Bibelvers der Woche 01/2022

So lasset uns nun fürchten, dass wir die Verheißung, einzukommen zu seiner Ruhe, nicht versäumen und unser keiner dahintenbleibe.
Heb 4,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gottes Ruhe

Der Vers spricht eigentlich für sich selbst, nicht wahr?  Aber ich würde gern über die Verheißung nachdenken, „einzukommen in seine Ruhe“.

Hier gibt es eine Kette von Bezügen. Der unbekannte Autor des Hebräerbriefs bezieht sich auf Psalm 95: Dort erhält Gott der Herr selbst das Wort, eingeleitet mit einer Warnung: Wenn ihr doch heute auf seine Stimme hören wolltet… Denn dann erginge es den Angesprochenen nicht wie den Israeliten, als sich Gottes Zorn gegen sie wendete und er seine Verheissung an die damals lebende Generation zurücknahm. Statt dessen sollten sie vierzig Jahre durch die Wüste ziehen, und erst ihre Kinder durften das Gelobte Land sehen. Dies wird erzählt in 4. Mo 14, 20f. „In seine Ruhe eingehen“ bedeutet im ursprünglichen Kontext also schlicht „sesshaft werden“ — aufhören zu wandern, den Nomadenstatus ablegen und eine Existenz als Eigner des von Gott zugewiesenen Land aufnehmen.

Im Psalm geht es im übertragenen Sinne um die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk. Noch einnal viel später schreibt der Autor des Hebräerbriefs, dass auch wir eine Verheissung erhalten haben, „auch uns ist verkündigt wie jenen“. Und wir sollen diese Verheissung nicht verlieren. Dabei geht es nicht um die Sesshaftigkeit in Kanaan. „Es ist … noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes“ schreibt der Autor in Vers 9, ohne auszubuchstabieren, was genau er meint. Er weist auf den Schabbat hin, die Ruhe von den Werken. Die folgenden Abschnitte machen klar, dass es um die Gemeinschaft mit Gott in Christus geht. Man kann diese Gemeinschaft annehmen, man kann sie auch versäumen. 

Wir sehen hier eine kleine Kette, in der ein ursprünglich sehr konkreter Begriff eine Umdeutung erfährt mit Blick auf eine höhere Realität, die nicht mit Händen zu greifen ist: zunächst im Psalm und dann, auf Christus bezogen, im Hebräerbrief.

Gottes Ruhe… requiem aeternam dona eis, Domine….

Ruhe in Gott, Ruhe von den Werken. Das Gegenteil davon wäre Bewegung, die nicht aufhört, weil sie nicht aufhören kann. Als extremes Bild drängt sich mir der „Fliegende Holländer“ auf. Ich habe mit meiner Tochter kürzlich „Fluch der Karibik“ gesehen: der Film bringt den alten Mythos neu auf die Leinwand. Das wäre eine Form des ewigen Lebens, die wahrlich niemand haben will.

Ich wünsche uns allen ein gesegnetes neues Jahr in Gottes Schutz und Beistand, in dem wir an seiner Ruhe nicht vorbeigehen, und auch keinen von uns zurücklassen!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 52/2021

„Du sollst”, sagen sie, „das nicht angreifen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren”
Kol 2,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Zumutung

Paulus äfft nach, wie es Kinder manchmal tun, wenn Forderung der Eltern für absolut inakzeptabel halten. Als ich den Vers gezogen habe, rief ich meiner Tochter zu: „Hier ist ein Vers für Dich!“ und habe ihn ihr gelesen, in einem entsprechenden Tonfall — und wie als Echo, fast automatisch, aber im Spiel, kam die Mimik, die Gestik und der Tonfall zurück, den ich von ihr bekomme, wenn ich etwas will, was sie nicht will. Auf dieser Ebene hat sie den Vers sofort verstanden.

Paulus warnt vor Irrlehren in der Gemeinde der Kolosser. Er kennt diese Gemeinde nicht selbst, sie ist eine Gründung seines Gefährten und Sekretärs Epaphras, daher wird vermutet, dass dieser Teil des Briefs auf Epaphras zurückgeht. 

Es ist im einzelnen unklar, welche Gebote und Forderungen Paulus und Epaphras hier karikieren, Vers 16 deutet darauf hin, dass es sich um Speisegebote und Feiertage handelt. Dann stünde der Vers vielleicht in der langen Debatte, ob und in welchen Teilen die Gesetzlichkeit der Torah für Christen verbindlich sei. In ihrer extremen Form ist es die Frage, ob nicht zuerst Jude werden muß, wer Christ sein will — weil das Erlösungswerk Jesu sich an Juden richtet. 

Die Antwort der christlichen Kirchen auf die Frage nach der Verbindlichkeit der Torah habe ich nie ganz verstanden. Für einen Versuch siehe BdW 41/2020. Das Gesetz ist nicht verbindlich. Aber die ethischen Maximen mit den zehn Geboten als Kern haben denselben Stellenwert wie im Judentum, vielleicht weil Jesus selbst sich auf sie beruft. Aber hat er sich nicht wiederholt auf die ganze Torah berufen? In manchen christlichen Traditionen sind im Laufe vieler Jahrhunderte andere rituelle Forderungen an die Stelle der mosaischen getreten. Vielleicht begreift man den christlichen Umgang mit dem alten Gesetz im Kern am besten als Ergebnis einer kulturellen Evolution, dessen genaues Ergebnis zu Paulus‘ Zeit noch nicht feststand. 

Paulus jedenfalls sagt, hier und anderswo, wir seien von allen solchen Forderungen frei: 

Wenn ihr nun mit Christus den Elementen der Welt gestorben seid, was lasst ihr euch dann Satzungen auferlegen, als lebtet ihr noch in der Welt: »Du sollst das nicht anfassen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren« – was doch alles verbraucht und vernichtet werden soll. Es sind menschliche Gebote und Lehren. Diese haben zwar einen Schein von Weisheit durch selbst erwählte Frömmigkeit und Demut und dadurch, dass sie den Leib nicht schonen; sie sind aber nichts wert und befriedigen nur das Fleisch. 

Die Welt ist gefallen und fällt weiter, so verstehe ich es, und die Gebote der Welt führen uns in die Irre, dann jedenfalls, wenn wir sie für wesentlich halten. Worauf es einzig ankomme, ist die Führung Jesu Christi. Paulus selbst fiel es ausgesprochen leicht, sich an die Regeln des Umfeldes zu halten, in dem er sich jeweils bewegte — er wusste, was er tat und warum. Im 1. Korintherbrief (9, 19-23) schreibt Paulus:

Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, auf dass ich möglichst viele gewinne. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen unter dem Gesetz bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die unter dem Gesetz gewinne. Denen ohne Gesetz bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin im Gesetz vor Christus –, damit ich die ohne Gesetz gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise etliche rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, auf dass ich an ihm teilhabe. (1. Kor 9,19-23)

Der gelernte Pharisäer scheut nicht einmal davor zurück, Opferfleisch zu essen; ob man das tue oder nicht, solle nur von den Gefühlen desjenigen abhängen, mit dem man Gemeinschaft haben wolle, schreibt er ein paar Abschnitte weiter unten, in 1.Kor 10,23ff. 

