomo Carlebach

Rundum beschirmt. So wünsche ich es uns für diese Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 06/2020

Da sprach Mose zu Aaron und seinen Söhnen Eleasar und Ithamar: Ihr sollt eure Häupter nicht entblößen noch eure Kleider zerreißen, dass ihr nicht sterbet und der Zorn über die ganze Gemeinde komme. Lasst eure Brüder, das ganze Haus Israel, weinen über diesen Brand, den der HErr getan hat.
Lev 10,6

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Schuld und Sühne

Die Opfergesetze sind gerade gegeben, die ersten Opfer in der Stiftshütte der Vorschrift gemäß ausgeführt und angenommen worden, da laufen Nadab und Abihus nach vorn, zwei Söhne Aarons, des ersten Hohenpriesters und Bruders von Mose. Die jungen Priester gehören zu den ganz wenigen, die sich Gottes Stätte nähern dürfen. Sie halten sich aber an die neuen Regeln nicht: Vermutlich betrunken (Lev 10,9) bringen sie ein Räucheropfer dar, zum falschen Zeitpunkt, zu zweit statt einzeln und mit Feuer vom heimischen Herd statt vom Altar. Da geschieht es: ein Feuer geht aus vom Herrn und „verzehrt sie“, gerade so wie im Abschnitt vorher das Opfer angenommen wurde.

Mose ist vollkommen hermetisch. Er sagt seinem Bruder Aaron, dass mit der besonderen Nähe zu Gott besondere Pflichten einhergehen, dass sich Gott heilig zeigen kann auch gegen seine Diener, wenn diese ihre Pflichten nicht erfüllen, so jedenfalls verstehe ich Vers 3. Und in Vers 6, dem gezogenen Vers, verlangt er von seinem Bruder, der schweigend dasteht und es nicht fassen kann, dass er und die verbliebenen Söhne Eleasar und Itamar auf die üblichen Trauerrituale gänzlich verzichten sollen, da sie im Dienste des Herrn stehen. Weil Trauer als Bekundung von Missfallen gedeutet werden könnte? An Aarons Stelle soll das Volk um Nadab und Abihus trauern.

Es fällt mir schwer, über diesen Abschnitt zu schreiben, und ich war versucht, ihn unkommentiert zu lassen. Ich weiß nicht, ob richtig ist, was ich schreibe.

Es geht hier konkret um das Verhalten derjenigen, die stellvertretend für das Volk Gottes sich ihrem Gott nahen durften, für die Handlung allergrößter Intimität, dem Opfer. Das Heilige, Gott zugehörige, musste streng vom Unheiligem geschieden bleiben. Im Judentum unterscheidet man zwischen Geboten, die Verhältnis zwischen Menschen und Gott regeln und solchen, die das Verhältnis der Menschen untereinander betreffe. In der Thora ist die erste Gattung die wichtigere. Eine beachtenswerte jüdische Interpretation des Neuen Testaments besagt, dass Jesus, ohne die Gebote zu ändern, die Reihenfolge ihrer Wertigkeit vertauscht habe.

Ein Gesetz wurde gegeben und mutwillig und für alle sichtbar gebrochen. Die Strafe erfolgt sofort und mit maximaler Härte. Was Gott hier tut, entspricht nicht den Bildern, die wir uns machen, um die Präsenz einer unendlichen Macht in unserer Nähe ertragen zu können. Es ist nicht väterlich — man muss es sich versuchsweise als Handlung eines realen Vaters vorstellen. Es ist auch nicht gütig, barmherzig, gnädig, geduldig (2. Mose 34,5). 

Vor einiger Zeit habe ich ein Video gesehen. Marshall B. Rosenberg, der Schöpfer des Konzepts der gewaltfreien Kommunikation, sprach darüber, wie gewalttätige Sprache entstanden ist. Vor viertausend Jahren, sagt er, entwickelten Menschen in Palästina die Vorstellung, dass Fehlverhalten „Schuld“ bedeute, die von Gott gesühnt werde. Damit, sagt er, ist es buchstäblich lebensgefährlich, an irgendetwas „schuld“ zu sein, und Menschen werden alles tun, Schuld von sich selbst abzuwälzen und beim anderen zu suchen. Ich habe seither oft beobachten können, wie real die Angst ist, mit der das geschieht. Vielleicht dachte Rosenberg auch an diese Bibelstelle? 

In der Bibel, zumal im Alten Testament, ist oft die Rede davon, dass Gott eine strafende Handlung bereut oder bereuen könnte. Im Zusammenhang mit einem allmächtigen und allwissenden Gott ist das eigentlich eine sonderbare Vorstellung, aber ich halte sie für wichtig. So etwas muss es geben, wenn Gebete helfen können, wenn das Gespräch mit Gott etwas bewirkt. Ich frage mich nun: Hat es Gott gereut, was damals geschah? 

Die Bibel gibt darauf keine direkte Antwort, aber vielleicht einen Hinweis. Am Ende des Abschnitts erstarrt die Szene vollkommen. Mose macht Aaron Vorhaltungen, er habe das Opferfleisch entgegen der Vorschrift nicht gegessen und hält einen Vortrag über die Kategorien, um die es dabei geht. Aaron antwortet, es habe ein Sündopfer und ein Brandopfer gegeben, und nun sei geschehen, was geschehen sei — wie habe er nun von den Opfern essen können? Nun schweigt auch Mose, der Text vermerkt dies ausdrücklich. Aarons Söhne sind ja zu Sündopfern geworden.

