Bibelvers der Woche 38/2020

Da aber Saneballat und Tobia und die Araber und Ammoniter und Asdoditer hörten, daß die Mauern zu Jerusalem zugemacht wurden und daß sie die Lücken hatten angefangen zu verschließen, wurden sie sehr zornig.
Neh 4,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Die Stadtmauer Jerusalems — Jerusalem Museum, Januar 2020

Tobe, Welt und springe…!

Die Geschichte einer Heilung. Jerusalem, die entvölkerte und unter den Babyloniern ihrer Elite beraubte Stadt, deren Mauern zerstört und deren Tempel Gottes vernichtet war, füllt sich wieder mit Leben. Unter dem persischen Herrscher Kyros durften die Nachkommen der Exilierten wieder in die einstige Hauptstadt des judäischen Reichs zurückkehren. Mit dem Hohepriester Esra und dem Statthalter Nehemia begann, nach geraumer Zeit, die Konsolidierung und das nation building — aus den Nachkommen der Judäer wurden Juden. Nach diesen Männern sind zwei Bücher der Bibel benannt, die ursprünglich gemeinsam Teile einer einzigen Schrift waren. 

Das große Thema bei Nehemia ist die Stadtmauer. Im Altertum war eine Stadt ohne Mauer schlicht keine Stadt — jeder, der eine Anzahl Bewaffneter aufbrachte, konnte sie berauben, schädigen und zu Zahlungen pressen. Die Mauer war die Haut der Stadt, ihre Identität, sie unterschied und trennte Innen von Aussen. Hundertvierzig Jahre nach der Eroberung durch die Babylonier war die alte Mauer ein vielfach durchlöcherter, schründiger Trümmerhaufen ohne alle Tore. Eine ergreifende Szene am Anfang des Buchs beschreibt, wie Nehemia nachts heimlich, ohne Begleitung, die Mauer entlang reitet, um sich ein Bild von seiner Aufgabe zu machen. 

Und er stellt sich dieser Aufgabe, unbeirrbar, Schritt für Schritt. Und immer dabei — als Kommentatoren, Spötter, Intriganten und schließlich militärische Gegner sind drei Gegenspieler: Sanbalat, der Horoniter, Tobija, der Ammoniter und Geschem, der Araber. Sie stehen für Fremdvölker, die sich in in den letzten hundertvierzig Jahren im judäischen Land festgesetzt hatten und der Befestigung der Stadt naturgemäß feindlich gesinnt sein mussten. 

Die Mauer heilt und die drei Feindfiguren spiegeln das Geschehen. Die Bewertung der Vorgänge wird im Text nicht durch jubelnde Einwohner Jerusalems verankert, sondern durch die mit dem Fortschreiten des Projekts immer schärfere, ja schließlich panische Reaktion der drei Gegner. Wie bei einem fotografischen Negativ. Das verschafft dem Text Authentizität. Schließlich soll die langsam sich schließende Mauer gegen Feinde schützen, und es wäre kein gutes Zeichen, wenn der Bau diese gleichgültig ließe. 

Im Anschluß an den gezogenen Vers beschließen die drei Feindgestalten, militärisch einzugreifen. Nehemia und die Seinen werden gewarnt und füllen die vielfach noch bestehenden Lücken der Mauer mit Kämpfern aus Fleisch und Blut. Die Fortsetzung des Mauerbaus geschieht dann mit der Waffe in der Hand — die Arbeiter sind jederzeit bereit, sich umstandslos in eine Armee zu verwandeln. Es fällt schwer, dabei nicht an die ersten Jahrzehnte des modernen Israel zu denken. 

Die drei Feindfiguren als kontrastierende Perspektive in der Ich-Erzählung Nehemias sind sehr wirkungsvoll. Ähnliches findet sich auch in den Psalmen. In der christlichen Kirche werden von alters her Hölle und Teufel so eingesetzt. Ihre Macht, ihre Abwehr und die mit ihnen verbundene Bedrohung erweisen im Umkehrschluss die Größe des Erlösungswerks Jesu Christi. Die Strophen 2 und 3 des Chorals „Jesus meine Freude“ lauten:

Unter deinem Schirmen
Bin ich vor den Stürmen
Aller Feinde frei.
Laß den Satan wittern,
Laß den Feind erbittern,
Mir steht Jesus bei.
Ob es itzt gleich kracht und blitzt,
Ob gleich Sünd und Hölle schrecken:
Jesus will mich decken.

Trotz dem alten Drachen,
Trotz des Todes Rachen,
Trotz der Furcht darzu!
Tobe, Welt, und springe,
Ich steh hier und singe
In gar sichrer Ruh.
Gottes Macht hält mich in acht;
Erd und Abgrund muss verstummen,
Ob sie noch so brummen.

Wer das liest und singt, kann Sanbalat, Tobija und Geschem vor sich stehen sehen… machtlos!

Eine gesegnete Woche wünsche ich uns, ohne alle bösen Feinde,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 37/2020

Die Stolzen müssen beraubt werden und entschlafen, und alle Krieger müssen die Hand lassen sinken.
Ps 76,6

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Richten

in der vergangenen Woche die Apokalypse, in dieser Woche das Gericht. Eine Gelegenheit, die Beziehung beider zu betrachten, es lohnt sich. Die Verse 5-10 lauten in moderner Übersetzung:

Du bist herrlicher und mächtiger
als die ewigen Berge.
Beraubt sind die Stolzen und in Schlaf gesunken,
und allen Kriegern versagen die Hände.
Von deinem Schelten, Gott Jakobs,
sinken in Schlaf Ross und Wagen.
Furchtbar bist du!
Wer kann vor dir bestehen, wenn du zürnest?
Wenn du das Urteil lässest hören vom Himmel,
so erschrickt das Erdreich und wird still,
wenn Gott sich aufmacht zu richten,
dass er helfe allen Elenden auf Erden.