Für Paulus steht Jesus an der Stelle der Torah, ich denke, das trifft es recht buchstäblich. Das Befolgen von Regeln mag seinen Wert in der Welt haben, mag helfen, bestimmte Ziele zu erreichen, aber der Jünger Christi soll sich nicht um ihrer selbst willen mühen. Die Regeln und Riten haben keinen Wert an sich. Der Ritus ähnelt darin dem Götzendienst, wie es in Jesaja 44, 9ff beschrieben wird: ein Mann spaltet Holz, verfeuert die eine Hälfte um sich zu wärmen und schnitzt sich aus der anderen Hälfte ein Bild, um es anzubeten.  

In unserem Vers macht Paulus sich über Riten und Gebote lustig. Aber was bedeutet das positiv? Wonach soll man das Handeln denn ausrichten? Im Galaterbrief gibt Paulus zwei Antworten. Sie sind sehr allgemein, der Glaubende muss sie selbst ausfüllen: 

Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt (3. Mose 19,18): »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« Wenn ihr euch aber untereinander beißt und fresst, so seht zu, dass ihr nicht einer vom andern aufgefressen werdet. (Gal 5,14f), und

Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit; gegen all dies steht kein Gesetz. (Gal 5,22f). 

„Prüft aber alles, und das Gute behaltet!“ (1. Tess 5,21), und auch: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf.“ (1. Kor 10,23). Nicht das Richtige sollen wir tun, sondern das Gute, um den Pastor meiner Gemeinde zu zitieren. 

Ich zitiere so viel, weil ich mir zutiefst unsicher bin. Ich weiß um den Wert von Regeln in meinem eigenen Leben — ohne Regeln bin ich freigiebig nach Kassenlage, freundlich nach Kassenlage, herzlich nach Kassenlage. Und da gibt es meistens Dringendes, das mich vom Wichtigen abhält. Das Wichtige ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit, so steht es oben. Oft aber sind Regeln dasjenige, was mich gerade noch vom Gegenteil abhält, und manchmal helfen auch sie nicht mehr.

Als Kinder des Heiligen Geists sollen wir selbst wissen, was gut sei, sagt Paulus. Eine unglaubliche Zumutung. Ich bin Bundesbeamter, mich überfordert das. Wie kann ich rund 17 Stunden am Tag wissen, was gut ist, ohne das Auffangnetz von Regeln?  Ich kann es nicht! Aber ich soll! Der Taufspruch meiner älteren Tochter lautet: 

Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit (Eph 5,8f). 

Ein ganzes Wochenende lang feiern wir den Geburtstag desjenigen, der uns hierbei leiten kann. Ohne ihn geht es nicht. Der Herr segne uns, an diesem Tag, in dieser Woche und im Jahr, das kommt,
Ulf von Kalckreuth

Weihnachten 2021 im Hausener Wäldchen

Bibelvers der Woche 51/2021

Gaal zog aus vor den Männern zu Sichem her und stritt mit Abimelech.
Ri 9,39 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Höllenmaschine

Wer war der erste König in Israel? David? Saul? Nein: er hieß Abimelech. Und er herrschte drei Jahre.

Es ist eine dunkle Geschichte. Gideon, auch Jerubbaal genannt, war als charismatischer Führer sehr erfolgreich. Das Königtum wurde ihm angetragen, doch er lehnte ab. Später jedoch herrschten Gideons siebzig (!) Söhne gemeinsam in der Nordregion, eine Art Oligarchie. Wenn nicht Ri 8,30 darauf bestünde, dass dies alles leibliche Söhne waren, könnte man annahmen, dass sich hier eine ganze Führungselite auf den legendären Gideon zurückführte.

Einer aber ist unzufrieden — Abimelech, der Sohn einer Nebenfrau Gideons. Er wiegelt die Einwohner der Stadt Sichem auf, ihn zum König zu machen, wenn er die siebzig aus dem Weg räumt. Sichem war der Ort eines Heiligtum und Zentrum des nördlichen Siedlungsgebiets der Israeliten. Da er aus der Stadt stammt, hat er Anhänger unter den Bürgern und sie stimmen zu. Abimelech schreitet zur Tat. In Ofra lässt er alle siebzig auf demselben Stein hinrichten — bis auf einen, der entrinnt, Jotam mit Namen, der jüngste der Söhne Gideons. 

Abimelech lässt sich zum König krönen. Jotam aber, sein Bruder, ruft den Bürgern von Sichem vom heiligen Berg Garizim aus mit lauter Stimme zu: erst die Fabel vom Dornbusch als dem König der Bäume (hier Wikipedia zur Jotamfabel) und dann einen Fluch:

Habt ihr nun heute recht und redlich gehandelt an Jerubbaal (Gideon, d.V.) und an seinem Hause, so seid fröhlich über Abimelech, und er sei fröhlich über euch. Wenn aber nicht, so gehe Feuer aus von Abimelech und verzehre die Herren von Sichem und die Bewohner des Millo, und gehe auch Feuer aus von den Herren von Sichem und von den Bewohnern des Millo und verzehre Abimelech.  (Ri 9,19f) 

Abimelech und die mörderischen Bürger von Sichem werden sich gegenseitig vernichten, sagt der Fluch. Nach drei Jahren der Herrschaft Abimelechs zieht mit Gaal eine weitere Führungsfigur in die Königsstadt. Gaal wiegelt die Bewohnder gegen Abimelech auf, und sie unterstützen ihn bei einem Feldzug gegen ihren ungeliebten König. Das ist unser Vers — der Bürgerkrieg beginnt. 

Abimelech schlägt seinen Widersacher mit Täuschung und überlegener militärischer Führung und drängt ihn fort. Die jetzt schutzlosen Bürger von Sichem lässt er töten, soweit sie nicht vorher schon in der Schlacht gefallen sind. Das ist nicht das Ende. Auch die Nachbarstadt Tebez hatte sich aufgelehnt. Abimelech erobert sie zurück und ist im Begriff, die in der Stadt gelegene Festung zu nehmen, als er von einem Mühlstein getroffen wird, der vom Dach der Burg auf ihn gekippt wird — von einer Frau. Abimelech befiehlt seinem Schwertträger, ihn zu töten, damit niemand sagen könne, dies wäre einer Frau gelungen. Der Schwertträger führt den Befehl aus. Damit endet das erste Königtum in Israel. Abimelechs Tod hat erstaunliche Parallelen zum Tod Sauls in 1. Sam 21. 

