Bibelvers der Woche 07/2021

Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. So jemand die Welt liebhat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters
1. Joh 2,15

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gott und die Welt

Absage an die Welt — mit diesen Worten ist in der neuen Lutherbibel der Abschnitt überschrieben, aus dem unser Vers stammt. Der Vers gibt einen Kern johannäischer Theologie wieder: den Dualismus von Göttlichem und Weltlichem. Es gibt ihn bereits im jüdischen Ursprung des Christentums, aber bei Johannes wird eine Gegnerschaft, eine Feindschaft daraus. Die Welt hat sich gegen Gott entschieden und sich ins Dunkel gewandt. Gott hat seinen Sohn geschickt, fleischgewordene Torah, er ist das Licht im Dunkel, zu dem die Menschen sich wenden können — und es zumeist nicht tun. Die Welt ist vergänglich und dem Untergang geweiht und mit ihr jeder, der sich an ihr festhält. Ewig hingegen ist Gott: wer sich dem Licht zukehrt, den nimmt er auf. 

Wir haben also die Wahl zwischen der Liebe des Vaters und dem Hang zur Welt, sagt Johannes.

Der Dualismus hatte eine ungeheure Wirkung in der Geschichte der christlichen Religion. Die Gegnerschaft von Gott und Welt festzustellen ist gleichbedeutend mit der Aufforderung, sich der Welt ab- und Gott zuzuwenden. In der Frühzeit der Kirche waren es die Eremiten und Asketen, später die Mönchsorden, die Büßer und die Ordensritter, die diesem Ruf folgten. Der große Prediger Wilhelm Busch spricht von der „verfluchten Welt“, die jeder Großstadtpfarrer kennt.

Wovon sollen wir uns abwenden? Sich von der Welt abzuwenden kann ja auch bedeuten, die eigenen ungelösten Probleme zu entsorgen, in der Gewissheit noch dazu, das Rechte zu tun. Wilhelm Busch meint eine Welt ohne Gott, die sich sinnlos um sich selbst dreht. Man kann sein Leben in Selbstmord wegwerfen, sagt er, oder in Vergnügen und Genießen. 

Aber die Welt — das sind auch Sonne, Mond und Sterne, das Meer und der Himmel über dem Gebirge, sind Ehepartner, Kinder, Eltern und Freunde, Musik und Kunst. Hat nicht Gott die Welt erschaffen? Ist sie nicht sein Interface, spricht er nicht durch sie zu uns? Die Welt als Ganze abzulehnen wirkt wie eine höhere Form der Undankbarkeit — und auch etwas arrogant. Kann ich meinen Nächsten lieben, wenn ich die Welt hasse? Gott selbst sehen wir nicht — wenn wir ihn nicht in der Welt und in den Menschen suchen, die darin leben, so können wir ihn nur in uns selbst zu finden hoffen, wie es die Mystiker taten. Kann ich das wagen? 

Wir alle sind ja auf Entzug gesetzt, was die Welt betrifft, und Fasten schärft die Sinne. Ich bin heute (Dienstag) nach mehreren Tagen wieder draussen. Es ist ein hellsonniger Tag, klirrend kalt, nach so vielen dunklen Wochen. Matsch und Morast sind überfroren von Reif, Eis und Schnee, der Boden trägt wieder und ist griffig, das Gehen fällt leicht, trotz der Rückenschmerzen. Das Eis blitzt. Kälte und Licht ergreifen nach und nach Besitz von den trüben Gedanken und machen sie bedeutungslos und unwirklich. Ich kann wieder reden mit Gott und meinen Platz sehen in der Welt. Ich schicke einer Freundin einige Bilder.

Nein, wenn ich mich gänzlich abkehre von der Welt, kann ich mich ebenso verlieren, wie wenn ich ihr verfalle. Abkehren muß ich mich von dem, was krank macht an Leib und Seele. Das ist sicherlich viel, aber ebenso sicherlich nicht alles. Denn auch Gott ist in der Welt, sonst wäre sie nicht. 

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 06/2021

Wie man einen Knaben gewöhnt, so lässt er nicht davon, wenn er alt wird.
Spr 22,6

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Wann werden wir, was wir sind?

Ja, so ist. Das meiste dessen, was wir sind, sind wir von Jugend auf. Die Kinder übergewichtiger Eltern sind öfter als andere selbst übergewichtig. Wenn in einem Haus viel Musik gemacht wird und Kinder ein Instrument spielen lernen, bleibt ihnen Musik oft ins Alter hinein erhalten. So steht es auch mit Bewegungsgewohnheiten und Sport und dem Gebrauch der Sprache, aber auch grundlegenden Persönlichkeitsmerkmalen wie Leistungsmotivation oder Frustrationstoleranz.