Die Szene endet in völliger Hilflosigkeit. Sie erinnert jedoch assoziativ an den Opfertod Jesu, das ganz große Bild in der Bibel, das wir immer noch nicht in Gänze verstehen. Ich bewege mich auf schwierigem Grund: können wir den Tod des Sohns so lesen, dass Gott selbst ein Opfer bringen wollte? 

Die Gnade des Herrn sei mit uns in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 05/2020

Und da Husai hinein zu Absalom kam, sprach Absalom zu ihm: Solches hat Ahithophel geredet; sage du, sollen wir’s tun oder nicht?
2. Sam 17,6

Der Vers ist uneingeschränkt zufällig gezogen aus der Lutherbibel 1912. Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Wahrheit und alternative Wahrheit

In unserem Vers steht ein richtiger Rat einem falschen gegenüber, einem Rat, der den Untergang des Beratenen bezweckt. Nun muss der Herrscher richtig von falsch unterscheiden können — sein Leben hängt davon ab. 

Es herrscht Bürgerkrieg. Absalom hat sich gegen seinen Vater David aufgelehnt. Das Volk ist mit dem jungen und strahlenden Absalom, und David verlässt die Stadt Jerusalem, bevor es zu spät ist. Mit einem Gefolge treuer Anhänger lagert er am Rand der Wüste, demoralisiert, aber noch nicht geschlagen.

Guter Rat gilt überall in der Bibel als kriegsentscheidend, und mit Ahitofel hatte Absalom als Berater eine wahre Wunderwaffe von David abgezogen. Von ihm wird gesagt: „Wenn damals Ahitofel einen Rat gab, dann war das so, als wenn man Gott zu etwas befragt hätte, so viel galten Ahitofels Ratschläge bei David und bei Absalom. 

Als David hört, dass Ahitofel übergelaufen war, betet er „Herr, mach Ahitofels Rat zu Torheit.“ Und er bittet einen anderen Berater, seinen Freund Huschai, gleichfalls nach Jerusalem zurückzukehren und seine Dienste dem Sohn anzubieten. Er soll den Ratschlag Ahitofels zunichte zu machen. Und tatsächlich: Absalom nimmt beide Männer Davids in seinen Dienst.

Und schnell stehen sich zwei Wahrheiten zweier Berater gegenüber. Ahitofel rät, die Schwäche Davids auszunutzen und diesen mit allem, was unmittelbar verfügbar ist, sofort zu verfolgen, zwölftausend Mann immerhin. Absalom findet den Ratschlag gut. Er beschließt aber, auch Huschai zu befragen. Der rät zum Gegenteil. Eine rasche Reaktion aus dem Stand, sagt er, könne Verluste bedeuten, und in der unübersichtlichen Gemengelage des Bürgerkriegs kann schnell das Gerücht entstehen, Absalom hätte eine entscheidende Niederlage erlitten. David habe eine ungeheure Reputation als Kämpfer, die Absalom schnell gefährlich werden könne. Daher soll er den nächsten Schritt gut vorbereiten und den Schlag erst dann führen, wenn seine Übermacht erdrückend ist. 

Beides klingt begründet. Ahitofel argumentiert mit der Demoralisierung Davids und seiner Truppe, er weist auf eine Chance hin. Huschai stellt das Risiko in den Vordergrund, er warnt vor der Kämpfernatur Davids und seinem gewaltigen Ruf, die einen kleinen Fehler zum Verhängnis machen können. Der Leser weiß, dass Huschai ein Agent Davids ist, Absalom weiß es nicht.

Und er wählt falsch. In diesem Moment verliert er den Krieg und sein Leben. David wird über die Entscheidung informiert und reagiert rasch. Er zieht sich in die Wüste zurück, die er so gut kennt, und ordnet seine Kräfte neu. Wenig später kann er seinen Sohn vernichtend konfrontieren. 

Über Ahitofel wird noch folgendes berichtet: „Als aber Ahitofel sah, dass sein Rat nicht ausgeführt wurde, sattelte er seinen Esel, machte sich auf und zog heim in seine Stadt, und bestellte sein Haus, und erhängte sich und starb und wurde begraben in seines Vaters Grab.“ 

Wie hätte Absalom richtig wählen können? In der Bibel gilt die Fähigkeit, richtig und falsch unterscheiden zu können, als Gabe Gottes. Gott stand hier auf Seiten Davids. Viel später geschieht etwas Vergleichbares, wieder in Jerusalem, als König Zedekia eine folgenreiche strategische Entscheidung treffen muss, siehe BdW 2019 KW 31. Der Prophet Jeremia spricht wahr, aber Zedekia kann es nicht erkennen und soll es auch gar nicht. 

Im Vers sind richtig und falsch verschiedene Interpretationen derselben Wirklichkeit. Manchmal stehen solche Interpretationen vor uns wie Zwillinge, und wenn wir uns entscheiden, teilt sich die Welt. Der Herr kann uns das richtige fühlen lassen. Er schütze uns vor Verblendung in dieser Woche,

Ulf von Kalckreuth