Ich kannte die Geschichte nicht. Als ich sie las, fiel mir Macbeth ein, das Drama von Shakespeare, mit dem ich vor vielen Jahren unvermittelt und unvorbereitet in der Schule konfrontiert wurde, und das ich nie vergessen habe. Wie Macbeth macht sich Abimelech zum König durch einen brutalen Mord und sieht sich mit einer Prophezeiung konfrontiert, die auf unerwartete Weise wahr wird und ihn zerstört. Und wie im Drama der Wald von Birnham auf Schloss Dunisane vorrückt, setzen sich im Buch Richter beim Sturm auf Sichem Bäume in Bewegung, die in Wahrheit Soldaten sind. Nichts ist, was es zu sein vorgibt, schließlich führt eine verzweifelte Frau in einer fast schon gefallenen Burg eine überschwere, tödliche Waffe. 

Was tun mit dieser Geschichte? Wo ist die frohe Botschaft? Ein Happy End, einen strahlenden Sieger gibt es nicht. Alle Schauplätze der Handlung verwandeln sich in Leichenfelder. Man kann immerhin annehmen, dass Jotam überlebt hat, und wohl auch die namenlose Frau: „Als aber die Israeliten sahen, dass Abimelech tot war, ging ein jeder heim“, heisst es in Ri 9,55. Wäre dies ein Film, könnte man die beiden Überlebenden einander finden lassen…

Die Musik in den Erzählungen des Buchs Richter hat andere, dunklere Leitmotive und Rythmen als der biblische „Mainstream“, das konnten wir bei den BdWs zu Jeftah und Gideon/Jerubaal sehen. Aber auch hier können wir über Gott und Menschen lernen. Ich denke, Macbeth ist ein Schlüssel. Das Böse kreist um sich selbst und geht schließlich unter, einer geheimen Dramaturgie folgend. Die Gewalt, die von Abimelech und den Bürgern von Sichem ausgeht, ist wie eine dunkle Energie. Mit dem Massaker an der alten Führungsschicht hat sie sich nicht entladen, sie besteht fort und richtet sich gegen die Parteien selbst. Einmal angestoßen — durch unseren Vers — spult die Geschichte sich ab wie eine Höllenmaschine, mit großer Präzision. Kein Wort ist überflüssig. 

Vielleicht ist dies die „frohe“ Botschaft dieser uralten Geschichte: dem Bösen wohnt eine Dynamik inne, die sich ihr Ende selbst bereitet. Auch darauf kann man hoffen. Diese Perspektive kommt ganz ohne die Figur eines starken Retters aus. Und sie ist realistisch, wenn man an das Ende der DDR und anderer Gewaltherrschaften denkt.

Nur in der Dunkelheit kann ein Licht hell strahlen! Ich wünsche uns allen eine gesegnete Adventszeit.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 50/2021

Was gäbe mir Gott sonst als Teil von oben und was für ein Erbe der Allmächtige in der Höhe?
Hiob 31,2 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Einmal Nihilismus und zurück

Warum interessiert es Sie, warum interessierte es überhaupt jemanden, was der Wille Gottes ist?

Die grundlegende Antwort des Alten Testaments gibt Deut 28-30. Mose legt dem Volk und jedem Einzelnen Segen und Fluch vor: durch seinen Umgang mit dem Gesetz Gottes entscheidet jeder selbst, was davon ihm zuteil wird. Auf zwei Wegen kann dies geschehen. Während in der Torah Gottes Handeln Lohn und Strafe schafft, ist dies im Buch der Sprüche und vielen Psalmen der Charakter des Gesetzes selbst. Das Gesetz ist gut und dient dem Leben, und Verstöße bestragen sich selbst, sie schaffen ein Umfeld, in dem der zugrundegeht, der das Gesetz mißachtet, siehe BdW 50/2020.

Man nennt dies den „Tun-Ergehen-Zusammenhang„. Theologen benennen so den roten Faden, der sich durchs Alte Testament in allen seinen Teilen zieht und der auch für das Neue Testament große Bedeutung hat. Unser Umgang mit dem Gesetz bedingt unser Schicksal.  Wie man sich bettet, so liegt man.

Im Alten Testament bezieht sich die Entsprechung von Tun und Ergehen konkret auf das irdische Leben. An ein Jenseits war nicht gedacht. Wie dann aber umgehen damit, dass es auf der Welt oft so ganz und gar anders aussieht? Haben Sie sich das auch schon gefragt? 

In der Bibel ist die Diskussion darüber bemerkenswert offen. Das Buch Prediger leugnet schlicht die Entsprechung von Tun und Ergehen, aus ebenjener Empirie heraus. Im Buch Hiob steht der Zusammenhang im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung, die in den Nihilismus führt und darüber hinaus. Hiob ist gerecht, er hat die Gesetze Gottes treu befolgt. Daran gibt es keinen Zweifel, wir wissen es a priori aus den Aussagen Gottes und Satans im Prolog. Gott aber nimmt ihm alles: Güter, Familie und Gesundheit — Hiob liegt schließlich als übel zugerichtetes Wrack da und muß sich gegen die Vorstellungen seiner Freunde verteidigen. Wenn es ihm so schlecht gehe, müsse es einen Grund dafür geben, sagen sie. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang lässt sich nämlich umdrehen: wem es schlecht geht, muß sich versündigt haben, er selbst oder vielleicht seine Vorfahren; sonst ginge es ihm besser.

Wir wissen, dass es nicht so ist, und Hiob weiss es auch. Unser Vers ist Teil eines Kapitels, in dem Hiob darlegt, wie umfassend er Gottes Gesetz befolgt hat — er gelangt dabei weit über den Buchstaben des Gesetzes hinaus zu einer Ethik der Barmherzigkeit. Und dabei bejaht und bestätigt er den Tun-Ergehens-Zusammenhang: er habe dies alles getan, ja gar nicht anders gekonnt, weil sonst sein Untergang sicher gewesen wäre, weil er sonst nichts von Gott hätte erwarten können. Seinen Augen hat er die lüsternen Blicke nach jungen Frauen verboten, „was gäbe mir Gott sonst als Teil von oben und was für ein Erbe der Allmächtige in der Höhe?“

Im Vers also ruft Hiob das Schlüsselargument der Freunde als Grundlage des eigenen Handelns auf! 

Die Perspektive der Freunde teilt er also. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang gilt — oder besser: er sollte gelten. Der Zusammenhang von Tun und Ergehen wird ihm zu einem Fundament für eine Anklage Gottes. Hiobs Gewissen ist rein. Wie ein Fürst wolle er sich dem Verkläger nahen. Dabei bleibt er Gott treu, denn Gott ist für ihn nicht nur Richter, sondern auch Anwalt und Erlöser. Hiob ruft Gott den Erlöser an, ihm bei Gott dem Richter Recht zu schaffen. Und sein Vertrauen in den Erlöser ist unerschöpflich: Aber ich weiss, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über den Staub sich erheben. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn schauen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder (Hiob 19, 25-27).