Gott ist hier die Macht, vor der alles andere nichtig wird. Die Stolzen und Starken schlafen ein, die Hände ihrer Kriegsleute sind gelähmt. Die Übersetzung „entschlafen“ von 1912 ist für heutige Leser mißverständlich, die Starken sterben nicht, sie werden schlicht belanglos. Der gezogene Vers ist ein Kern des Psalms, er wird am Ende des Psalms noch einmal aufgenommen: „der den Fürsten den Mut nimmt und furchtbar ist für die Könige auf Erden“.

Die Hierarchien, Ergebnis des Spiels der Kräfte auf Erden, sie müssen versinken. Gott setzt seine Ordnung durch. Es ist eine Ordnung für die Elenden auf Erden, nicht für die Mächtigen. Gott richtet in diesem Psalm, er macht die Welt recht. Warum ist die Vorstellung so erschreckend, fremdartig fast? Ein allmächtiges Wesen macht von seiner Allmacht Gebrauch — was ist merkwürdig daran?

Wir haben uns an die Vorstellung gewöhnt, dass das Gericht ausbleibt, zu unseren Lebzeiten jedenfalls, dass es von unserem Leben klinisch sauber abgetrennt ist als ein „Jüngstes Gericht“ in einer anderen Welt. Das hat mit der Welt der Psalmen nichts zu tun. Dort wird von Gott erwartet, dass er Recht schaffe, offen sichtbar im Hier und Jetzt, und eine ganze Reihe von Psalmgebeten kreist um die Frage, wie denn damit umzugehen sei, wenn es nicht sofort geschieht und die Bösen scheinbar triumphieren.

Ich bin daran gewöhnt, in Gott den Anker für ein erfülltes Leben zu sehen, obwohl dieses Leben dem Tod geweiht ist. Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohlmachen (Ps 37). Warum nicht auch im Großen? Warum sollte er nicht auch Gemeinschaften, Staaten, die Menschheit „recht machen“? Wer wollte ihn daran hindern? Wir? Wenn ich den Vers dieser Woche richtig lese, sagt er schlicht, dass uns das nicht gelingen wird.

Gott kehrt das Oberste zuunterst, das ist ein Leitmotiv der Bibel, siehe Woche 38/2019. Das Leben mit Gott wird dann spannend, wenn wir etwas von ihm erwarten: Heil, Leitung, Gerechtigkeit, Liebe… und dabei riskieren, enttäuscht zu werden. Was geschieht mit einer Liebe, wenn man vom Anderen nichts erwartet? Wer nichts von Gott erwartet, wird auch nichts sehen, nicht vor dem Tode und auch nicht danach.

Es gibt eine jüdische Legende, derzufolge in der Welt stets 36 Gerechte leben müssen, irgendwo und unerkannt, damit die Welt weiterbestehen kann. Vielleicht muß Glaube in der Gemeinschaft verwurzelt sein, damit Gott das Schicksal der Gemeinschaft „richtet“, so wie Gottes Wirken beim Einzelnen auf dem Glauben des Einzelnen baut? Anders gefragt: Wenn eine nennenswerte Zahl von Menschen Gottes Richten erwartet — sehen dann die Lösungen, die wir finden, nicht von vornherein ganz anders aus? Wir brauchen die Vorstellung, dass es ein Richtig gibt und ein Falsch, und es einen Unterschied macht, was wir tun.

Verweilen wir doch ein wenig bei dem Gedanken an den Herrn, „der Pfeile und Bogen zerbricht“, und „herrlicher und mächtiger als die ewigen Berge“ ist, der unser Leben richtet und das Leben aller, und es nicht anonymen Notwendigkeiten überlässt und anheimgibt. Dieser Gedanke gibt Kraft. Und je mehr Wahrheit wir ihm geben, umso wahrhaftiger und kraftvoller wird er, im Hier und Jetzt. 

Eine gesegnete Woche wünsche ich uns allen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 36/2020

…, der niemand beschädigt, der dem Schuldner sein Pfand wiedergibt, der niemand etwas mit Gewalt nimmt, der dem Hungrigen sein Brot mitteilt und den Nackten kleidet,…
Hes 18,7

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Umkehr und rechtes Leben

Wieder Ezechiel/Hesekiel. Der Vers liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Vers der Woche 7/2018 — so nahe, dass die Betrachtung dazu gut auf den Vers dieser Woche passt, ich erlaube mir daher einen Verweis. 

Dem Propheten geht es um den Zusammenhang von Tun und Ergehen. Die überkommene Auffassung, gestützt durch Ex 34, 6+7 sieht diesen Zusammenhang eher locker: Sünden werden bestraft und gutes Verhalten belohnt, aber nicht notwendigerweise im Leben des Individuums selbst, sondern erst bei den Kindern und Kindeskindern. Großes Unglück ist immer die Folge von Sünde, aber es können auch die Sünden der Vorväter sein. Das kann zu Fatalismus führen — das von den Vorvätern verschuldete Unglück lässt sich ja nicht wenden und die Früchte einer möglichen Umkehr wird nicht der Umkehrende ernten, sondern vielleicht erst die Kindeskinder. 

Aber das ist Gift. Hesekiel kommt es auf Umkehr an. Er schreibt in einer Zeit der Krise: Das Volk und die einzelnen Menschen, die dazugehören, haben sich durch Gottesferne und Egoismus in eine verzweifelte Lage gebracht. Sie haben ihre Heimat verloren — sie leben im Exil, von den babylonischen Eroberern an einem fremden Ort angesiedelt. Der Text ist ein Weckruf: Die Folgen eures Verhaltens treffen euch unmittelbar: die positiven wie die negativen. An eurer Lage seid ihr selbst schuld, und ihr könnt es auch selbst wenden. Wenn ihr umkehrt, wird Gott sich euch zuwenden, in eurem eigenen Leben. Das klingt so gar nicht orientalisch, es klingt beinahe amerikanisch. 