Wieviel von dem, was Sie heute ausmacht, waren Sie schon mit 15 oder 18 Jahren? Wir kommen zur Welt und alles an uns ist Potential, ist offen, im genetisch gegebenen Rahmen jedenfalls. In der Jugend erhält dieses Potential seine Ausprägung, koaguliert und gerinnt der fast unendliche Raum von Möglichkeiten zu dem, was wir Persönlichkeit nennen. Man mag dies als Verlust bedauern, aber die Persönlichkeit ist das Chassis für die Fahrt durchs Leben. Ohne ihre Strukturen, ihre Gewohnheiten geht es nicht. 

Der 2500 Jahre alte Merksatz trifft also den Nagel auf den Kopf. Aber führen wir wirklich nur das Skript aus, das unsere Jugend für uns geschrieben hat? Schimpansen sind uns sehr ähnlich. Bei ihnen aber schliesst sich mit der Pubertät das Fenster, in dem sie lernen können. Sie sind dann „fertig“. Der Mensch ist offener. Wir können uns aktiv mit den Problemen auseinanderzusetzen, in die unsere Gewohnheiten uns bringen, auch als Erwachsene noch. Bei manchen mögen zum Beispiel die erworbenen Essgewohnheiten zu einer Krise und zu einer bewussten Neubesinnung führen. Hier ist die Verantwortung für das eigene Leben verortet. Die Jugend ist der Aufschlag für das Spiel, aber der Punkt ergibt sich aus dem Ballwechsel. 

Zum Buch der Sprüche und seinen Eigenarten habe ich vor einigen Wochen geschrieben, und auch davon, dass seine Einsichten nicht im engeren Sinne theologisch sind, siehe den BdW 50/2020. Es geht um Weisheit für das Leben als Ganzes. Der Vers mag uns in zweifacher Weise an unsere Verantwortung erinnern. Zum einen ist es gleichermaßen schwierig und notwendig, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Nie können wir uns einfach wünschen, jemand anders zu sein — wir müssen uns mit unserer Bedingtheit auseinandersetzen. Aber tun wir es nicht, bleiben wir in unseren Routinen gefangen. 

Zum anderen tragen wir mit unserem Leben in der Familie eine Verantwortung für unsere Kinder. Die Machtkämpfe, das Geschrei, sind am Ende unwichtig — unter dem Strich bleibt, was die Kinder in ihrem Leben „danach“ stark macht oder schwach, glücklich oder unglücklich. Das kann eine wichtige Anregung sein, wenn man monatelang zu viert eingesperrt ist. 

Zuletzt mag man sich fragen, was eigentlich unsere Seele ausmacht — ist es der unendliche Möglichkeitenraum des Kindes oder die geronnene Persönlichkeit des Erwachsenen? Worin sind wir Gott näher? „Ihr sollt werden wie die Kinder“, sagt Jesus, „denn ihrer ist das Himmelreich.“ Vielleicht schließt sich da ein Kreis.

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 05/2021

Aber ehe sie sich legten, kamen die Leute der Stadt Sodom und umgaben das ganze Haus, jung und alt, das ganze Volk aus allen Enden,…
Gen 19,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Straft Gott?

Im Buch Genesis stehen viele der schönsten und einige der furchtbarsten Geschichten in der Bibel, zu letzteren gehört die Vernichtung von Sodom. Ihre grobe Struktur ist ganz ähnlich der Sintflutgeschichte. Gott hört von den unseligen Taten und dem sündigen Leben der Einwohner dieser Stadt und will sie als Kollektiv vernichten. Er spricht mit Abraham davon, und dieser wendet ein, es könnte doch auch Gerechte unter den Bewohnern geben. Sicher denkt er dabei auch an seinen Bruder Lot, der in Sodom lebt, seitdem er sich von Abraham getrennt hat. Und Abraham handelt regelrecht mit Gott darum, wieviele Gerechte die Vernichtung der ganzen Stadt zu einem Unrecht machen würden — siehe den Bibelvers der Woche 40/2019. Gott verspricht, sich die Stadt und ihre Einwohner anzusehen, aus der Mikroperspektive. Zwei Engel Gottes besuchen die Stadt, Lot lädt sie ein, bei ihm zu speisen und zu nächtigen. 

An dieser Stelle steht der Vers. Hier soll ein Exempel statuiert werden, auch für den Leser. Deshalb macht die Bibel den Fall ganz klar: Die Einwohner der Stadt, ALLE ohne Ausnahme, versammeln sich um Lots Haus, um schreckliches Unrecht zu begehen: gemeinschaftlich wollen sie die beiden Engel des Herrn vergewaltigen. Dabei wird ganz irdisch das Gastrecht verletzt, mit einer sexuellen Aberration, welche die Bibel zutiefst verabscheut. Die Engel aber stehen stellvertretend für Gott selbst, daher ist das Vergehen nicht mehr zu steigern.

Obwohl Lot über das Wesen seiner Gäste im Unklaren bleibt, tut er alles — wirklich alles — das Gastrecht zu verteidigen, sein Schutzversprechen einzulösen. Er bietet der Meute als Ersatz seine beiden Töchter an, und macht sich dabei selbst schuldig. Die Städter wollen statt dessen über ihn, den Fremden herfallen, da ziehen die Engel ihn ins Haus und schlagen die Anwohner mit Blindheit. Im Schutz der Dunkelheit flieht die Familie: die Engel führen Lot, sein Weib und die beiden Töchter aus Sodom, bevor sie die Stadt mit Feuer und Schwefel vernichten, und später auch die umliegenden Siedlungen.