Das klingt christlich, Hiob sucht bei seinem Erlöser aber nicht Gnade, sondern Gerechtigkeit. Die Vorstellung ist ihm fremd, dass der Mensch das Gesetz vielleicht gar nicht erfüllen könnte, anders als den Freunden übrigens. 

Die Anklage Hiobs und seine Rechtfertigung schockieren die Freunde, und sie brechen das Gespräch ab. Nach der Intervention Elihus (siehe BdW 12/2020) antwortet Gott selbst. Er redet aus dem Sturm und eine neue Perspektive entsteht. Gottes Handeln als Schöpfer und seine Sicht der Dinge sind so groß, die Zusammenhänge, aus denen er agiert, so unerforschlich, dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang kein einklagbares Recht sein kann — der Mensch versteht schlicht nicht, was er da fordert. Was uns bleibt, ist Gott zu loben und zu preisen, seine Gesetze zu achten, und unser Schicksal aus seiner Hand zu nehmen, auch wenn wir sein Handeln nicht verstehen, und dies alles im Wissen, dass Gott selbst über seiner Gerechtigkeit steht. 

Gott verwirft Hiobs Anklage, aber er lobt seine Treue, und gibt ihm darin recht. Nicht in Hiobs Gerechtigkeit liegt der Schlüssel, sondern in seiner Bereitschaft, schließlich von ihr abzusehen. Am Ende wird Hiob in jeder Beziehung in den früheren Stand eingesetzt. „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ — scheinbar gilt der Zusammenhang von Tun und Ergehen nun doch, der Leser aber ahnt, das dieses Ende willkürlich ist und die Geschichte einen anderen Ausgang hätte nehmen können. Was bleibt, ist der Imperativ, sich der Größe Gottes zu beugen und sie zu preisen, alles zu hoffen, aber nichts zu erwarten. Wir dürfen Gott nicht in die Kategorien des Rechts pressen, unseres eigenen nicht und auch nicht des göttlichen. Beide sind für uns gemacht, nicht für Ihn. 

Und die eingangs gestellte Frage? Wenn Gott tut, was er will — was ist dann der Unterschied zu einer Welt, in der es Gott gar nicht gibt? Wenn Sie es bis hierher geschafft haben, wollen auch Sie das wissen.

Ich glaube, er liegt darin, dass Gott uns zugewandt ist. Wir haben einen persönlichen Gott, und wir können ihn erreichen — im Gebet, im Zuhören, im Reden auch mit anderen Menschen. Wie Hiob, ohne alles Recht. Was uns helfen kann, ist Gottes Liebe, und darin wieder hilft uns unsere eigene Liebe. Dies ist der Zusammenhang von Tun und Ergehen, den Jesus vertritt.

Einmal Nihilismus und zurück. Der Herr segne uns, in dieser Woche und immer,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 49/2021

Die machten beide Isaak und Rebekka eitel Herzeleid.
Gen 26,35 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Haussegen

Es geht um die Schwiegertöchter. Der Vers ist so etwas wie ein Stoßseufzer. Esau war der erste Sohn Isaaks und Zwillingsbruder Jakobs. Die beiden unterschieden sich in so gut wie jeder Hinsicht, die sich denken lässt, so auch im Heiratsverhalten. 

Esau heiratete schon in jungen Jahren ohne Umstände zwei „Hetiterinnen“ aus der ortsansässigen Bevölkerung. Diese Ehen waren problematisch: Isaak und Rebekka jedenfalls sind schwer gekränkt (unser Vers), und am Ende des folgenden Kapitels (Gen 27,46) sagt Rebekka zu ihrem Mann: „Mich verdrießt zu leben wegen der Hetiterinnen. Wenn Jakob eine Frau nimmt von den Hetiterinnen wie diese, eine von den Töchtern des Landes, was soll mir das Leben?“ Das lässt sich eigentlich kaum noch steigern. 

Und es ist durchaus aus dem Leben gegriffen. Jeder, der diesen Text liest, kennt aus eigener Anschauung Familien, in denen Zwist und Hader mit den Schwiegersöhnen oder -töchter herrscht. Vielleicht ist das eine biologische Konstante. Evolutionsbiologen sagen, dass wir geschlechtliche Wesen sind, damit die genetische Variabilität in der Bevölkerung erhalten bleibe. Sie ist Schutz gegen Epidemien und essentielle Grundlage für genetische Anpassungsfähigkeit. Diese Variabilität sorgt auch für Spannungen.  

In dem Vers geht es aber nicht nur um Lebenswirklichkeit, sondern auch um biblische Geschichte. Das Alte Testament weist, anders als die Evolutionsbiologen, in allen seinen Teilen eine gewisse Obsession mit der Reinheit des Bluts auf. Die Nachkommen Jakobs, die „Kinder Israels“, sollten sich nicht mit der einheimischen Bevölkerung vermischen, ihre Sprache, Gebräuche und Götter annehmen. Nach der Rückkehr aus Babylonien mussten die Judäer gar die fremdstämmigen Frauen aufgeben, die sie im Exil geheiratet hatten, siehe den BdW 2/2018

Das ist in den Vätergeschichten bereits angelegt. Schon Isaak sollte keine der Töchter des Landes heiraten, sein Vater Abraham schickte eigens einen Knecht in die aramäische Heimat, um eine Frau für ihn zu freien. Er kam zurück mit Rebekka, einer Kusine Isaaks. Und auch Jakob, Isaaks Sohn, sollte seine Frauen in der alten Heimat Abrahams finden. Rebekka nämlich will Jakob vor dem Zorn ihres Bruders Esau retten und rät ihm zur Flucht. Ihrem Mann sagt sie, dass sie mit weiteren Schwiegertöchtern aus Kanaan nicht leben könne, woraufhin dieser seinen Sohn nach Aram schickt, damit auch er dort eine Braut finde. Das ist der Beginn einer langen Geschichte. Als junger Mann geht Jakob fort, erst nach insgesamt 14 Jahren Brautwerbung bei seinem Onkel Laban darf er Lea und Rahel endlich nach Hause nehmen. Seine Kinder werden die Väter der Stämme Israels. 

Was geschieht mit Esau? Er nimmt den Zorn seiner Eltern wahr und heiratet eine dritte Frau — die Tochter seines Onkels Ismael. Der aber hatte sich seinerseits schon mit den Töchtern des Landes eingelassen. Später zieht Esau mit seinen Herden in das Gebirge Seïr, tief im wüstenhaften Süden. Er wird so zum Stammvater der Edomiter, einem mit den Israeliten eng verwandten Volk, mit dem Juda über einen langen Zeitraum schwere Auseinandersetzungen führte, siehe den BdW 13/2018. Über die Edomiter spricht die Bibel oft schlecht. Ihren Geburtssegen haben sie an Israel verloren. Aber sie bleiben die „älteren Brüder“.