Der gezogene Vers steht in der beispielhaften Beschreibung eines gerechten Menschen:

Wenn nun einer gerecht ist und Recht und Gerechtigkeit übt, der von den Höhenopfern nicht isst und seine Augen nicht aufhebt zu den Götzen des Hauses Israel, der seines Nächsten Frau nicht befleckt und nicht liegt bei einer Frau in ihrer Unreinheit, der niemand bedrückt, der dem Schuldner sein Pfand zurückgibt und niemand etwas mit Gewalt nimmt, der mit dem Hungrigen sein Brot teilt und den Nackten kleidet, der nicht auf Zinsen gibt und keinen Aufschlag nimmt, der seine Hand von Unrecht zurückhält und rechtes Urteil fällt unter den Leuten, der nach meinen Gesetzen lebt und meine Gebote hält, dass er treu danach tut: Das ist ein Gerechter, der soll das Leben behalten, spricht Gott der HERR (Hes 18, 5-9).

Und wenn sein Sohn es anders hält, wird er selbst die Folgen tragen und untergehen, und das beispielhafte Verhalten des Vaters wird ihm nicht helfen. Aber wenn der Sohn dieses Sohns lebt wie es recht ist, soll es ihm gut gehen, dem gewalttätigen und gottlosen Vater zum Trotz. Und wenn der gottlose Sohn selbst sich bekehrt, so kann er damit sein Schicksal wenden. Das gilt für den Einzelnen und — so meint es Hesekiel — auch für das Volk als ganzes. 

Unglaublich modern! Das Grundgesetz der westlichen Kultur. Yes, we can! Du selbst verantwortest dein Tun, und damit hast du dein Leben in der Hand. Es ist die Antithese zur orientalischen Auffassung vom Schicksal, und damit selbst ein wenig naiv, wie wir am Ende der Moderne wissen: Unser Ergehen ist (auch) von den Umständen geprägt, in die wir hineinwachsen, und die haben in der Tat einiges mit dem zu tun, wie unsere Väter gelebt haben, und viel auch mit dem, was in unserer unmittelbaren sozialen Umwelt geschieht. Manche Menschen haben manche Alternativen schlicht nicht. Aber das kann uns nicht aus unserer Verantwortung entlassen. 

Der Vers stößt uns noch auf etwas anderes. Hesekiel gibt eine anschauliche Beschreibung dessen, was rechtes (=“gerechtes“) Leben ist. Wenn man die Skizze liest, und auch das dazugehörige Kontrastbild des bösen Sohns im Anschluß, dann kann man es eigentlich recht gut vor sich sehen, das „rechte Leben“. Christen neigen dazu, Gottes Forderungen in einer Weise zu überhöhen, dass sie unerfüllbar scheinen, um sich dann mit dem Gedanken an Gottes Gnade, personifiziert durch Jesus Christus, zu beruhigen. Aber so ist es ganz sicher nicht gemeint. Mose sagt mit unübertroffener Klarheit:

Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust. (Dtn 30,11-14).

Wir bedürfen der Gnade, das ist sicher, aber vielleicht sollten wir auch einfach mal versuchen, ein rechtes Leben zu führen. Die Bibel gibt hierzu lebensnahe und praktischer Beispiele und mit den zehn Geboten klare Regeln. Hesekiels Katalog enthält einen Kern: Gottesfurcht, Rechtschaffenheit und Treue gegenüber den Mitmenschen, den Verzicht darauf, Notlagen anderer auszunutzen und das eigene Interesse über alle und alles zu stellen, sexuelle Integrität, tätige Nächstenliebe, Besonnenheit und eine Orientierung an Gottes Regeln, nicht den eigenen. 

Vieles davon ist sicher nicht unmöglich. Und wir selbst erhalten den Lohn: ein integres Leben, in dem wir selbst uns keine Fallen stellen und in dem der gute Wille, den wir unserer Umwelt entgegenbringen, auf uns zurückstrahlt. Und wo wir fehlen, wird Gottes Gnade uns über den Spalt tragen.  

Eine gesegnete Woche auf rechtem Wege wünsche ich uns allen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 35/2020

Und es wird geschehen zu der Zeit, wann Gog kommen wird über das Land Israel, spricht der Herr HErr, wird heraufziehen mein Zorn in meinem Grimm.
Hes 38,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Endkampf

Unser Vers ist aus der Apokalypse von Hesekiel / Ezechiel. Der Schluß des Buchs beschreibt das neue Jerusalem, den Tempel und den Dienst darin in der messianischen Zeit. Die vorangehenden Abschnitte 35-39 sind eine eher lockere Sammlung von Visionen zum Ende der alten Zeit und der Heraufkunft der neuen. Eine leibliche Auferstehung der Toten wird beschrieben und der Endkampf der dunklen Mächte gegen das erneuerte Israel unter Gottes Führung.

Gog ist Herr von Magog, eines mythisch-großen Reiches im Norden. In der Vision Hesekiels lockt Gott König Gog und seine Scharen ins Heilige Land, im Glauben, sie könnten das wiedererstandene Israel überfallen. Dort aber erwartet Gog und seine gewaltigen Heere die Vernichtung. Der Untergang der Heere Magogs wird ausdrucksstark beschrieben.  Der Vers zeigt den Moment, in dem der Vernichtungswille Gottes sich zu regen beginnt.

Es gibt Versuche, Magog mit realen Mächten der Zeit Hesekiels zu identifizieren, aber die Beschreibung der scheinbar unwiderstehlichen, aus vielen großen Völkern zusammengesetzten gewaltigen Streitmacht Gogs von Magog liest sich eher als Vergegenständlichung der dunklen Mächte dieser Welt, wie Saurons Scharen in Tolkiens „Herrn der Ringe und Darth Vaders Imperium im „Krieg der Sterne“. Die Parallelen sind nicht zufällig. Die faszinierende Welt Tolkiens ist deutlich durch christlich-jüdische Eschatologie geprägt — es gibt einen Gottesknecht und einen Messias — und George Lucas überträgt in seinem Film aus dem Jahr 1977 apokalyptische Vorstellungen aus der Bibel in eine massentaugliche Fantasiewelt aus Weltraum, Zen und Märchen. 

Apokalyptische Texte gibt es in der jüdischen Bibel — Hesekiel, Daniel, Micha und Sacharja — wie auch im Neuen Testament: in den Evangelien und in der Offenbarung des Johannes, siehe z.B. den Vers der Woche 5/2019. Sie beschreiben das Ende der alten Welt und den Übergang zu einer neuen, besseren. Der Übergang ist stets durch gewalttätige, vernichtende Auseinandersetzungen geprägt und meist durch einen Endkampf zwischen Gut und Böse.

Warum geht die Heraufkunft der Herrschaft Gottes in diesen Beschreibungen stets mit Krieg und Vernichtung einher? Die Zerstörung des Dunklen hat Zeichencharakter: „So will ich mich herrlich und heilig erweisen und mich zu erkennen geben vor vielen Völkern, dass sie erfahren, dass ich der Herr bin“, heisst es in Hes 38, 23. Das erinnert an die Plagen und die Vernichtung der ägyptischen Streitmacht beim Exodus. Der Endkampf liegt schlicht in der Logik dessen, was berichtet wird. Das Böse, so sehen es die Apokalyptiker, hat große Macht. Um es zu überwinden, muss es besiegt werden — ein Kampf muss sein. Die Härte dieses Kampfs ist kommensurabel mit der Macht, die dem Bösen zugeschrieben wird — wäre die Heraufkunft der messianischen Zeit so leicht wie der Regierungswechsel nach einer Bundestagswahl, könnte es nicht weit her sein mit der Macht des Bösen.

Aber da ist noch etwas. Apokalyptische Visionen sind unmittelbar überzeugend, weil sie eine enge Entsprechung zu einem Vorgang haben, den zwar keiner von uns erlebt hat, den aber jeder vor sich sieht: den eigenen Tod. Wie im Makrokosmos der Apokalyptiker steht für den Einzelnen der Untergang der Welt, wie er sie kennt, unverrückbar fest. Das Versagen einzelner Organe und der dadurch angestoßene Untergang des ganzen Systems mag in einzelnen Fällen Empfindungen hervorrufen, die den Stadien der Vernichtung in der Offenbarung verwandt sind. Und die Jenseitshoffnung des Einzelnen hat ihre Entsprechung in der Erlösungshoffnung für die Welt. Vielleicht ist beides gar dasselbe, übersetzt in eine andere Sprache. Schließlich besteht unsere große Welt aus den vielen Einzelwelten der Individuen, die geboren werden und sterben. 

Die vierte Strophe von „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ handelt vom Weg in und durch den individuellen Untergang:

Du höchster Tröster in aller Not,
hilf, dass wir nicht fürchten Schand noch Tod, 
dass in uns die Sinne nicht verzagen, 
wenn der Feind wird das Leben verklagen. 
Kyrieleis.

So sind die apokalyptischen Bilder in eigentümlicher Weise ganz nahe am Kern des Glaubens. Wie unser eigenes Leben ist die Welt als Ganze letztlich irreparabel und dem Untergang geweiht. Aber in einem größeren Zusammenhang ist dieser Untergang aufgefangen und zum Heil gewendet. Wir dürfen gelassen sein und glücklich — inmitten einer gefallenen Welt! 

Eine gesegnete Woche wünsche ich uns allen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 34/2020

Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen! der Herr ist nahe!
Phi 4,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Good Vibrations

Das schöne, aber nur selten noch gebrauchte Wort „lind“ steht im Duden für sanft, zart, angenehm, mild, nicht rauh oder kalt. „Lindigkeit“ kennt das Wörterbuch nicht. Das ist kein Wunder: Martin Luther hat das Wort eigens für diesen Vers erfunden. Nirgends sonst in seiner Übersetzung taucht es auf, so wie in der Bibel das griechische Wort Epikeinä (Nachsicht, Milde, Sanftmut, Huld) in dieser Form auch nur hier nachgewiesen ist. Dieser Solitär war Luther wichtig genug für eine eigene Wortschöpfung. In der neuen Übersetzung von 2017 steht jetzt „Güte“. Das ist weniger sperrig, aber ein Teil der Bedeutung, vielleicht der wichtigere, geht verloren. Phi 4, 4+5 lauten gemeinsam: 

Freuet euch in dem HERRN allewege! Und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen! der HERR ist nahe!

Als Volk Gottes sind wir zum Herrn befreit, und eine abweisende, lebensverneinende Grundhaltung ist uns NICHT auferlegt, anderslautenden Gerüchten zum Trotz. Sie verdunkelt das Zeugnis — Sieht so Gottes Liebe aus? müssten Außenstehende sich fragen. Paulus fordert uns also ausdrücklich zu Freude auf, wie auch im Vers der Woche 9/2020.

Und diese Freude soll überspringen, soll sichtbar werden, als augenfälliger Zeichen für Gottes Gnade. Es soll also nicht „Güte“ zur Schau gestellt werden, als Erweis für ein gottgefälliges Leben. Dann ginge es am Ende ja um die eigene Person, nicht den anderen, und solche Erweise können für die Umwelt durchaus deprimierend sein. Nein: vom Glück in uns selbst soll beim anderen etwas ankommen — Lindigkeit eben. Good Vibrations könnte man es heute nennen — die Energie der Erlösung, des Geistes Gottes in uns schafft eine Resonanz, die andere wahrnehmen und erfahren können. Ein klein wenig so, wie die Wunderheilungen Jesu in den Evangelien Evidenz für seine Vollmacht sind!

Ganz einfach und ganz klar, nicht wahr? Wie konnte dann das Christentum in den Ruf einer lust- und lebensfeindlichen Religion kommen? Wer von uns verströmt Lindigkeit, die sich wie Balsam auf die Wunden legt, die die Wirklichkeit anderen schlägt? Einige Menschen fallen mir ein, ich selbst gehöre nicht dazu. Wenn Lindigkeit fehlt — ist dies vielleicht umgekehrt ein Indiz, dass auch Gottes Gegenwart fehlt? 

Ich bin Teil einer nicht immer einfachen Familie. Vergangene Woche wollte ich es mit Lindigkeit probieren. Um sie aus dem Bett zu kriegen, lade ich die jüngste Tochter ein, mit mir Brötchen zu holen. Es ist schon fast Mittag, aber sie braucht Ewigkeiten, besteht dann aber doch lauthals darauf, dabei zu sein. So lange muss ich eben warten. Auf dem Weg hat sie eine Idee nach der anderen, was ich heute für sie tun könnte. Argumente bürstet sie rigoros ab. Plötzlich ist irgendwie der Streit von gestern wieder präsent, der Ton wird gereizter, auf beiden Seiten. Eine Weile versuche ich, mich zu beherrschen. Es ist schon brütend heiss. Mein Rücken und das linke Bein schmerzen beim Gehen, erst leicht, dann immer stärker. Irgendwann beginne ich, ihr Vorwürfe zu machen, die sie prompt zurückgibt. Die Kunden in der Schlange draussen vor dem Bäcker bekommen es mit. Als wir beim Bäcker wieder herauskommen, muss ich pausieren, um den Schmerz wieder loszuwerden, und sie bittet um Erlaubnis, mit ihrem Roller allein nach Hause fahren zu können — immerhin.

Ich glaube nicht, dass irgendwelche Lindigkeit bei ihr angekommen ist… Ich habe falsch begonnen. Nicht mit einem Glücksgefühl, das ich mit ihr hätte teilen können, sondern mit dem Wunsch, dass heute alles friedlich bleiben möge. Ich hätte nicht mit einem Wollen anfangen dürfen, sondern mit einem Sein. 

In rauschhaft-extremer Weise hat Schiller das in seiner „Ode an die Freude“ aufgefangen — Freude an der Schöpfung und aneinander transzendiert die Welt! Als meine erste Tochter zur Welt kam, lief ich tagelang wie betrunken mit diesem Schlusssatz im Kopf und auf den Lippen herum. Damals war meine Lindigkeit wohl nicht zu übersehen. Hier ist der Text in der Fassung, die Beethoven dem Schlusssatz der 9. Sinfonie unterlegt hat, und hier ist ein Video zu einer Aufnahme der Berliner Philharmoniker unter Claudio Abbado.

Ich habe Zeit, es weiter zu probieren, diese Woche und noch viel länger, wenn ich will. Was für ein Vers! Brauchen wir eine Anleitung zum Glücklichsein? Kann man Lindigkeit üben, mit Gottes Hilfe? Vielleicht hilft das Lied? 

Eine gesegnete Woche mit soviel Lindigkeit wie eben möglich wünsche ich uns allen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 33/2020

Des andern Tages geriet der böse Geist von Gott über Saul, und er raste daheim in seinem Hause; David aber spielte auf den Saiten mit seiner Hand, wie er täglich pflegte. Und Saul hatte einen Spieß in der Hand…
1 Sa 18,10 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Spieß und Harfe

Ein perfektes Standbild: Der eine hält ein Saiteninstrument in der Hand, der andere eine schwere Kriegswaffe. Der eine ruht in sich, der andere ist außer sich. Die Spannung entlädt sich im nächsten Augenblick:

und zückte den Spieß und dachte: Ich will David an die Wand spießen. David aber wich ihm zweimal aus.

Der Antagonismus von Saul und David bestimmt die beiden Bücher Samuel, siehe den Vers in Woche 35/2019. Hier liegt er vor uns in seinem Kern. Die beiden Männer sind allein miteinander. Saul hat die Gnade des Herrn verloren, der „böse Geist Gottes“ liegt über ihm. Er pendelt zwischen Traurigkeit und extremer Reizbarkeit, wir würden es heute manische Depression nennen. David ist derjenige, auf dem die Gnade des Herrn nun ruht. Wovon Saul nichts weiss: Samuel hat David schon als künftigen König gesalbt. 

Saul hatte den jungen Mann als Harfenspieler an seinen Hof geholt, er sollte ihm helfen, die Traurigkeit zu überwinden — und das gelang zunächst gut. Nach Davids Kampf mit Goliath hatte er ihm militärische Aufgaben und Verantwortlichkeiten übertragen. David Ruhm wuchs sehr schnell mit seinen Erfolgen, und Saul erlebte ihn nun nicht mehr als emotionale Stütze, sondern als Bedrohung. 

David ist Sauls Gegenstück. Wo dieser von Zweifeln zernagt wird, sich vom Volk dazu treiben lässt, Gottes Anordnungen zu mißachten und Samuel gegenüber Ausflüchte sucht, wo dieser sich selbst als Spielball krasser Gemütsschwankungen erlebt, da ist David einfach nur er selbst. Seine Hände gleiten über die Saiten, wie jeden Tag seit der Zeit als Hirte. David ist eine Art Naturkraft. Samuel hat ihn so charakterisiert: 

Da sprach Samuel zu ihm: Der HERR hat das Königtum Israels heute von dir gerissen und einem andern gegeben, der besser ist als du. Auch lügt der nicht, der Israels Ruhm ist, und es gereut ihn nicht; denn er ist nicht ein Mensch, dass ihn etwas gereuen könnte. (1 Sam 15, 28+29)

David hat unglaubliche Dynamik und Gottes Segen. Saul die Macht und größtmöglichen Status, aber seine Mitte und seine Kraft hat er verloren. Er wirft, aber sein Spieß fehlt. David weicht zweimal aus, mit einer geschickten Wendung seines Körpers, ohne den Angriff auf der Stelle zu beantworten. Jahre später wird Saul mit seinem Spieß sich selbst töten.