Der Vergewaltigungsversuch, von einer ganzen Stadt getragen, ist an sich vollkommen unplausibel. Die Geschichte hat Lehrcharakter und will nicht wörtlich verstanden werden. Die Aussage ist: Gott straft, wenn es zu viel wird, und er straft auch kollektiv. Dabei ist er gnädig, sieht auf das Verdienst und er gibt auch zweite und dritte Chancen, aber es gibt einen Punkt, an dem alles zu spät ist. Das ist im Vers der letzten Woche übrigens auch die Aussage des zweite Teils, über den ich nicht so viel gesprochen habe. Diese Aussage zieht sich nicht nur durch das Alte Testament — in einer großen Zahl apokalyptischer Bilder wird das Gericht auch im Neuen Testament ausbuchstabiert. 

Das Gericht ist unmodern geworden. Evangelische Theologen halten heute meist dafür, dass Gott sich aus der Geschichte herausgezogen habe und uns Menschen die Verantwortung dafür überlasse. Wie man früher hinter jedem Übel eine Sünde gesehen hat, die damit ihrer gerechte Strafe zugeführt wird, sieht man heute gern gesellschaftliche Missstände aller Art, nicht aber Gottes Wirken. 

Die Aussage der Bibel ist klar eine andere: Gott sieht, was geschieht und reagiert darauf. Geschichte entsteht in einem Wechselspiel der Aktionen Gottes und der Menschen. Auch die Bibel betont eine Verantwortung des Menschen, aber nicht direkt einer abstrakten Schöpfung oder „der“ Menschheit gegenüber, sondern konkret vor Gott. Diese Überzeugung hat sich in den beiden Katastrophen der Geschichte Israels gebildet, der Vernichtung erst des Nordreichs, und dann des Südreichs. Sie durchtränkt alle Fasern der jüdischen Bibel, deren Texte während und nach dem Exil kompiliert und redigiert wurden. Die Vernichtung Jerusalems und des Tempels durch die Römer hat die Sicht bestätigt, auch für die sich bildende christliche Kirche. 

Was ist wahr? Offen gestanden, ich weiss es nicht. Warum eigentlich sollte Gott permanent die Verletzungen seiner Gebote verfolgen? Tut er das wirklich? Das fragen oft auch die Psalmen. Sie fragen, weil das Gegenteil Unrecht wäre. Wenn Putin nun für seine Taten einfach ein gutes Leben hätte, in einem riesigen, königlichen Palast am Schwarzen Meer, dazu blendende Gesundheit und schöne Frauen? Werden nur manche Menschen bestraft, nicht aber alle? 

Uns muss klar sein, dass der christliche Glaubenskern — von der Gnade, die der Tod des Sohns für die erwirkt, die die Gnade annehmen — ausgesprochen sinnfrei ist, wenn es nichts gibt, das diese Gnade wichtig und not-wendig machte. Das Christentum ist eine Antwort auf die Vorstellung vom strafenden Gott. Die sozialdemokratische Vision Gottes verträgt sich nicht mit dem Bild des sterbenden Christus, er muß einen schrecklichen Fehler gemacht haben, er hat offenbar etwas ganz  Wichtiges nicht verstanden.

Noch einmal, wie ich hier sitze und schreibe, weiss ich es nicht. Zieht Gott uns zur Verantwortung? Um es an einem konkreten Beispiel festzumachen: ist Corona Ausdruck einer überzogenen Globalisierung und Interaktionsdichte, ganz hydraulisch sozusagen, oder steckt eine Botschaft darin? Eine Aufforderung? Lassen Sie uns mit dieser Frage in die nächste Woche gehen, ich glaube, die Antwort ist wichtig, auch wenn sie nur vorläufig, partiell und persönlich ist. 

Vielleicht hilft der folgende Test: ich selbst habe durchaus das Gefühl, ein Gegenüber zu haben, wenn ich über Corona nachdenke.

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 04/2021

Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.
Joh 3,36

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Nur Gott weiß, wie…!

Aus Joh 3 haben wir schon in der letzten Woche gezogen. Das ist bemerkenswert. Laut Wikipedia hat die christliche Bibel (ohne die Apokryphen) 1189 Kapitel in 66 Büchern. Die Wahrscheinlichkeit, dass man zweimal hintereinander aus demselben Kapitel zieht, beträgt also — wenn alle gleich lang wären — rund 1/1200.  So etwas geschieht im Durchschnitt alle 23 Jahre.