Die Angehörigen der Heilslinie, Isaak und Jakob, heiraten blutsverwandte Frauen aus Aram. Ihre Brüder hingegen, Ismael und Esau, heiraten einheimische Frauen und entfernen sich damit vom Volk Gottes. Ich schätze beide sehr, Esau wie auch Ismael. Es sind Wüstenmenschen, die mit ihrem Schicksal souverän umgehen können. Esau ist emotional, er kann gewalttätig sein, aber auch großzügig. Viel großzügiger, als sein Bruder es sich träumen lässt, siehe Gen 32+33. Beim Lesen habe ich die Stammtafel Edoms entdeckt, Gen 36. Dort wird mit verhaltener, aber großer Ehrerbietung von Esau und Edom berichtet. Der Abschnitt schließt nach einer langen Aufzählung von Fürsten fast ebenso, wie er beginnt: „Das ist Esau, der Stammvater der Edomiter.“ Mit den Frauen eben, die er heiratete und mit denen er seine Kinder hatte. 

Vielleicht kann man das mitnehmen von der langen Rede: Was am Ende bleibt, ist nicht der Streit in Ehe und Familie, nicht Schwiegermütter und Schwiegertöchter, sondern — die Kinder. 

Der Herr segne sie.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 48/2021

Und der HErr redete mit Mose und Aaron und sprach:…
Lev 14,33

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Aussatz von Häusern…

Die Formulierung taucht oft auf in der Torah. Wir hatten diesen Vers schon einmal, BdW 51/2018. Beinahe jedenfalls — Aaron wurde nicht erwähnt, und der Vers stand in Numeri, nicht in Leviticus: „Und der HErr redete mit Mose und sprach…“, Num 5,1. Wir haben auch schon aus Lev 14 gezogen, siehe den BdW 43/2019. Leviticus behandelt Regeln für den Umgang mit Aussatz: erst den Umgang mit Aussatz bei Menschen, dann bei Kleidung und schließlich bei Häusern. Um Häuser geht es in dem Text, den unser Vers einleitet.

Aussatz von Häusern! Haben Sie schon einmal davon gehört? Ich nicht. Manche Kommentatoren denken an den Hausschwamm, einen Pilz, der sich in zerstörerischer Weise durch Baumaterial aus Holz frißt. Ich komme aus dem Süddeutschland und bin in einem Holzhaus aufgewachsen. Die Angst vor dem Schwamm war ständig präsent. Aber ich war auch schon in Israel, und dort gibt es nichts von dem, was der Schwamm liebt und braucht: ein gleichbleibend feuchtes, quasi tropisches Klima.

Die pilzkundliche Veröffentlichung von Joachim Weinhard (2012) bringt es auf den Punkt: den Hausschwamm gibt es in Palästina nicht, und es hat ihn auch früher nicht gegeben, und eine Reinigungszeremonie, wie sie Levitikus en detail beschreibt, hat vermutlich niemals stattgefunden. 

Wo könnte hier also die Botschaft liegen? Aussatz von Häusern… Weinhardt meint, dass die Regelung zu Häusern absichtlich und bewusst eine Tatbestand charakterisiert, der nie erfüllt wird. Der Umgang mit Aussatz ist in den Abschnitten über Menschen, Kleidung und Häuser im Prinzip stets derselbe: Reinigung, Isolation, und nach einer möglichen Heilung ein Sündopfer — das alles wird engmaschig vom Priester überwacht, denn Levitikus ist eine Handlungsanweisung für Priester. Wenn es nun Aussatz von Häusern nicht gibt — und auch bei Kleidung habe ich meine Zweifel — so könnte implizit etwas gemeint sein, das explizit nicht genannt werden kann. Obwohl sie ein Regelwerk enthält, ist die Sprache der Torah nämlich nie abstrakt. Abstraktion haben wir erst von den Griechen und Römern gelernt. Die Torah nennt konkrete Gegebenheiten und regelt diese. Sie verlangt von ihren Auslegern, für reale Fälle nach Analogien zu suchen. 

Haus und Kleidung sind unser Werk, sie umgeben uns und schützen uns. Und sie können krank werden, sagt die Torah. Was hilft, sei Reinigung, Isolation und ein Sündopfer nach der Heilung. Für Maimonides steht Zara’at, Aussatz, ganz allgemein für eine zeichenhafte Veränderung, die üble Nachrede, Verleumdung und Klatsch bestrafen und davor warnen soll, siehe den Wikipedia-Eintrag für Aussatz. Heute könnte man auch an ein Geflecht von fake news und alternative facts denken. Im Kampf gegen die reale Seuche Corona beraubt uns diese soziale Seuche unserer wirksamen Abwehrstrategien: Impfung, Abstand, Isolation, dem gelassenen Verzicht auf Highlights. Auch Korruption fällt mir ein, ein Pilz, der sich durch das soziale Gefüge frisst wie der Hausschwamm durch das Holz. Organisierte Kriminalität, Alkohol und andere Drogen, Pornografie, herabwürdigendes Verhalten in der Familie… Was fällt Ihnen ein? Was macht uns, unsere Familien und unser Gemeinwesen kaputt wie eine ansteckende Seuche?

Was hilft, sind Reinigung, Isolation und ein Sündopfer, sagt die alte Stimme der Torah. Das Sündopfer bekennt die Verfehlung und stellt den Kontakt mit der Gottheit und dem Lebensganzen wieder her. Isolation verhindert, dass aus der Krankheit des einzelnen die Krankheit des Gemeinwesens wird. Und Reinigung ist das erste, was jeder an sich selbst und für sich selbst tun kann.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 47/2021

So spricht der HErr: Wir hören ein Geschrei des Schreckens; es ist eitel Furcht da und kein Friede.
Jer 30,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Spott und Trost

Der Bibelvers der Woche wird uneingeschränkt zufällig gezogen. Ab und zu aber scheint er ein Thema zu vertiefen, das schon in der Vorwoche angerissen wurde. Das kann subjektiv sein und mit spezifischer Sensibilisierung zu tun haben: oft gibt es vielfältige Wege, sich einem Vers oder einem Text zu nähern, und dann wählt jeder den Weg, auf dem er ohnehin schon ist.

Wieder haben wir aus dem Buch Jeremia gezogen. In der letzten Woche gab es höhnische Worte für Konja, den gefallenen König von Judäa. In dieser Woche sind es höhnische Worte für das ganze Volk. Der folgende Satz lautet (Vers 6): 

Forscht doch und seht, ob Männer gebären! Wie geht’s denn zu, dass ich alle Männer sehe, wie sie ihre Hände an die Hüften halten wie Frauen in Kindsnöten, und alle Gesichter verstört und so bleich sind?