Ich kann Saul verstehen. Mir scheint, als sei David auch das Gegenteil von mir selbst: mit seiner Einfachheit und Geradlinigkeit bleibt er noch in extremen Umständen Herr seiner Mitte, wie ein Radfahrer oder ein Reiter — in der Bewegung unsterblich auf Zeit. Er fürchtet Gott und sonst nichts auf der Welt, und die Herzen der Menschen fliegen ihm zu. Die Frauen Judas singen ihm Lieder: seiner Jugend, seiner Kraft, seiner Schönheit und seiner Musik.

Ja, einmal David sein…

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 32/2020

… und sprach zu ihnen: So spricht der HErr, der Gott Israels, zu dem ihr mich gesandt habt, dass ich euer Gebet vor ihn sollte bringen:…
Jer 42,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Entscheidung

Vor zwei Wochen hatten wir einen Vers zu einem erfolgreichen Neubeginn. Heute geht es um einen Neubeginn, der nicht stattfand. Judäa hat den Krieg gegen Babylon verloren. Das Land ist besetzt, die Hauptstadt zerstört, der Tempel vernichtet. Ein großer Teil der Elite wurde in das Innere des babylonischen Reichs deportiert. Doch im Umland gibt es noch Judäer, und auch einige Familien aus der Oberschicht sind da, die den Nukleus für eine Selbstverwaltung bilden könnten. Die Babylonier setzen Gedalja als Statthalter ein. 

Es gelingt Gedalja, das zivile Leben wieder in Gang zu bringen und mit Erfolg organisiert er die Ernte. Aus den Nachbarländer kehren geflohene Judäer ins Land zurück. Der Beginn einer ganz anderen biblischen Geschichte beginnt sich abzuzeichnen — als Jischmael, ein Verwandter des letzten Königs, Gedalja tötet und ein Massaker an seinen Leuten und an Pilgern anrichtet. Siehe hierzu den BdW 2019 Woche 39

Jischmael wird schließlich von Jochanan überwunden und vertrieben. Aber nun weiß die Gruppe der Überlebenden nicht, was tun. Warten, bleiben, und den Zorn der Babylonier auf sich nehmen? Oder nach Ägypten fliehen, dem Verbündeten im verlorenen Krieg? Sie beschließen, Jeremia zu fragen — was immer dieser auch vom Herrn erfahre, werden sie tun, sagen sie.  

Warten und dem Übel ins Auge sehen oder fliehen? Jeremia nimmt sich viel Zeit. Nach zehn Tagen kennt er die Antwort des Herrn. Unser Vers ist die Einleitung. Im Lauf der späteren Geschichte taten Juden oft gut daran, rechtzeitig zu fliehen. Hier nicht: Der durch Jeremia verkündete Wille des Herrn ist es, dass sie bleiben und das Land wieder aufbauen. Gott sagt ihnen seinen Schutz zu.

Die Männer weigern sich und fliehen, in offener Auflehnung gegen Gottes Wort. Verständlich ist das durchaus. Im Buch Jeremia ist es jedoch eine Art Todesurteil: den Flüchtlingen wird die Vernichtung vorhergesagt. Jeremia geht mit ihnen, und seine Spur verliert sich in Ägypten. 

In Elephantine gab es dort seit der Zeit des Exils über mehrere Jahrhunderte eine bedeutende jüdische Kolonie. Jüdische Religion wurde dort in heterodoxer Welse gepflegt, es gab sogar einen Tempel. mit Opferdienst. Vielleicht hat die Gruppe um Jochanan individuell das richtige getan. Jeremia aber und das nach ihm benannte Buch verurteilen die Flucht. Aus Sicht des Volks war es die falsche Wahl. Der durch Gedalja vorgezeichntete Weg der Erneuerung hätte jetzt gegangen werden können, nicht erst lange Zeit später durch Männer wie Nehemia und Esra, unter ganz anderen Vorzeichen. Mit der Flucht retten die Männer und ihre Familien sich. Das judäische Volk aber gibt sich an dieser Stelle auf.

Was hätten wir getan? Ich bin heute südlich der Elbe am Rand der Altmark mit dem Fahrrad den früheren Todesstreifen abgefahren. In der Zeit dieses Streifens gab es viele Entscheidungen, die individuell richtig waren und kollektiv falsch. Wie zur Zeit Jeremias hatte man vorher in einem langen Krieg den Menschen im Namen des Volks Dinge abverlangt, die das Volk in den Ruin geführt hatten. Druck und Zwang von oben verstärken einen Zwiespalt, dem wir uns ohnehin täglich stellen müssen. Ein Erfolg kann dann auch darin bestehen, dass wir beim Rasieren noch ruhig in den Spiegel gucken können, auch wenn Gott dabei zuguckt.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, die uns Entscheidungen dieser Art nicht abverlangt!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 31/2020

Ein Weib ist gebunden durch das Gesetz, solange ihr Mann lebt; so aber ihr Mann entschläft, ist sie frei, zu heiraten, wen sie will, nur, dass es im Herrn geschehe.
1 Kor 7,39

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Ehe, Welt und Reich Gottes

Als Paulus seinen ersten Brief an die von ihm selbst gegründete Gemeinde in Korinth schrieb, lag der Tod Jesu etwa 25 Jahre zurück. Der Schock dieses Todes, das ungläubige Staunen nach der Auferstehung und die Euphorie des Neubeginns im Heiligen Geist hatten die Anhänger Jesu damals buchstäblich aus der Zeit genommen. Das muss wunderbar gewesen sein: im Heiligen Geist leben und gemeinsam das Reich Gottes erwarten, das nun jeden Augenblick hereinbrechen musste! Die Institutionen der Welt — Ehe, Geld, Gesetze, Steuern und auch das komplexe Geflecht der jüdischen religiösen Regeln — sie bestanden noch, aber im Kern waren sie unwichtig.  

Wider Erwarten aber blieb die Welt. Paulus beginnt seine Missionsreisen in die griechische Welt, gründet Gemeinden und sorgt sich um ihren Bestand, er sucht nach Regeln für das Leben der Menschen miteinander und mit Gott. Der Korintherbrief atmet eine doppelte Verankerung: Paulus und seine Zeitgenossen leben für das Reich Gottes, das sie weiterhin für die nahe Zukunft erwarten, aber eben doch auch in der Welt. 

In gezogenen Abschnitt geht es um die Ehe. Im und für das Reich Gottes ist sie ohne Bedeutung, aber in der Welt ordnet sie vielfältige Forderungen: Sexuelle Anziehung und Bedürfnisse sind eins, der biologische Fortbestand das andere, Versorgung in Alter und Krankheit das dritte. Wenn es die Ehe nicht gäbe, man müsste sie erfinden. Heute gibt es die Ehe für alle. Sie scheint selbst das Verblassen der Unterschiede von Mann und Frau zu überleben.

Mit Blick auf das Reich Gottes gibt es einen latenten Konflikt: „Wer ledig ist, der sorgt sich um die Sache des Herrn, wie er dem Herrn gefalle, wer aber verheiratet ist, der sorgt sich um die Dinge der Welt, wie er der Frau gefalle, und so ist er geteilten Herzens“ (1. Kor 7,32b-34a). Das ist die Begründung für den Zölibat in der römisch-katholischen Kirche.

Ehelosigkeit ist ein guter Weg für den, der ihn zu gehen vermag, sagt Paulus. Aber Ehelosigkeit ist nicht für jeden richtig. Die Heiligkeit und die Integrität des Leibs und damit auch der eigenen Persönlichkeit gilt es zu bewahren: wer in Verlangen brennt, soll heiraten und kann dies im Wissen tun, auch so Gottes Willen zu erfüllen. Das eheliche Zusammenleben ist der Sünde enthoben. 

Es sind häßliche Bilder, die ihm vor Augen stehen, das macht der vorangehende Abschnitt deutlich. Seine Präferenz für einfache und reine Lösungen nimmt er zurück. Statt dessen setzt er Regeln. Sie sind symmetrisch. Im Judentum durfte der Mann sich von seiner Frau scheiden lassen, die Frau hingegen war an ihren Mann gebunden. In Nachfolge Jesu verlangt Paulus von beiden gleichermaßen, einander die Treue zu bewahren, die bestehende Ehe ist heilig.  Wenn hingegen keine Ehe besteht, oder sie mit dem Tode eines der Partner erloschen ist, empfiehlt Paulus Ehelosigkeit als die Lebensform, die besser auf das Reich Gottes vorbereiten kann. Er selbst ist ehelos und wirbt dafür. 

Unser Vers spricht von der Bindung einer Frau an ihren Mann und davon, dass der Tod diese Bindung löst. Wie will sie den weiteren Lebensweg gestalten? Sie ist frei, sich wieder zu verheiraten. Die Situationen, in denen diese Entscheidung getroffen werden muss, sind vielfältig wie das Leben. Paulus hat eine Präferenz: „Seliger ist sie aber, nach meiner Meinung, wenn sie unverheiratet bleibt“. Aber das bleibt eine allgemeine Tendenz; entscheidend ist, dass sie den Weg geht, der ihre Integrität wahrt.

Hier, wie im ganzen Abschnitt, herrscht eine auffällige Unbestimmtheit. Die Gemeinde selbst hatte um Rat in der Sache gebeten (1. Kor 7,1) und Paulus muss viele Gesichtspunkte im Blick behalten. Die widerstreitenden idealtypischen Forderungen, die Welt und Reich Gottes stellen, schaffen einen Freiraum. Mehrere Wege können richtig sein, und es hängt ganz davon ab, wer unterwegs ist.

Mit seiner Antwort hat Paulus die Lebensfähigkeit seiner Gemeinde im Blick, auch die langfristige, und die Gangbarkeit der Lebenswege ihrer Mitglieder. Sie hatte eben schon begonnen, die Zeit, in der Christen zugleich in der Welt und für das Reich Gottes leben. Mit nur einem Leib und einer Seele: Avatare gab es noch nicht… 

Eine gesegnete Woche wünsche ich uns, mit unseren Eheleuten oder ohne sie,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 30/2020

…und drei Reihen von behauenen Steinen und eine Reihe von Holz; und die Kosten sollen vom Hause des Königs gegeben werden;
Esr 6,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Drei Reihen von behauenen Steinen und eine Reihe von Holz

Nach einigen Versen aus den letzten Wochen zum Bau des ersten Tempels und dessen Zerstörung: hier ist einer zum Neubeginn! 

Es geht um die Anlage des zweiten Tempels nach dem Exil. Er wuchs in den folgenden Jahrhunderten zu einer riesigen Kultstätte. Der Anfang aber war klein und bescheiden: drei Reihen von behauenen Steinen und eine Reihe von Holz, lesen wir im Vers.

Was war geschehen? Der persische König Kyros hatte der von den Babyloniern verschleppten judäischen Elite die Rückkehr erlaubt. Die Nachkommen der Verschleppten hatten in Babylon eine neue Heimat gefunden; sie nahmen sogar gesellschaftliche Schlüsselstellungen ein, siehe den BdW 8/2020. Synagogen waren entstanden und Zentren der Gelehrsamkeit. Man muss sich die „Rückkehr“ als einen lange währenden Vorgang vorstellen, der nie ganz abgeschlossen war, wie einen Strom, eine lebendige Verbindung zwischen den Siedlungen jüdischer Intellektueller in Babylon und dem Stammland in Kanaan. Babylon blieb noch mehr als tausend Jahre geistiges Zentrum des Judentums.

Bald nach dem Edikt des Kyros im Jahr 539 v. Chr. wurde von den ersten Rückkehrern dem Gott Israels in Jerusalem ein Altar errichtet, so dass wieder Opfer gebracht werden konnten. Doch dabei blieb es zunächst. Der gezogene Vers beleuchtet den Versuch, auch einen Tempel zu errichten. Es gab spannende administrative Auseinandersetzungen darüber, ob den Juden dies eigentlich erlaubt sein solle oder nicht — hierzu siehe die Betrachtung zum BdW 38/2018. Nach Konsultation der Archive entschied König Darius, dass ein neuer Tempel gebaut werden solle. Wenn es sich um Darius II handelt, dem Nachfolger von Artaxexes, der den Bau des Tempels zunächst untersagt hatte, so geschah dies 423-404 v. Chr. — also mehr als hundert Jahre nach dem Beginn der Rückkehr! 

Aber was haben uns die Geschichten von Errichtung, Zerstörung und neuerlicher Errichtung der Tempelgebäude in Jerusalem eigentlich zu sagen? 

Der Tempel ist Ort der Gegenwart Gottes unter den Menschen. Tempel in diesem Sinne sind die beiden Völker Gottes. Für Johannes ist Jesus Christus der Tempel Gottes. Paulus spricht davon, dass die Gemeinden der Tempel Gottes seien. Und für die Mystiker des Mittelalters ist die Seele selbst, jedes einzelnen Menschen, Wohnsitz Gottes!

Wir lesen also nicht nur von einem Bau aus längst vergangener Zeit, sondern auch vom immer wieder erneuten Willen Gottes, mit seinem Volk zu leben, und dem Versuch der Menschen, ihrem Gott Raum zu geben. Und wir lesen, dass diese Versuche bescheiden und trotzdem erfolgreich sein können. Das ist ermutigend.

Das religiöse Leben in unserem Land unterliegt einem mächtigen Wandel, der durch Corona beschleunigt und aktualisiert wird. Viele Gemeinden werden an den Rand des Untergangs geführt, manche wohl auch darüber hinaus. Aber es wird Neubeginn geben. Und vielleicht ist das der Weg: Drei Reihen von behauenen Steinen und eine Reihe von Holz

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 29/2020

Denn als Gott der HErr gemacht hatte von der Erde allerlei Tiere auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Himmel, brachte er sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen.
Gen 2,19

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Namen

Der Vers bringt uns zurück an den Anfang. Die Welt taucht auf aus ihrem Urgrund und ihre Konturen, die Unterscheidungen, werden eingezogen. Die Schöpfung wird zweimal erzählt. Die „erste“, jüngere Schöpfungsgeschichte berichtet einen geordneten kosmologischen Vorgang: Durch sein Wort schafft Gott Licht, Himmel, Meer, Pflanzen, Sterne, Mond und Sonne, Fische und Vögel, die Tiere des Feldes und schließlich Menschen, als Mann und Frau. Der zweite Schöpfungsbericht, der ältere, setzt eine Welt bereits voraus. Er berichtet von der Schöpfung erst des Mannes, dann der Tiere und schließlich der Frau. Adam wird nicht durch das Wort erschaffen, sondern in Gottes Händen aus Lehm geformt und durch seinen Atem belebt. 

Im älteren Bericht dient das Wort der Kommunikation mit dem Menschen. Gott schafft sich ein Gegenüber und setzt es in den Garten Eden. Jetzt wird gesprochen, vorher nicht: Gott bestimmt dem Menschen Grenzen für sein Tun. Dann will er dem Menschen ein Gegenüber schaffen, so wie er sich selbst ein Gegenüber geschaffen hat. Es geschieht das, wovon der gezogene Vers spricht: Gott schafft Tiere und bringt sie dem Menschen in den Garten Eden, um zu sehen, wie er sie nennen werde, denn so sollten sie fortan heißen. Dabei ist Gott passiv: er zeigt sie dem Menschen und hört zu, wie dieser Worte für die neuen Mitgeschöpfe seiner Welt findet.

Ein erstaunliches Bild. Der Mensch ist hier Partner im Schöpfungsvorgang, beinahe gleichberechtigt. Der Schöpfungsakt ist erst abgeschlossen, wenn das Geschöpf nicht nur physisch, sondern auch geistig in der Welt verankert ist, und diesen zweiten Teil führt — in Gottes Auftrag — der Mensch aus. 

Namen haben im alten Orient eine große Bedeutung. Durch Namensgebung wird ein Mensch ansprechbar und auch empfänglich für Fluch und Segen. Den Namen eines Menschen zu kennen, bedeutet ein gewisses Maß an Macht. Den Namen geben zu können, ist große, beinahe uneingeschränkte Macht. Der Name steht für den Wesenskern eines Menschen und seinen Platz in der Welt, und er definiert beides. Das Recht zur Namensgebung liegt bei den Eltern — das Buch Genesis berichtet von Namensgebung durch Mütter wie auch durch Väter — und sonst nur bei Königen und bei Gott. Gott und Könige können Namen ändern und den Menschen und seine Beziehung zur Welt dadurch gewissermaßen neu schaffen.

Namensgebung ist Unterscheidung, die Schaffung von Kategorien, die Möglichkeit, zu beschreiben, zu verstehen, zu planen. Der Vers spricht davon, dass wir einen eigenständigen, geistigen Schöpfungsauftrag haben. Das wir ihn, wenn er gelingen soll, als Partner Gottes, in seinem Auftrag ausführen sollen. Dass diese Schöpfung Leben schafft, belebt. 

Vielleicht weiss der Vers davon, was ein junger oder auch ein älterer Mensch mit seinem Leben anfangen kann. Ich will es gar nicht ausbuchstabieren. Es ein großes, schönes, ungeheuer archaisches Bild: Gott bringt dem Menschen seine Tiere und lauscht, wie er sie nennen werde!

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir Mitschöpfer sein können,
Ulf von Kalckreuth