Auch inhaltlich schließt der gezogene Vers eng an den der letzten Woche an, obwohl der Kontext ein ganz anderer ist. Der Vers wird gesprochen von Johannes dem Täufer. Dieser äußert sich hier ein letztes Mal zu Jesus. Jesus gewinnt Jünger, mehr als Johannes, und diese Jünger taufen viele Menschen. Die Jünger des Johannes wenden sich besorgt an ihren Meister. Was ist davon zu halten? Johannes betont noch einmal, dass er selbst nicht der Christus ist, sondern dass er den Christus verkündet. Der vom Himmel kommt, so sagt er, ist über allen. Der Sohn sagt, was er gesehen hat, und sein Zeugnis nimmt auf Erden niemand an. Wer es doch annimmt, der besiegelt die Wahrhaftigkeit Gottes, eine Entsprechung zu Joh 1,11f. Dann schließt Johannes seine Worte mit dem gezogenen Vers. 

Ganz wie in der letzten Woche: der Mensch erzeugt seine Realität selbst durch die Glaubensentscheidung. Das Licht kommt in die Welt und an ihm schieden sich die Geister. Gott schafft in Christus einen Weg aus der Verstrickung in Schuld. Wer den Weg geht, ist frei, wer ihn nicht geht, bleibt unter dem Zorn des Herrn. So einfach. Und so schwierig.

Denn was ist aus dem Gesetz geworden? Hat es sich aufgelöst? Genügt es, an den Christus zu glauben und alles ist gut?

Der Vers ist hier, in der Lutherbibel 1912, mißverständlich übersetzt. Das Wort „glaubt“ taucht zweimal auf. Beim ersten Mal steht im griechischen Original pisteuein, das bedeutet ‚glauben‘ im Sinne von ‚vertrauen‘, es steht für eine Haltung, nicht für Meinung. Bei der zweiten Nennung steht apeithon, ’nicht gehorsam sein‘, und so gibt es auch die Einheitsübersetzung wieder, ebenso wie die Lutherbibel 2017. Es geht also darum, Jesus zu folgen, seine Lehre ernst zu nehmen und den Versuch zu machen, sie im eigenen Leben umzusetzen. Jesus fordert Nachfolge, auch wenn das heute politisch unkorrekt klingt, siehe auch Joh 8,51.

Jesus hat eine hohe Affinität zum mosaischen Gesetz. Dabei destilliert er die Essenz, und die Essenz ist ihm wichtiger als der Wortlaut. Er ruft dazu auf, in eigenen Leben Platz zu schaffen, den Bedürftigen zu geben, er fasst das Gesetz im Liebesgebot zusammen: Gott zu lieben über alles und den Nächsten wie sich selbst. Das ist nicht jedermanns Sache. 

Nun tauschen aber die Jünger Jesu nicht einfach einen Kodex gegen einen anderen, in mancher Hinsicht schwierigeren. Der Vers spricht die rauhe Sprache des Täufers, aber sein Kern ist die Heilszusage:, die Frohe Botschaft: Wenn du es ernst meinst und Jesus folgst, so wirst du versuchen, seinen Weg zu gehen. Dabei wirst du immer wieder scheitern und in die Irre gehen. Kläglich gar oder lächerlich. Aber Gottes Gnade macht, dass du doch dein Ziel erreichst. Nur Gott weiß, wie…!

Ja. Diese Gnade des Herrn sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 03/2021

Wer aber die Wahrheit tut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden; denn sie sind in Gott getan.
Joh 3,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Die Wahrheit tun

Ein Pharisäer namens Nikodemus, ein Gesetzeslehrer, kommt nachts zu Jesus. Er ist überzeugt, dass Jesus in einer besonderen Beziehung zu Gott steht und will mehr wissen. Jesus spricht zu ihm von der Wiedergeburt aus dem Geist. Und dann von seiner Mission: der eingeborene Sohn Gottes ist in die Welt gekommen, sie zu retten, nicht sie zu richten. 

Was Jesus dem Nikodemus dann erklärt, führt in das Zentrum seiner Botschaft. Gott hat das Licht gesandt, und die schiere Anwesenheit des Lichts bewirkt, dass die Menschen ihr Wesen offenbaren. Wer seine Werke verbergen will, sie verbergen muss, meidet das Licht und bleibt im Schatten. Andere kommen hin zum Licht, es sind die, die das Licht brauchen, damit ihre Werke gesehen werden, damit sie wirksam werden können. Einen Richter, der die beiden Gruppen trennt, braucht es gar nicht, die Menschen richten sich selbst. Das ist sehr modern, es hat nichts mit der Vorstellung vom Jüngsten Gericht zu tun, die uns so vertraut ist. 

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“, „…wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst“ — das sind Kernbotschaften Jesu, und immer wirkt darin, was wir tun, auf uns selbst zurück, bekommt ein Echo, auf unterschiedliche Weise. Das Reich Gottes hat schon begonnen, wir sind frei, darin zu leben, schon hier und jetzt. Tun wir es, dann sind und bleiben wir Teil davon — wenn nicht, dann eben nicht. Gott weist uns den Weg in sein Reich, unsere Hölle machen wir uns selbst. 