Muß man den Gefallenen noch treten? Die Lage ist verzweifelt, und der Herr vergleicht den Anblick der Edlen und Krieger von Juda und Israel mit dem von gebärenden Frauen in höchster Angst und Not. Im orientalischen Kontext ist diese Sprache ausgesprochen aggressiv.  

In der letzten Woche verbarg sich, kaum sichtbar, hinter der verletzenden Charakterisierung ein Weg zu Gnade und Heil. Das ist auch diesmal so, aber viel deutlicher. Unser Vers bewertet den Zustand, genau wie der Vers zu Konja, und er steht in der Einleitung zum sogenannten „Trostbüchlein“ von Jeremia, Kap 30-31. Vor der Erzählung zum Ende der Stadt Jerusalem aus der Sicht Jeremias steht sonderbar isoliert ein Text, in dem es um Urteil, Gnade und kommendes Heil geht. 

Gottes Heilszusage ist unverbrüchlich, sagt das Trostbüchlein. Das Volk hat sich weit von Gott entfernt, zu weit, als das dies ohne Folgen bleiben könne. Die Menschen sind unfähig, Gottes Weisung, die Torah, zu erfüllen. Das Versprechen Gottes ist überraschend: er bietet einen neuen Bund an. Weil die Menschen sind, was sie sind, als Ergebnis der Schöpfung Gottes, will Gott diese Schöpfung ergänzen. Er will das Herz der Seinen ändern, ihre Persönlichkeit also, in einer Weise, dass sie den neuen Bund gern und freiwillig erfüllen:

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, mein Bund, den sie gebrochen haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR; sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.

Gott will seine eigene Schöpfung heilen, und zwar in unserem Herzen! Darauf will ich gern warten, und den Spott der Verse dieser Wochen muß ich derweil erdulden. Ich muß und werde mich wandeln, und es wird mein Gott sein, der dies bewirkt. Aus dem Trostbüchlein stammt auch mein Taufspruch (Jer. 31,3): Der HERR ist mir erschienen von ferne: Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, mit mehr Trost als Spott, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 46/2021

Wie ein elender, verachteter, verstoßener Mann ist doch Chonja! ein unwertes Gefäß! Ach wie ist er doch samt seinem Samen so vertrieben und in ein unbekanntes Land geworfen!
Jer 22,28

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Urteil und Gnade

Wir schreiben das Jahr 587 v. Chr. König Nebukadnezar II von Babylonien ist mit einer großen Interventionsarmee ins jüdische Kernland eingefallen, um den unbotmäßigen Vasallenstaat unter seinem König Zedekia unter Kontrolle zu bekommen. Jeremia empfiehlt die Kapitulation und wird damit zum inneren Feind. Kapitel 22 hält inne. Der Abschnitt ist eine Art Rückblick und Ausblick, er sammelt Sprüche Jeremias gegen Zedekia und frühere Könige Judas. Zum Kontext siehe die Betrachtung zum BdW 41/2019. Unser Vers bezieht sich auf Jojachin, genannt Konja. Der harte Spruch und die scheinbar endgültige Zuschreibung seines Schicksals sind faszinierend — weil sie sich als falsch erweisen. Jojachin stirbt nicht als verachteter und verstoßener Mann, im Gegenteil. 

Jojachin/Konja war der Vorgänger Zedekias. . Er war eine tragische Figur — hier ein Link zur Erzählung in 2. Kö 24,8ff. Sein Vater Jojakim hatte versucht, sich aus der Rolle als Vasall Nebukadnezars zu befreien und stellte die Tributzahlungen ein, in einer Zeit, da das babylonische Reich schwach schien. Auch damals setzte Nebukadnezar aus mehreren tausend Kilometern Entfernung eine Armee in Marsch. Jojakim starb, und Konja trat seines Vaters Nachfolge an. Im dritten Monat seiner Regentschaft, im Jahr 597 v. Chr., erreichte Nebukadnezar Jerusalem. Mit anderen Worten: Die Lage war genau die gleiche wie zehn Jahre später unter Zedekia!

Jojachin war damals achtzehn Jahre alt. Er hätte sich in der Stadt verschanzen können wie es später Zedekia tun würde. Jerusalem war nicht leicht zu nehmen. Trotz seiner Jugend aber traf er eine große Entscheidung. Er lieferte sich, seine Familie und den Hofstaat den babylonischen Eroberern aus, um sein Land zu retten! 

Viele müssen ihn dafür verachtet haben. Und die Strafe der babylonischen Großmacht war hart. Der Tempel und die Stadt wurden geplündert, und ein Teil der Elite musste das Land verlassen und sich in Babylonien ansiedeln — das sogenannte erste Exil. Aber das Land, Konjas Land, blieb in weiten Teilen intakt und konnte sich in der Folge erholen. Konja aber lebte marginalisiert, gefangen in Babylon. Hierauf und auf diesen Stand der Dinge bezieht sich unser Vers. 

In der Luther-Übersetzung von 1912 klingt unser Vers nun durchaus so, als ob auch Jeremia ihn verachtete. Aber warum sollte er? Konja/Jojakin hat seinerzeit genau das getan, was Jeremia selbst vehement von König Zedekia fordert, als die Geschichte sich in alptraumhafter Weise wiederholt. In der neuen Luther-Übersetzung von 2017 wird unser Vers als Frage gesetzt — „Ist denn dieser Mann Konja ein verachtetes, zerschlagenes Gefäß oder ein Gerät, das niemand haben will?“ Auch die katholische Einheitsübersetzung und die Übersetzung von Buber und Rosenzweig verfahren so. Die Lesart ist plausibel, aber letztlich eine Interpretation. Der hebräische Urtext lässt es schlicht offen. Fragezeichen gibt es im alten Hebräisch nicht und die Wortstellung von Frage- und Aussagesätzen ist dieselbe. 

Das Buch Jeremia endet mit der Rehabilitation Konjas — Jer 52, 31ff. Der Nachfolger Nebukadnezars, Ewil-Merodoch, erhebt Jojachin nach 37 Jahren der Gefangenschaft und bringt ihn zu hohen Ehren. Konja wurde zum ständigen Tischgenossen des mächtigsten Mannes der Welt. Die Erzählung steht an sehr herausgehobener Stelle am Ende der Schrift, und der Abschnitt ist ein wörtliches Zitat eines anderen Schlusses, des Endes des 2. Buchs der Könige. Es ist fast wunderbar zu nennen, dass diese Wendung, anders als viele andere Inhalte der Königsbücher, sich historisch-archäologisch klar belegen lässt: mit Funden babylonischer Keilschrifttafeln aus dem Jahr 1899! 

Wir können das auf zwei Arten lesen: aus der Perspektive Gottes und der eines Menschen. Ewil-Merodoch hat aus großer zeitlicher Entfernung (37 Jahre!) die Entscheidung Konjas bewundert, die Entscheidung eines damals sehr jungen Mannes, der unvermittelt vor eine existentielle Frage gestellt wird. Und bei Gott — bei Gott stehen Urteil und Gnade nebeneinander, für uns oft nicht zu entwirren. 

Auf geheimnisvolle Weise ist unser Vers tatsächlich beides. Er ist eine Aussage über Konja, zu der Zeit, als Jeremia spricht, aber auch eine offene Frage — eine Frage, die schließlich beantwortet wird, ausserhalb des Texts eigentlich, in einem Epilog. Die Gnade scheint im Buch Jeremia immer wieder als Möglichkeit auf. Hier wird sie ganz konkret. Man könnte das schwierige Buch aus dieser Dreiheit interpretieren: Aussage, Frage und Antwort.

Urteil und Gnade!

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

P.S. Von Jojachin ist in der Bibel später noch einmal die Rede: In Mat 1 wird er in der Ahnreihe eines anderen Königs genannt, Jesus von Nazareth.

Bibelvers der Woche 45/2021

Züchtige deinen Sohn, solange Hoffnung da ist; aber lass deine Seele nicht bewegt werden, ihn zu töten.
Spr 19,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Dein Stecken und Stab…

Ein schwieriger Vers, um es vorsichtig zu sagen. Ich habe zwei Kinder, die mich nicht selten an den Rand meiner Möglichkeiten bringen, und die ersten Assoziationen, die ich hatte, waren politisch nicht korrekt — von wegen „Vielleicht hätte ich die Bibel früher lesen sollen…“

Aber was steht hier? Ist es die Aufforderung, Gewalt einzusetzen? Der Text, den wir vor uns haben, ist rund 2300 Jahre alt. Das Verb jasar (יסר) im Althebräischen bedeutet sowohl züchtigen als auch erziehen. Eine klare Unterscheidung zwischen diesen beiden Konzepten gab es nicht. Sein Kind zu erziehen, bedeutete damals, es zu züchtigen. Für die Liebhaber unten ein Foto aus Wilhelm Gesenius‘ hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Neudruck der 17. Auflage 1915, mit den Facetten dieses Wortes.

Züchtigung / Erziehung bedeutete für denjenigen, der sie leistete, einen großen Aufwand — nur wenn (oder nur weil) Hoffnung auf Erfolg besteht, soll man sich die Mühe machen. Im Urtext steht hier כי, das würde man eher mit „weil“ als mit „solange“ übersetzen. Der zweite Teil des Verses bedeutet dem Erziehenden, maßvoll zu bleiben, sich nicht zu (massiven) Gewaltakten hinreissen zu lassen. Mit anderen Worten: Tu was, aber tu es maßvoll.

Unser Vers hat keinen direkten Kontext, er steht unverbunden in einer Reihe von Merksätzen zu verschiedenen Bereichen des Lebens. Aber es gibt im Buch der Sprüche eine Anzahl paralleler Stellen. Im Internet habe ich eine kleine Sammlung gefunden: 

  • 13,24: Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn, wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten. 
  • 22,15: Torheit steckt dem Knaben im Herzen, aber die Rute der Zucht treibt sie ihm aus. 
  • 22,13+14: Lass nicht ab, den Knaben zu züchtigen; denn wenn du ihn mit der Rute schlägst, so wird er nicht sterben; du schlägst ihn mit der Rute, aber du errettest ihn vom Tode.
  • 29,15: Rute und Tadel gibt Weisheit; aber ein Knabe, sich selbst überlassen, macht seiner Mutter Schande. 

Das ist herbe Sprache. Wiederum muß man bedenken, dass zwischen erziehen und züchtigen nicht unterschieden wird. Gewaltfreie Erziehung gab es nicht, das Gegenstück zu autoritärer Erziehung war nicht antiautoritär, sondern Vernachlässigung. Die gab es durchaus, das klingt durch. Erziehen bedeutet, Verhaltenstendenzen in einer Weise zu formen, dass sie dem Leben dienlich sind, dem Leben des Einzelnen und auch der ihn umgebenden Gemeinschaft. Das ist eine lebenswichtige Bringschuld der Eltern! Der homo oeconomicus, der stets in der Lagte ist, situationsadäquat rationale Entscheidungen zu treffen, braucht keine Erziehung. Aber er ist eine Fiktion. In Wahrheit sind wir für die vielen kleinen Entscheidungen und auch für die meisten großen auf unsere Verhaltenstendenzen angewiesen, auf dasjenige also, was wir ‚aus dem Bauch heraus‘ tun, weil wir es so gelernt haben, so gewohnt sind. 

Unser Vers und die anderen sagen den Eltern — in der Sprache des ersten Jahrtausends v. Chr. — dass sie sich die nötige Mühe geben müssen, dem Verhalten ihres Kindes eine Richtung zu geben, die dem zukünftigen Erwachsenen helfen, die richtigen Gewohnheiten anzunehmen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das Kind benötigt diese Weisung in grundlegender Weise (13,14 und 22,13f).

Eltern haben ihren Erziehungsauftrag von Gott. Und man glaubte, dass Gott seinerseits mit uns so verfährt, wie Eltern es mit ihren Kindern tun sollen. Dein Stecken und Stab trösten mich… In den Psalmen ist diese Idee fest verankert und auch bei den Propheten. Es wäre schön, nicht wahr? Unser Leiden hätte einen sehr konkreten, erzieherischen Sinn und Zweck. Wenn mir Unglück widerfährt, frage ich mich tatsächlich früher oder später, was ich daraus lernen kann. Und dann fällt mir oft einiges dazu ein. Aber nicht immer.

In den kommenden drei Wochen muss ich mich um meine beiden halbwüchsigen Töchter allein kümmern, neben der Arbeit. Wer uns kennt, weiss, das dies schwierig werden könnte. Wie leicht wäre es da, sie einfach tun zu lassen, was sie wollen, mir zum Nutzen, ihnen zum Schaden. Ich werde der Versuchung widerstehen, so gut es geht.

Ich wünsche uns allen, und diesmal besonders uns dreien, eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Erziehen und züchtigen: Wilhelm Gesenius, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, 17. Auflage 1915

Bibelvers der Woche 44/2021

Die waren alle Kinder Jediaels, Häupter ihrer Vaterhäuser, gewaltige Männer, siebzehntausend zweihundert, die ins Heer auszogen, zu streiten.
1.Ch 7,11

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Jediaël — Botschaft Gottes

In den ersten Kapiteln von 1.Ch werden die dramatis personae vorgestellt, die Völker der Staaten Israel und Juda und ihre Führer, und dies geschieht über ihre Stammtafeln, siehe dazu den BdW 18/2020. Wir haben einen Vers aus dem Abschnitt über den Stamm Benjamin gezogen. Benjamin, so heisst es da, hatte drei Söhne, Bela, Becher und Jediaël. Dann werden die Kinder dieser Söhne genannt. Zu Jediaël wird geschrieben (Luther 2017): Der Sohn Jediaëls aber war: Bilhan. Bilhans Söhne aber waren: Jëusch, Benjamin, Ehud, Kenaana, Setan, Tarsis und Ahischahar. Die waren alle Söhne Jediaëls, Häupter der Sippen, gewaltige Männer, 17200, die als Heer ausziehen konnten zum Kampf. 