Der Vers enthält weitere Geheimnisse. Üblicherweise sagen wir die Wahrheit (oder auch nicht). Was bedeutet Wahrheit tun? Das Tun an der Wahrheit (Gottes) ausrichten? Oder ist es mehr, kann man Wahrheit aktiv tun, wie man Gutes oder Böses tut, einen Gefallen oder einen Wunsch? Die Wahrheit Gottes in die Welt setzen? Das Licht zum Strahlen bringen? Und was heisst ‚in Gott getan‘? Ist das für Gott oder mit Gott oder durch Gott? Ist etwas Endgültiges gemeint, etwas überirdisch Dauerndes? Ist ‚in Gott‘ das Gegenstück zu ‚in der Welt‘? Eine Entsprechung von irdischem und metaphysischem Tun, gut katholisch? 

Wer die Wahrheit tut, dessen Werke sind in Gott getan — dies wäre eine Kurzform des Verses, und ich weiss nicht genau, was sie bedeutet. Sie erinnert mich an meinen Konfirmationsspruch, Befiel dem Herrn deine Werke, und sie werden gelingen (Spr 3,16). Aber irgendwie spielt der erste Satz in einer anderen Liga als der zweite — Europacup statt Kreisklasse. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert“, schreibt Marx. „Es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Wer ‚Wahrheit tun‘ sagt, für den ist dieser Gegensatz offenbar bedeutungslos.

Was hat Nikodemus aus diesem Gespräch mit in seine Nacht genommen? Niemand sonst war zugegen, er selbst war es also, der Jesu Worte tradiert hat. Hat er da die Wahrheit getan? Einige Jahre später war der Pharisäer Mitglied des Hohen Rats, als er versuchte, die Verurteilung Jesu zu verhindern. Noch etwas später half er bei der Grablegung Jesu.

Wenn es uns in dieser Woche an irgendeiner Stelle gelingt, die Wahrheit zu tun, werden wir es nicht einmal merken — aber es wird gut sein, und das Licht strahlt heller. So soll es sein.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 02/2021

Alle Welt fürchte den Herrn; und vor ihm scheue sich alles, was auf dem Erdboden wohnt.
Ps 33,8

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Sich verlieren, die Welt gewinnen

Im Konfirmandenunterricht habe ich gelernt, dass es drei Arten gibt, zu Gott zu sprechen: Bitte, Dank, und Lobpreis. Bitten, das kann jeder, das können auch die Allerkleinsten, sie schreien, wenn etwas fehlt. Danken ist schon schwieriger, aber auch Dank hängt eng an dem, was wir von Gott wollen. Lobpreis will nichts. Es geht um das Sein Gottes, nicht mehr um das, was sein oder auch nicht sein soll. Das erschien mir geheimnisvoll und überraschend, darum habe ich es mir gemerkt. 

Auch in den Psalmen gibt es diese drei Arten zu sprechen — und noch einige mehr übrigens, von denen im Konfirmandenunterricht nicht die Rede war: Rechtfertigung, Hoffnung, Zweifel, Verzweiflung, Ergebenheit und Fluch, letzteres ziemlich oft sogar. Unser Vers ist Lobpreis. Was der Betende wünscht und will, seine ganze Person, tritt in den Hintergrund:

Alle Welt fürchte den Herrn,
und vor ihm scheue sich alles, was auf dem Erdboden wohnet.
Denn wenn er spricht, so geschieht’s;
wenn er gebietet, so steht’s da. 

Auch Lobpreis will etwas erreichen, auch wenn man es nicht gleich sieht. Der Betende gibt seine eigene Perspektive auf und rekonstruiert die Welt aus der Sicht Gottes, gewinnt sie damit neu. 

Haben Sie heute die Welt schon verwandelt? Bleiben Sie doch ein paar Minuten bei den Versen oben. Ich wünsche uns in dieser Woche die Sicherheit, die wir brauchen, damit wir uns aufgeben können,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 01/2021

Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließet vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen.
Mat 23,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Wald und Bäume

Jesus steht für Liebe — der Kern seiner Ethik hebt den Gegensatz auf zwischen dem Individuum und seiner Umwelt. Ein besonders friedlicher Mensch war er dabei nicht. Er konnte scharf und verletzend sein und Hierarchien bedeuteten ihm nichts. Wäre ein konzilianter Jesus von Nazareth am Kreuz gestorben? Wohl kaum — wer hätte ein Interesse daran gehabt? 

Der für diese Woche gezogene Vers ist ein Satz von der Art, die den Kopf kosten können. Pharisäer und Schriftgelehrte vertraten eine am Wortlaut orientierte Sicht auf die Gebote der Thora — sie zogen einen ‚Zaun um die Thora‘, wie man heute sagt, damit sie nicht verletzt werde. Für Jesus war das ein Irrweg. Das Reich Gottes war nahe herbeigekommen, hatte im Kern schon eingesetzt und wer mit Äusserlichkeiten vom Eigentlichen ablenkt, versperrt den Weg. Pharisäern und Schriftgelehrten hingegen galten Führer wie Johannes und Jesus als Quelle von Disziplinlosigkeit und Chaos; schlimmer noch: als Schwarmgeister, die ihre Nachfolger dem Gesetz entfremdeten, das Gott uns anvertraut hat. 

Jesus konnte aus vielen einzelnen Vorschriften die Essenz ziehen, er sah den Wald und nicht die Bäume und wies den Weg: „Das Reich Gottes ist da und es ist nicht da — lebt es, dann ist es Wirklichkeit, für euch und durch euch“, und „Wie ihr übereinander urteilt, wird der Vater über euch urteilen“, und „Liebt Gott über alles und den Anderen wie euch selbst“. Schwer und gleichzeitig einfach. Seine Worte über Pharisäer und Schriftgelehrte in Mat 23 aber hatten nichts Versöhnliches mehr, das Tischtuch war zerschnitten. Der Schnitt tut weh, immer noch. 

Liest man den Text, mag man auch ins Heute schauen. Wer befördert mit seinen Feststellungen und Urteilen über Gottes Wort und Willen die eigenen Interessen, auf Kosten derer, die abgelenkt werden? Die Falle der Selbstgerechtigkeit steht aufgespannt da. Und da müssen auch kleine Blogger gut aufpassen…

Gottes Segen sei mit uns — im neuen Jahr und immer,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 53/2020

Er hat von Angesicht zu Angesicht mit euch aus dem Feuer auf dem Berge geredet.
Dtn 5,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Theophanie

Wenn wir beten, sprechen wir aus, was wir von Gott wollen. Aber was will Gott von uns? Auf diese Frage stoße ich zur Zeit immer wieder, auch in mir selbst.

Der Vers erinnert daran, dass Gott selbst es uns gesagt hat und zwar direkt und unmittelbar, so dass es jeder hören konnte. Vom Berg Sinai aus hat Gott dem Volk Israel die zehn Gebote verkündet. Danach waren die Israeliten so mit Angst erfüllt, dass sie die weitere Auseinandersetzung mit dem mächtigen und unheimlichen Gott dem Mose überliessen — er sollte mit Gott sprechen und seinen Willen weitergeben. Die zehn Gebote aber waren von Gott dem Volk unmittelbar verkündet. Ex 20 und Dtn 5 enthalten leicht unterschiedlichen Fassungen. Hier ist Dtn 5, 6-21 aus der Lutherbibel 2017:

Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Du sollst dir kein Bildnis machen in irgendeiner Gestalt, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist. Du sollst sie nicht anbeten noch ihnen dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.
Den Sabbattag sollst du halten, dass du ihn heiligst, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Rind, dein Esel, all dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt, auf dass dein Knecht und deine Magd ruhen gleichwie du. Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst und der Herr, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm. Darum hat dir der Herr, dein Gott, geboten, dass du den Sabbattag halten sollst. 
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat, auf dass du lange lebest und dir’s wohlgehe in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird. 
Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht ehebrechen.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Acker, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was sein ist.

Gott erscheint und spricht. Nicht zu einzelnen, die sich dann Fragen zu ihrer geistigen Gesundheit gefallen lassen müssten, sondern zu allen gleichzeitig, so dass jeder seinen Nachbarn fragen kann, ob er dasselbe gehört hat. Und dass auch in Zukunft kein Zweifel aufkommt, schreibt Gott das Gesprochene eigenhändig auf zwei Steintafeln, als Bundesurkunde. Noch stärker lässt sich die Bedeutung dieser Gebote nicht unterstreichen. Die Tafeln wurden in der Bundeslade getragen und im Allerheiligsten zunächst der Stiftshütte, später des Tempels aufbewahrt. Sie standen für die Gegenwart Gottes selbst. Im Tempel wurden sie jeden Morgen rezitiert. Viele der Ge- und Verbote in den fünf Büchern Mose lassen sich unmittelbar aus den zehn Geboten ableiten. Die zehn Gebote sind Kern auch der christlichen Ethik, so unklar sonst auch das Verhältnis zum mosaischen Gesetz ist. Jesus nennt sie ausdrücklich als Voraussetzung für ein gottgefälliges Leben (Mk 10,19) und er zitiert sie immer wieder einzeln. Das Doppelgebot der Liebe kann als Zusammenfassung der zehn Gebote betrachtet werden.

Die zehn Geboten sind uns direkt gegeben, ohne jede Vermittlung. Wenn man sich fragt, was denn eigentlich Gott von uns will, geben sie eine gute, praktische, aber auch verbindliche Antwort. Vielleicht ist es nicht für die ganze Antwort, aber wie immer diese lauten mag: die zehn Gebote sind ein wichtiger Teil. Die Beziehung mit Gott ist ein Bund, und ein Bund hat zwei Seiten. In den Tagen, seit ich den Vers gezogen hatte, habe ich sie jeden Morgen gelesen, sozusagen als Morgengebet.

Heute ist Weihnachten. Das Jahr endet und ein neues beginnt. Worauf kommt es an, worauf soll es ankommen? Ich wünsche uns schöne Feiertage und eine gute und ruhige Woche bis zum Jahresende, in Gottes Schutz,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 52/2020

Und er ging zu Hagar, die ward schwanger. Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Frau gering gegen sich.
Gen 16,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Maschine und Keil

Im Jahr 1985 veröffentlichte Margaret Atwood einen Roman, der später verfilmt wurde und als Vorlage für eine Serie diente. Der deutsche Titel lautet Der Report der Magd. Aufgrund chemischer, bakteriologischer und radioaktiver Verseuchung sinkt die Fruchtbarkeit der Menschen in den USA drastisch. In der Folge wird Fruchtbarkeit wichtiger als alles andere. Eine christlich-fundamentalistische Gruppierung übernimmt die Macht und verwandelt das Land in einen Gottesstaat. Die Frau wird auf ihre Funktion als Gebärerin fokussiert und beschränkt. Frauen verlieren ihre bürgerlichen Rechte. Sie sind dabei aber ausgesprochen ungleich. Während Ehefrauen den höchsten Status einnehmen, gibt es neben einer Kaste von Unberührbaren auch „Mägde“. Das sind Frauen, die wegen ihrer Fertilität in ein spezielles Dienstverhältnis zu Angehörigen der Elite gestellt werden und diesen Kinder gebären sollen. Atwood erzählt ihre Geschichte aus der Sicht einer Magd.

Die Welt Abrahams, vielleicht 4000 Jahre vor unserer Zeit, ist nicht weit weg von Atwoods Fiktion. Abraham ist Chef eines großen halbnomadischen Clans. Unter seinem Befehl stehen so viele waffenfähige Knechte (Gen 14,14), dass er damit kleine Kriege führen kann. Er und seine Frau Sara sind alt geworden und trotz einer Zusage Gottes immer noch kinderlos. Im Clan sind Kinder alles: sie tragen die kollektive Identität fort und stützen die Erwachsenen im Alter, stehen für Wehrhaftigkeit und Vitalität, mit ihnen steht und fällt der Status der Frauen. 

Sara gibt auf und bietet Abraham ihre ägyptische Magd Hagar als Zweitfrau an, sie soll ihm an ihrer Statt Kinder gebären. Das war in solchen Fällen ein gängiges Verfahren, auch die beiden Ehefrauen Jakobs lassen sich von ihren Mägden helfen. Die Ehe wird geschlossen und vollzogen, Hagar wird schwanger. Sofort entsteht ein Konflikt zwischen den Frauen — das ist der gezogene Vers. 

Wir sind hier im Inneren einer Maschine, der Clanwelt, wo ein Rädchen ins andere greift, und die Akteure wenig Wahlmöglichkeiten haben. In dem Moment, als Hagars Schwangerschaft offenbar wird, nimmt Sara einen Wandel an ihrer Magd wahr — sie achte ihre Herrin gering. Es ist nicht wichtig, ob Hagar sich tatsächlich anders verhält oder ob sich Saras Wahrnehmung ändert — beide sind in ihrer Rolle gefangen. Die Schwangerschaft bedeutet für die Sklavin einen ungeheuren Bedeutungszuwachs und für die Herrin ist sie eine Bedrohung. Sie interveniert bei Abraham, und der sagt einen Satz, der Hagars Tod bedeuten könnte: „Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt: tu mit ihr, wie dir’s gefällt!“ Sara drangsaliert ihre Sklavin derart, dass diese das Lager flieht. 

Des Herrn Engel findet sie an einer Wasserquelle in der Wüste und bedeutet ihr, zurückzugehen und sich unter das Joch ihrer Herrin zu beugen. Sie folgt und bringt ihren Sohn Ismael zur Welt. Der Name des Kindes bedeutet „Gott hört“. Gen 21 erzählt, wie sich viele Jahre später das Geschehen verschärft wiederholt. In höchstem Alter bringt Sara selbst ihren Sohn Isaak zur Welt, und nun kennt ihre Eifersucht keine Grenzen: der erste Sohn und ihre Mutter müssen weg. Abraham willigt ein, und Hagar und ihr Sohn werden in die Wüste geschickt. Hagar legt ihren Sohn unter einen Strauch und setzt sich einen Bogenschuss entfernt hin, um das Weinen des sterbenden Kindes nicht hören zu müssen. Eine unfassbare, herzzerreissende Szene.

Gott hat alles zugelassen und gar noch Abrahams Zweifel zerstreut. Nun wird er im Wortsinn Deus ex Machina — die Maschine wird angehalten und aufgebrochen. Eine Quelle bricht hervor, mitten in der Wüste, und Gott sagt Hagar zu, auch ihr Sohn werde der Vater eines großen Volks von zwölf Fürsten. Es ist das arabische Volk, das sich auf Ismael zurückführt, etwa 370 Millionen Menschen sprechen heute die arabische Sprache.

Der gezogene Vers berichtet von einem Kind und seiner unglaublichen Geburt. Bei der Geburt Ismaels war Abraham sechsundachtzig Jahre alt. Der Vers für sich selbst hat dennoch nichts weihnachtliches. Die Maschine rattert und klickt wie gewohnt, selbst unter außergewöhnlichen Umständen. Das ändert sich erst, als der Herr selbst in sengender Wüste einen Keil hineinwirft…!

عيد ميلاد سعيد — so schreibt man „Frohe Weihnachten“ auf arabisch!

Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 51/2020

…, Ziklag, Beth-Markaboth, Hazar-Susa,…
Jos 19,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Uns bleiben nur nackte Namen

Drei Namen nur. Angespülte Fragmente eines uralten Heilsversprechens. Erinnern Sie sich an den Vers der Woche 43/2020, vor zwei Monaten? Der Herr gebot Josua, das eroberte Land gemeinsam mit dem noch nicht eroberten Land per Losverfahren an die Stämme Israels auszuteilen. Im Vers dieser Woche werden nun Ortschaften benannt, die an den Stamm Simeon gehen sollen. Vor fast genau zwei Jahren, in Woche 50/2018, hatten wir schon einmal einen Vers aus dem selben Abschnitt, der gleichfalls eine Aufzählung von Orten beinhaltete; sie waren für den Stamm Naphtali bestimmt. 

Ich habe eine Entdeckung gemacht. Ziklag wird auch unter den Städten genannt, die in Jos 15,20ff dem Stamm Juda zugeteilt werden. Die Schrift „erklärt“ diese und andere Doppelungen: Das Land des Stamms Simeon liege inmitten der Lande der Judäer (Jos 19,1) — es sei aus dem Erbteil der Judäer genommen, weil diese nicht zahlreich genug waren, ihren Anteil auszufüllen (Jos 19,9). Das klingt ganz nach einer vorübergehenden Lösung. Ein Blick auf die Karte zeigt, worum es geht. Simeon ist eine relativ kleine und wüstenhafte Enklave inmitten des Gebiets von Juda. Vielleicht wurde Simeon bei der Expansion Judas umschlossen, vielleicht waren die Bewohner an das Leben in der Wüste in einer Weise angepasst, die sie von den Judäern trennte? Unten ist ein Bild aus Mamshit, eine Stadt der Nabatäer in dem Gebiet von Simeon, mehr als tausend Jahre später. 

Mamshit, April 2017 Ulf von kalckreuth
Mamshit, April 2017, Ulf von Kalckreuth

Der Stamm Simeon hat etwas eigentümlich ephemeres: Bei der vermutlich ältesten Auflistung der Stämme Israels, im Lied der Deborah, ist Simeon nicht vertreten, auch beim Segen des Mose wird der Stamm nicht genannt. In den späteren Schriften der Prophetenzeit fehlt er wiederum: Simeon wird daher gemeinhin unter die verschwundenen zehn Stämme gerechnet. Die Existenz des Königreichs Juda, in dessen Gebiet Simeon lag, ging aber erst mit der Invasion der Babylonier zu Ende. Simeon muss also irgendwann in Juda aufgegangen sein. Die Bevölkerungsgruppe hatte den Status eines Stammes Israels wohl nicht immer und behielt ihn nicht dauerhaft. 

„Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen“. So endet Der Name der Rose von Umberto Eco. In der Offenbarung des Johannes, am Ende des Neuen Testaments, wird Simeon wieder genannt als einer der zwölf Stämme, die das Reich Gottes erben werden. Und der Vorname Simon ist im jüdischen und im christlichen Kontext unvergessen und wichtig. Was bedeutet das für das große Versprechen, die Verteilung von Land an die Stämme? 

Die Botschaft der Verheissung selbst ist ewig, nicht die Realität der Zuordnung. Verheissung auf ihren Kern reduziert. Unser Vers verbindet die Namen von Ortschaften, die heute zumeist längst verfallen sind, auf ewig mit dem Namen eines Stammes, den es nicht sehr lange gab.

Wenn man dazu bereit ist, kann man hinter den kargen Namen unseres Verses eine weihnachtliche Botschaft finden. Wir haben in Woche 43/2020 gesehen, dass die Verteilung des Heiligen Lands im Wesenskern ein Versprechen ist, mit überzeitlichem Charakter. Es bezieht seine Realität daraus, dass Menschen ihm glauben und folgen. Das gilt auch für das große Heilsversprechen, für welches das Weihnachtsfest steht. Dies Versprechen selbst ist ja eigentümlich unbestimmt. Könnten Sie es mit Alltagsvokabular benennen? Aber es ist wie ein Placebo mit kosmischer, realitätserschütternder Kraft — wahr wird es, wenn und soweit wir ihm folgen. Da sind Jesus und das Neue Testament sehr deutlich. Wer die Verheissung annimmt, sieht sie in Erfüllung gehen. In je eigener Weise, vielleicht sieht jeder etwas anderes. 

O come, o come, Immanuel… 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete dritte Adventswoche, und
חג חנוכה שמח
Ulf von Kalckreuth