So weit, so gut. Ich stelle mir gern die Söhne Jediaëls vor, „Häupter der Sippen, gewaltige Männer“. In meinem Kopf ist das Patriarchat durchaus noch nicht verschwunden. Aber eine Frage tut sich auf, wenn man ein wenig weiterliest. Gleich am Anfang des nächsten Kapitels gibt es eine andere Stammtafel Benjamins, und zwar im Kontext der Ahnenreihe Sauls. Dort steht (8,1+2): Benjamin aber zeugte Bela, seinen Erstgeborenen, Aschbel als zweiten Sohn, Achrach als dritten, Noha als vierten, Rafa als fünften. Von Jediaël ist nicht die Rede, nur Bela taucht in beiden Ahnreihen auf. Gab es Jediaël überhaupt? 

Es wird noch unangenehmer. Ahnreihen Benjamins gibt es bereits in der Thora. Gen 46,21 lautet: Die Söhne Benjamins: Bela, Becher, Aschbel, Gera, Naaman, Ehi, Rosch, Muppim, Huppim und Ard. Bela und Becher kennen wir aus 1.Ch 7 bereits. Huppim und Mumim tauchen als Nachkommen von Ir, einem Sohn von Bela auf. Aschbel kennen wir aus der Ahnenreihe in Kapitel 8. Gera und Naaman tauchen dort unter den vielen Söhnen von Bela auf. Was ist mit Ehi, Rosch und Ard? Und Jediaël?

Eine vierte Ahnenreihe finden wir in Num 26, 38-41: Die Söhne Benjamins nach ihren Geschlechtern waren: Bela, daher kommt das Geschlecht der Belaiter; Aschbel, daher kommt das Geschlecht der Aschbeliter; Ahiram, daher kommt das Geschlecht der Ahiramiter; Schufam, daher kommt das Geschlecht der Schufamiter; Hufam, daher kommt das Geschlecht der Hufamiter. Die Söhne Belas aber waren: Ard und Naaman, daher kommt das Geschlecht der Arditer und Naamaniter. Das sind die Söhne Benjamins nach ihren Geschlechtern, an Zahl 45600.

Bela wird wieder als erstes genannt, Aschbel kennen wir aus der Ahnreihe Sauls in 1.Ch 8, Ard und Naaman kennen wir aus Gen 46, dort allerdings als Söhne Benjamins, nicht als Enkel. Die Namen Ahiram, Schufam und Hufam finden sich in keiner der anderen Stammtafeln. Becher wird in Num 26 als Sohn Ephraims, nicht Benjamins genannt. Von Jediaël keine Spur.

Mmmh…. Als gesichert könnte man mitnehmen, dass Benjamins ältester Sohn Bela hieß, und dass er darüber hinaus weitere Söhne hatte. Jediaël, von dem unser Vers handelt, taucht in keiner der anderen Stammtafeln auf. Ist er ein Gespenst?

Das gibt es öfter in der Bibel. Gleich ganz am Anfang, in Gen 1 und 2, finden wir hintereinander zwei Schöpfungsberichte, die sich gegenseitig ausschließen. Wie gehen wir damit um? Die überlieferten Schriften sind durch Kompilation und Redaktion unterschiedlicher Quellen entstanden. In ältere Überlieferungen werden dabei fremde Texte integriert, denen Autorität zukommt. Oft aber bleiben die originalen Versionen daneben bestehen. Jüdische Redaktoren löschen nichts, aus Ehrfurcht vor der Schrift. Christliche (evangelische) Theologen versuchen dann, durch Abschichtung der Textebenen die ursprünglichen Texte zurückzugewinnen. Manchmal gelingt das überzeugend. Man steht dann vor zwei oder mehreren verschiedenen Texten und kann Hypothesen über ihre Herkunft bilden. Aber was machen wir damit? 

Der Anspruch, Wahrheit zu repräsentieren, gehört zum Wesenskern der Bibel. Sie hört auf, Bibel zu sein, wenn wir sie als fiktionalen Text oder als geronnenen Zeitgeist der Jahrtausende lesen. Jüdische Interpreten bilden daher in solchen Fällen Konjekturen und Interpretationen, die es erlauben, alle sich scheinbar widersprechenden Darstellungen gleichermaßen wahr sein zu lassen. Solche Konjekturen können sehr kunstvoll sein, so kunstvoll, dass es nicht leicht fällt, eine Wahrheit zu akzeptieren, die davon getragen wird, davon abhängig ist.

Ich selbst mache ein wenig von beidem und doch etwas anderes. Die Wahrheit, die die Bibel abbildet, ist göttlicher Natur. Dies Abbild muß nicht notwendigerweise ein logisch konsistentes, widerspruchsfreies System von Aussagen bilden. Wir können in der Bibel nach der ihren Textteilen je innewohnenden Wahrheit suchen. Diese Wahrheit ist in der ersten Schöpfungsgeschichte eine andere als in der zweiten, und in der Genealogie von Chr. 7, die auf Heerformationen fokussiert, eine andere als im Stammbaum Sauls. Ich kann und muss Bibelstellen zusammen lesen, um sie zu verstehen. Dazu suche ich solche, welche die Stelle erleuchten, die ich zu verstehen suche, nicht diejenigen, die zu ihr im Widerspruch stehen. Je nachdem, wo ich anfange, betrachte ich manche Textstücke und andere nicht. Ich bleibe mir dabei der Existenz jener anderen aber stets bewusst. Es sind andere Wahrheiten, nicht die, um die es jetzt gerade geht. Jediaël ist kein Gespenst, es gibt ihn! Der Name, hebräisch ידיעאל, bedeutet: „Kunde / Botschaft Gottes“.

So kann ich auch mit Widersprüchen zur historischen Evidenz und zur Naturwissenschaft umgehen. Ich sehe sie — und versuche den Text zu verstehen. Auch wenn Archäologen zeigen, dass Jericho nie eine Mauer hatte und es historisch eine kriegerische Landnahme Palästinas durch einen Verband hebräischer Stämme nicht gegeben haben kann. Gelernt habe ich das bei der Arbeit am Bibelvers der Woche. Das Verfahren wirkt ein wenig unwissenschaftlich. Man muss zulassen, dass es mehrere Wahrheiten gibt, die im Widerspruch zueinander stehen, aber dennoch — wahr sind. Und ich denke, dass es genau so ist. Man muß es aushalten. Hinter den sich widersprechenden Wahrheiten mag eine übergeordnete Wahrheit liegen, die wir nicht erkennen können. 

ידיעאל — Botschaft Gottes. Was für ein Name!

Genug der Philosophie. Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth