Bibelvers der Woche 05/2021

Aber ehe sie sich legten, kamen die Leute der Stadt Sodom und umgaben das ganze Haus, jung und alt, das ganze Volk aus allen Enden,…
Gen 19,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Straft Gott?

Im Buch Genesis stehen viele der schönsten und einige der furchtbarsten Geschichten in der Bibel, zu letzteren gehört die Vernichtung von Sodom. Ihre grobe Struktur ist ganz ähnlich der Sintflutgeschichte. Gott hört von den unseligen Taten und dem sündigen Leben der Einwohner dieser Stadt und will sie als Kollektiv vernichten. Er spricht mit Abraham davon, und dieser wendet ein, es könnte doch auch Gerechte unter den Bewohnern geben. Sicher denkt er dabei auch an seinen Bruder Lot, der in Sodom lebt, seitdem er sich von Abraham getrennt hat. Und Abraham handelt regelrecht mit Gott darum, wieviele Gerechte die Vernichtung der ganzen Stadt zu einem Unrecht machen würden — siehe den Bibelvers der Woche 40/2019. Gott verspricht, sich die Stadt und ihre Einwohner anzusehen, aus der Mikroperspektive. Zwei Engel Gottes besuchen die Stadt, Lot lädt sie ein, bei ihm zu speisen und zu nächtigen. 

An dieser Stelle steht der Vers. Hier soll ein Exempel statuiert werden, auch für den Leser. Deshalb macht die Bibel den Fall ganz klar: Die Einwohner der Stadt, ALLE ohne Ausnahme, versammeln sich um Lots Haus, um schreckliches Unrecht zu begehen: gemeinschaftlich wollen sie die beiden Engel des Herrn vergewaltigen. Dabei wird ganz irdisch das Gastrecht verletzt, mit einer sexuellen Aberration, welche die Bibel zutiefst verabscheut. Die Engel aber stehen stellvertretend für Gott selbst, daher ist das Vergehen nicht mehr zu steigern.

Obwohl Lot über das Wesen seiner Gäste im Unklaren bleibt, tut er alles — wirklich alles — das Gastrecht zu verteidigen, sein Schutzversprechen einzulösen. Er bietet der Meute als Ersatz seine beiden Töchter an, und macht sich dabei selbst schuldig. Die Städter wollen statt dessen über ihn, den Fremden herfallen, da ziehen die Engel ihn ins Haus und schlagen die Anwohner mit Blindheit. Im Schutz der Dunkelheit flieht die Familie: die Engel führen Lot, sein Weib und die beiden Töchter aus Sodom, bevor sie die Stadt mit Feuer und Schwefel vernichten, und später auch die umliegenden Siedlungen.

Der Vergewaltigungsversuch, von einer ganzen Stadt getragen, ist an sich vollkommen unplausibel. Die Geschichte hat Lehrcharakter und will nicht wörtlich verstanden werden. Die Aussage ist: Gott straft, wenn es zu viel wird, und er straft auch kollektiv. Dabei ist er gnädig, sieht auf das Verdienst und er gibt auch zweite und dritte Chancen, aber es gibt einen Punkt, an dem alles zu spät ist. Das ist im Vers der letzten Woche übrigens auch die Aussage des zweite Teils, über den ich nicht so viel gesprochen habe. Diese Aussage zieht sich nicht nur durch das Alte Testament — in einer großen Zahl apokalyptischer Bilder wird das Gericht auch im Neuen Testament ausbuchstabiert. 

Das Gericht ist unmodern geworden. Evangelische Theologen halten heute meist dafür, dass Gott sich aus der Geschichte herausgezogen habe und uns Menschen die Verantwortung dafür überlasse. Wie man früher hinter jedem Übel eine Sünde gesehen hat, die damit ihrer gerechte Strafe zugeführt wird, sieht man heute gern gesellschaftliche Missstände aller Art, nicht aber Gottes Wirken. 

Die Aussage der Bibel ist klar eine andere: Gott sieht, was geschieht und reagiert darauf. Geschichte entsteht in einem Wechselspiel der Aktionen Gottes und der Menschen. Auch die Bibel betont eine Verantwortung des Menschen, aber nicht direkt einer abstrakten Schöpfung oder „der“ Menschheit gegenüber, sondern konkret vor Gott. Diese Überzeugung hat sich in den beiden Katastrophen der Geschichte Israels gebildet, der Vernichtung erst des Nordreichs, und dann des Südreichs. Sie durchtränkt alle Fasern der jüdischen Bibel, deren Texte während und nach dem Exil kompiliert und redigiert wurden. Die Vernichtung Jerusalems und des Tempels durch die Römer hat die Sicht bestätigt, auch für die sich bildende christliche Kirche. 

Was ist wahr? Offen gestanden, ich weiss es nicht. Warum eigentlich sollte Gott permanent die Verletzungen seiner Gebote verfolgen? Tut er das wirklich? Das fragen oft auch die Psalmen. Sie fragen, weil das Gegenteil Unrecht wäre. Wenn Putin nun für seine Taten einfach ein gutes Leben hätte, in einem riesigen, königlichen Palast am Schwarzen Meer, dazu blendende Gesundheit und schöne Frauen? Werden nur manche Menschen bestraft, nicht aber alle? 

Uns muss klar sein, dass der christliche Glaubenskern — von der Gnade, die der Tod des Sohns für die erwirkt, die die Gnade annehmen — ausgesprochen sinnfrei ist, wenn es nichts gibt, das diese Gnade wichtig und not-wendig machte. Das Christentum ist eine Antwort auf die Vorstellung vom strafenden Gott. Die sozialdemokratische Vision Gottes verträgt sich nicht mit dem Bild des sterbenden Christus, er muß einen schrecklichen Fehler gemacht haben, er hat offenbar etwas ganz  Wichtiges nicht verstanden.

Noch einmal, wie ich hier sitze und schreibe, weiss ich es nicht. Zieht Gott uns zur Verantwortung? Um es an einem konkreten Beispiel festzumachen: ist Corona Ausdruck einer überzogenen Globalisierung und Interaktionsdichte, ganz hydraulisch sozusagen, oder steckt eine Botschaft darin? Eine Aufforderung? Lassen Sie uns mit dieser Frage in die nächste Woche gehen, ich glaube, die Antwort ist wichtig, auch wenn sie nur vorläufig, partiell und persönlich ist. 

Vielleicht hilft der folgende Test: ich selbst habe durchaus das Gefühl, ein Gegenüber zu haben, wenn ich über Corona nachdenke.

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 04/2021

Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.
Joh 3,36

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Nur Gott weiß, wie…!

Aus Joh 3 haben wir schon in der letzten Woche gezogen. Das ist bemerkenswert. Laut Wikipedia hat die christliche Bibel (ohne die Apokryphen) 1189 Kapitel in 66 Büchern. Die Wahrscheinlichkeit, dass man zweimal hintereinander aus demselben Kapitel zieht, beträgt also — wenn alle gleich lang wären — rund 1/1200.  So etwas geschieht im Durchschnitt alle 23 Jahre.

Auch inhaltlich schließt der gezogene Vers eng an den der letzten Woche an, obwohl der Kontext ein ganz anderer ist. Der Vers wird gesprochen von Johannes dem Täufer. Dieser äußert sich hier ein letztes Mal zu Jesus. Jesus gewinnt Jünger, mehr als Johannes, und diese Jünger taufen viele Menschen. Die Jünger des Johannes wenden sich besorgt an ihren Meister. Was ist davon zu halten? Johannes betont noch einmal, dass er selbst nicht der Christus ist, sondern dass er den Christus verkündet. Der vom Himmel kommt, so sagt er, ist über allen. Der Sohn sagt, was er gesehen hat, und sein Zeugnis nimmt auf Erden niemand an. Wer es doch annimmt, der besiegelt die Wahrhaftigkeit Gottes, eine Entsprechung zu Joh 1,11f. Dann schließt Johannes seine Worte mit dem gezogenen Vers. 

Ganz wie in der letzten Woche: der Mensch erzeugt seine Realität selbst durch die Glaubensentscheidung. Das Licht kommt in die Welt und an ihm schieden sich die Geister. Gott schafft in Christus einen Weg aus der Verstrickung in Schuld. Wer den Weg geht, ist frei, wer ihn nicht geht, bleibt unter dem Zorn des Herrn. So einfach. Und so schwierig.

Denn was ist aus dem Gesetz geworden? Hat es sich aufgelöst? Genügt es, an den Christus zu glauben und alles ist gut?

Der Vers ist hier, in der Lutherbibel 1912, mißverständlich übersetzt. Das Wort „glaubt“ taucht zweimal auf. Beim ersten Mal steht im griechischen Original pisteuein, das bedeutet ‚glauben‘ im Sinne von ‚vertrauen‘, es steht für eine Haltung, nicht für Meinung. Bei der zweiten Nennung steht apeithon, ’nicht gehorsam sein‘, und so gibt es auch die Einheitsübersetzung wieder, ebenso wie die Lutherbibel 2017. Es geht also darum, Jesus zu folgen, seine Lehre ernst zu nehmen und den Versuch zu machen, sie im eigenen Leben umzusetzen. Jesus fordert Nachfolge, auch wenn das heute politisch unkorrekt klingt, siehe auch Joh 8,51.

Jesus hat eine hohe Affinität zum mosaischen Gesetz. Dabei destilliert er die Essenz, und die Essenz ist ihm wichtiger als der Wortlaut. Er ruft dazu auf, in eigenen Leben Platz zu schaffen, den Bedürftigen zu geben, er fasst das Gesetz im Liebesgebot zusammen: Gott zu lieben über alles und den Nächsten wie sich selbst. Das ist nicht jedermanns Sache. 

Nun tauschen aber die Jünger Jesu nicht einfach einen Kodex gegen einen anderen, in mancher Hinsicht schwierigeren. Der Vers spricht die rauhe Sprache des Täufers, aber sein Kern ist die Heilszusage:, die Frohe Botschaft: Wenn du es ernst meinst und Jesus folgst, so wirst du versuchen, seinen Weg zu gehen. Dabei wirst du immer wieder scheitern und in die Irre gehen. Kläglich gar oder lächerlich. Aber Gottes Gnade macht, dass du doch dein Ziel erreichst. Nur Gott weiß, wie…!

Ja. Diese Gnade des Herrn sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 03/2021

Wer aber die Wahrheit tut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden; denn sie sind in Gott getan.
Joh 3,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Die Wahrheit tun

Ein Pharisäer namens Nikodemus, ein Gesetzeslehrer, kommt nachts zu Jesus. Er ist überzeugt, dass Jesus in einer besonderen Beziehung zu Gott steht und will mehr wissen. Jesus spricht zu ihm von der Wiedergeburt aus dem Geist. Und dann von seiner Mission: der eingeborene Sohn Gottes ist in die Welt gekommen, sie zu retten, nicht sie zu richten. 

Was Jesus dem Nikodemus dann erklärt, führt in das Zentrum seiner Botschaft. Gott hat das Licht gesandt, und die schiere Anwesenheit des Lichts bewirkt, dass die Menschen ihr Wesen offenbaren. Wer seine Werke verbergen will, sie verbergen muss, meidet das Licht und bleibt im Schatten. Andere kommen hin zum Licht, es sind die, die das Licht brauchen, damit ihre Werke gesehen werden, damit sie wirksam werden können. Einen Richter, der die beiden Gruppen trennt, braucht es gar nicht, die Menschen richten sich selbst. Das ist sehr modern, es hat nichts mit der Vorstellung vom Jüngsten Gericht zu tun, die uns so vertraut ist. 

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“, „…wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst“ — das sind Kernbotschaften Jesu, und immer wirkt darin, was wir tun, auf uns selbst zurück, bekommt ein Echo, auf unterschiedliche Weise. Das Reich Gottes hat schon begonnen, wir sind frei, darin zu leben, schon hier und jetzt. Tun wir es, dann sind und bleiben wir Teil davon — wenn nicht, dann eben nicht. Gott weist uns den Weg in sein Reich, unsere Hölle machen wir uns selbst. 

Der Vers enthält weitere Geheimnisse. Üblicherweise sagen wir die Wahrheit (oder auch nicht). Was bedeutet Wahrheit tun? Das Tun an der Wahrheit (Gottes) ausrichten? Oder ist es mehr, kann man Wahrheit aktiv tun, wie man Gutes oder Böses tut, einen Gefallen oder einen Wunsch? Die Wahrheit Gottes in die Welt setzen? Das Licht zum Strahlen bringen? Und was heisst ‚in Gott getan‘? Ist das für Gott oder mit Gott oder durch Gott? Ist etwas Endgültiges gemeint, etwas überirdisch Dauerndes? Ist ‚in Gott‘ das Gegenstück zu ‚in der Welt‘? Eine Entsprechung von irdischem und metaphysischem Tun, gut katholisch? 

Wer die Wahrheit tut, dessen Werke sind in Gott getan — dies wäre eine Kurzform des Verses, und ich weiss nicht genau, was sie bedeutet. Sie erinnert mich an meinen Konfirmationsspruch, Befiel dem Herrn deine Werke, und sie werden gelingen (Spr 3,16). Aber irgendwie spielt der erste Satz in einer anderen Liga als der zweite — Europacup statt Kreisklasse. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert“, schreibt Marx. „Es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Wer ‚Wahrheit tun‘ sagt, für den ist dieser Gegensatz offenbar bedeutungslos.

Was hat Nikodemus aus diesem Gespräch mit in seine Nacht genommen? Niemand sonst war zugegen, er selbst war es also, der Jesu Worte tradiert hat. Hat er da die Wahrheit getan? Einige Jahre später war der Pharisäer Mitglied des Hohen Rats, als er versuchte, die Verurteilung Jesu zu verhindern. Noch etwas später half er bei der Grablegung Jesu.

Wenn es uns in dieser Woche an irgendeiner Stelle gelingt, die Wahrheit zu tun, werden wir es nicht einmal merken — aber es wird gut sein, und das Licht strahlt heller. So soll es sein.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 02/2021

Alle Welt fürchte den Herrn; und vor ihm scheue sich alles, was auf dem Erdboden wohnt.
Ps 33,8

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Sich verlieren, die Welt gewinnen

Im Konfirmandenunterricht habe ich gelernt, dass es drei Arten gibt, zu Gott zu sprechen: Bitte, Dank, und Lobpreis. Bitten, das kann jeder, das können auch die Allerkleinsten, sie schreien, wenn etwas fehlt. Danken ist schon schwieriger, aber auch Dank hängt eng an dem, was wir von Gott wollen. Lobpreis will nichts. Es geht um das Sein Gottes, nicht mehr um das, was sein oder auch nicht sein soll. Das erschien mir geheimnisvoll und überraschend, darum habe ich es mir gemerkt. 

Auch in den Psalmen gibt es diese drei Arten zu sprechen — und noch einige mehr übrigens, von denen im Konfirmandenunterricht nicht die Rede war: Rechtfertigung, Hoffnung, Zweifel, Verzweiflung, Ergebenheit und Fluch, letzteres ziemlich oft sogar. Unser Vers ist Lobpreis. Was der Betende wünscht und will, seine ganze Person, tritt in den Hintergrund:

Alle Welt fürchte den Herrn,
und vor ihm scheue sich alles, was auf dem Erdboden wohnet.
Denn wenn er spricht, so geschieht’s;
wenn er gebietet, so steht’s da. 

Auch Lobpreis will etwas erreichen, auch wenn man es nicht gleich sieht. Der Betende gibt seine eigene Perspektive auf und rekonstruiert die Welt aus der Sicht Gottes, gewinnt sie damit neu. 

Haben Sie heute die Welt schon verwandelt? Bleiben Sie doch ein paar Minuten bei den Versen oben. Ich wünsche uns in dieser Woche die Sicherheit, die wir brauchen, damit wir uns aufgeben können,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 01/2021

Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließet vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen.
Mat 23,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Wald und Bäume

Jesus steht für Liebe — der Kern seiner Ethik hebt den Gegensatz auf zwischen dem Individuum und seiner Umwelt. Ein besonders friedlicher Mensch war er dabei nicht. Er konnte scharf und verletzend sein und Hierarchien bedeuteten ihm nichts. Wäre ein konzilianter Jesus von Nazareth am Kreuz gestorben? Wohl kaum — wer hätte ein Interesse daran gehabt? 

Der für diese Woche gezogene Vers ist ein Satz von der Art, die den Kopf kosten können. Pharisäer und Schriftgelehrte vertraten eine am Wortlaut orientierte Sicht auf die Gebote der Thora — sie zogen einen ‚Zaun um die Thora‘, wie man heute sagt, damit sie nicht verletzt werde. Für Jesus war das ein Irrweg. Das Reich Gottes war nahe herbeigekommen, hatte im Kern schon eingesetzt und wer mit Äusserlichkeiten vom Eigentlichen ablenkt, versperrt den Weg. Pharisäern und Schriftgelehrten hingegen galten Führer wie Johannes und Jesus als Quelle von Disziplinlosigkeit und Chaos; schlimmer noch: als Schwarmgeister, die ihre Nachfolger dem Gesetz entfremdeten, das Gott uns anvertraut hat. 

Jesus konnte aus vielen einzelnen Vorschriften die Essenz ziehen, er sah den Wald und nicht die Bäume und wies den Weg: „Das Reich Gottes ist da und es ist nicht da — lebt es, dann ist es Wirklichkeit, für euch und durch euch“, und „Wie ihr übereinander urteilt, wird der Vater über euch urteilen“, und „Liebt Gott über alles und den Anderen wie euch selbst“. Schwer und gleichzeitig einfach. Seine Worte über Pharisäer und Schriftgelehrte in Mat 23 aber hatten nichts Versöhnliches mehr, das Tischtuch war zerschnitten. Der Schnitt tut weh, immer noch. 

Liest man den Text, mag man auch ins Heute schauen. Wer befördert mit seinen Feststellungen und Urteilen über Gottes Wort und Willen die eigenen Interessen, auf Kosten derer, die abgelenkt werden? Die Falle der Selbstgerechtigkeit steht aufgespannt da. Und da müssen auch kleine Blogger gut aufpassen…

Gottes Segen sei mit uns — im neuen Jahr und immer,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 53/2020

Er hat von Angesicht zu Angesicht mit euch aus dem Feuer auf dem Berge geredet.
Dtn 5,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Theophanie

Wenn wir beten, sprechen wir aus, was wir von Gott wollen. Aber was will Gott von uns? Auf diese Frage stoße ich zur Zeit immer wieder, auch in mir selbst.

Der Vers erinnert daran, dass Gott selbst es uns gesagt hat und zwar direkt und unmittelbar, so dass es jeder hören konnte. Vom Berg Sinai aus hat Gott dem Volk Israel die zehn Gebote verkündet. Danach waren die Israeliten so mit Angst erfüllt, dass sie die weitere Auseinandersetzung mit dem mächtigen und unheimlichen Gott dem Mose überliessen — er sollte mit Gott sprechen und seinen Willen weitergeben. Die zehn Gebote aber waren von Gott dem Volk unmittelbar verkündet. Ex 20 und Dtn 5 enthalten leicht unterschiedlichen Fassungen. Hier ist Dtn 5, 6-21 aus der Lutherbibel 2017:

Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Du sollst dir kein Bildnis machen in irgendeiner Gestalt, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist. Du sollst sie nicht anbeten noch ihnen dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.
Den Sabbattag sollst du halten, dass du ihn heiligst, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Rind, dein Esel, all dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt, auf dass dein Knecht und deine Magd ruhen gleichwie du. Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst und der Herr, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm. Darum hat dir der Herr, dein Gott, geboten, dass du den Sabbattag halten sollst. 
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat, auf dass du lange lebest und dir’s wohlgehe in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird. 
Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht ehebrechen.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Acker, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was sein ist.

Gott erscheint und spricht. Nicht zu einzelnen, die sich dann Fragen zu ihrer geistigen Gesundheit gefallen lassen müssten, sondern zu allen gleichzeitig, so dass jeder seinen Nachbarn fragen kann, ob er dasselbe gehört hat. Und dass auch in Zukunft kein Zweifel aufkommt, schreibt Gott das Gesprochene eigenhändig auf zwei Steintafeln, als Bundesurkunde. Noch stärker lässt sich die Bedeutung dieser Gebote nicht unterstreichen. Die Tafeln wurden in der Bundeslade getragen und im Allerheiligsten zunächst der Stiftshütte, später des Tempels aufbewahrt. Sie standen für die Gegenwart Gottes selbst. Im Tempel wurden sie jeden Morgen rezitiert. Viele der Ge- und Verbote in den fünf Büchern Mose lassen sich unmittelbar aus den zehn Geboten ableiten. Die zehn Gebote sind Kern auch der christlichen Ethik, so unklar sonst auch das Verhältnis zum mosaischen Gesetz ist. Jesus nennt sie ausdrücklich als Voraussetzung für ein gottgefälliges Leben (Mk 10,19) und er zitiert sie immer wieder einzeln. Das Doppelgebot der Liebe kann als Zusammenfassung der zehn Gebote betrachtet werden.

Die zehn Geboten sind uns direkt gegeben, ohne jede Vermittlung. Wenn man sich fragt, was denn eigentlich Gott von uns will, geben sie eine gute, praktische, aber auch verbindliche Antwort. Vielleicht ist es nicht für die ganze Antwort, aber wie immer diese lauten mag: die zehn Gebote sind ein wichtiger Teil. Die Beziehung mit Gott ist ein Bund, und ein Bund hat zwei Seiten. In den Tagen, seit ich den Vers gezogen hatte, habe ich sie jeden Morgen gelesen, sozusagen als Morgengebet.

Heute ist Weihnachten. Das Jahr endet und ein neues beginnt. Worauf kommt es an, worauf soll es ankommen? Ich wünsche uns schöne Feiertage und eine gute und ruhige Woche bis zum Jahresende, in Gottes Schutz,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 52/2020

Und er ging zu Hagar, die ward schwanger. Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Frau gering gegen sich.
Gen 16,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Maschine und Keil

Im Jahr 1985 veröffentlichte Margaret Atwood einen Roman, der später verfilmt wurde und als Vorlage für eine Serie diente. Der deutsche Titel lautet Der Report der Magd. Aufgrund chemischer, bakteriologischer und radioaktiver Verseuchung sinkt die Fruchtbarkeit der Menschen in den USA drastisch. In der Folge wird Fruchtbarkeit wichtiger als alles andere. Eine christlich-fundamentalistische Gruppierung übernimmt die Macht und verwandelt das Land in einen Gottesstaat. Die Frau wird auf ihre Funktion als Gebärerin fokussiert und beschränkt. Frauen verlieren ihre bürgerlichen Rechte. Sie sind dabei aber ausgesprochen ungleich. Während Ehefrauen den höchsten Status einnehmen, gibt es neben einer Kaste von Unberührbaren auch „Mägde“. Das sind Frauen, die wegen ihrer Fertilität in ein spezielles Dienstverhältnis zu Angehörigen der Elite gestellt werden und diesen Kinder gebären sollen. Atwood erzählt ihre Geschichte aus der Sicht einer Magd.

Die Welt Abrahams, vielleicht 4000 Jahre vor unserer Zeit, ist nicht weit weg von Atwoods Fiktion. Abraham ist Chef eines großen halbnomadischen Clans. Unter seinem Befehl stehen so viele waffenfähige Knechte (Gen 14,14), dass er damit kleine Kriege führen kann. Er und seine Frau Sara sind alt geworden und trotz einer Zusage Gottes immer noch kinderlos. Im Clan sind Kinder alles: sie tragen die kollektive Identität fort und stützen die Erwachsenen im Alter, stehen für Wehrhaftigkeit und Vitalität, mit ihnen steht und fällt der Status der Frauen. 

Sara gibt auf und bietet Abraham ihre ägyptische Magd Hagar als Zweitfrau an, sie soll ihm an ihrer Statt Kinder gebären. Das war in solchen Fällen ein gängiges Verfahren, auch die beiden Ehefrauen Jakobs lassen sich von ihren Mägden helfen. Die Ehe wird geschlossen und vollzogen, Hagar wird schwanger. Sofort entsteht ein Konflikt zwischen den Frauen — das ist der gezogene Vers. 

Wir sind hier im Inneren einer Maschine, der Clanwelt, wo ein Rädchen ins andere greift, und die Akteure wenig Wahlmöglichkeiten haben. In dem Moment, als Hagars Schwangerschaft offenbar wird, nimmt Sara einen Wandel an ihrer Magd wahr — sie achte ihre Herrin gering. Es ist nicht wichtig, ob Hagar sich tatsächlich anders verhält oder ob sich Saras Wahrnehmung ändert — beide sind in ihrer Rolle gefangen. Die Schwangerschaft bedeutet für die Sklavin einen ungeheuren Bedeutungszuwachs und für die Herrin ist sie eine Bedrohung. Sie interveniert bei Abraham, und der sagt einen Satz, der Hagars Tod bedeuten könnte: „Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt: tu mit ihr, wie dir’s gefällt!“ Sara drangsaliert ihre Sklavin derart, dass diese das Lager flieht. 

Des Herrn Engel findet sie an einer Wasserquelle in der Wüste und bedeutet ihr, zurückzugehen und sich unter das Joch ihrer Herrin zu beugen. Sie folgt und bringt ihren Sohn Ismael zur Welt. Der Name des Kindes bedeutet „Gott hört“. Gen 21 erzählt, wie sich viele Jahre später das Geschehen verschärft wiederholt. In höchstem Alter bringt Sara selbst ihren Sohn Isaak zur Welt, und nun kennt ihre Eifersucht keine Grenzen: der erste Sohn und ihre Mutter müssen weg. Abraham willigt ein, und Hagar und ihr Sohn werden in die Wüste geschickt. Hagar legt ihren Sohn unter einen Strauch und setzt sich einen Bogenschuss entfernt hin, um das Weinen des sterbenden Kindes nicht hören zu müssen. Eine unfassbare, herzzerreissende Szene.

Gott hat alles zugelassen und gar noch Abrahams Zweifel zerstreut. Nun wird er im Wortsinn Deus ex Machina — die Maschine wird angehalten und aufgebrochen. Eine Quelle bricht hervor, mitten in der Wüste, und Gott sagt Hagar zu, auch ihr Sohn werde der Vater eines großen Volks von zwölf Fürsten. Es ist das arabische Volk, das sich auf Ismael zurückführt, etwa 370 Millionen Menschen sprechen heute die arabische Sprache.

Der gezogene Vers berichtet von einem Kind und seiner unglaublichen Geburt. Bei der Geburt Ismaels war Abraham sechsundachtzig Jahre alt. Der Vers für sich selbst hat dennoch nichts weihnachtliches. Die Maschine rattert und klickt wie gewohnt, selbst unter außergewöhnlichen Umständen. Das ändert sich erst, als der Herr selbst in sengender Wüste einen Keil hineinwirft…!

عيد ميلاد سعيد — so schreibt man „Frohe Weihnachten“ auf arabisch!

Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 51/2020

…, Ziklag, Beth-Markaboth, Hazar-Susa,…
Jos 19,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Uns bleiben nur nackte Namen

Drei Namen nur. Angespülte Fragmente eines uralten Heilsversprechens. Erinnern Sie sich an den Vers der Woche 43/2020, vor zwei Monaten? Der Herr gebot Josua, das eroberte Land gemeinsam mit dem noch nicht eroberten Land per Losverfahren an die Stämme Israels auszuteilen. Im Vers dieser Woche werden nun Ortschaften benannt, die an den Stamm Simeon gehen sollen. Vor fast genau zwei Jahren, in Woche 50/2018, hatten wir schon einmal einen Vers aus dem selben Abschnitt, der gleichfalls eine Aufzählung von Orten beinhaltete; sie waren für den Stamm Naphtali bestimmt. 

Ich habe eine Entdeckung gemacht. Ziklag wird auch unter den Städten genannt, die in Jos 15,20ff dem Stamm Juda zugeteilt werden. Die Schrift „erklärt“ diese und andere Doppelungen: Das Land des Stamms Simeon liege inmitten der Lande der Judäer (Jos 19,1) — es sei aus dem Erbteil der Judäer genommen, weil diese nicht zahlreich genug waren, ihren Anteil auszufüllen (Jos 19,9). Das klingt ganz nach einer vorübergehenden Lösung. Ein Blick auf die Karte zeigt, worum es geht. Simeon ist eine relativ kleine und wüstenhafte Enklave inmitten des Gebiets von Juda. Vielleicht wurde Simeon bei der Expansion Judas umschlossen, vielleicht waren die Bewohner an das Leben in der Wüste in einer Weise angepasst, die sie von den Judäern trennte? Unten ist ein Bild aus Mamshit, eine Stadt der Nabatäer in dem Gebiet von Simeon, mehr als tausend Jahre später. 

Mamshit, April 2017 Ulf von kalckreuth
Mamshit, April 2017, Ulf von Kalckreuth

Der Stamm Simeon hat etwas eigentümlich ephemeres: Bei der vermutlich ältesten Auflistung der Stämme Israels, im Lied der Deborah, ist Simeon nicht vertreten, auch beim Segen des Mose wird der Stamm nicht genannt. In den späteren Schriften der Prophetenzeit fehlt er wiederum: Simeon wird daher gemeinhin unter die verschwundenen zehn Stämme gerechnet. Die Existenz des Königreichs Juda, in dessen Gebiet Simeon lag, ging aber erst mit der Invasion der Babylonier zu Ende. Simeon muss also irgendwann in Juda aufgegangen sein. Die Bevölkerungsgruppe hatte den Status eines Stammes Israels wohl nicht immer und behielt ihn nicht dauerhaft. 

„Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen“. So endet Der Name der Rose von Umberto Eco. In der Offenbarung des Johannes, am Ende des Neuen Testaments, wird Simeon wieder genannt als einer der zwölf Stämme, die das Reich Gottes erben werden. Und der Vorname Simon ist im jüdischen und im christlichen Kontext unvergessen und wichtig. Was bedeutet das für das große Versprechen, die Verteilung von Land an die Stämme? 

Die Botschaft der Verheissung selbst ist ewig, nicht die Realität der Zuordnung. Verheissung auf ihren Kern reduziert. Unser Vers verbindet die Namen von Ortschaften, die heute zumeist längst verfallen sind, auf ewig mit dem Namen eines Stammes, den es nicht sehr lange gab.

Wenn man dazu bereit ist, kann man hinter den kargen Namen unseres Verses eine weihnachtliche Botschaft finden. Wir haben in Woche 43/2020 gesehen, dass die Verteilung des Heiligen Lands im Wesenskern ein Versprechen ist, mit überzeitlichem Charakter. Es bezieht seine Realität daraus, dass Menschen ihm glauben und folgen. Das gilt auch für das große Heilsversprechen, für welches das Weihnachtsfest steht. Dies Versprechen selbst ist ja eigentümlich unbestimmt. Könnten Sie es mit Alltagsvokabular benennen? Aber es ist wie ein Placebo mit kosmischer, realitätserschütternder Kraft — wahr wird es, wenn und soweit wir ihm folgen. Da sind Jesus und das Neue Testament sehr deutlich. Wer die Verheissung annimmt, sieht sie in Erfüllung gehen. In je eigener Weise, vielleicht sieht jeder etwas anderes. 

O come, o come, Immanuel… 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete dritte Adventswoche, und
חג חנוכה שמח
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 50/2020

Sie ist edler denn Perlen; und alles, was du wünschen magst, ist ihr nicht zu vergleichen.
Spr 3,15

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Vom Wert der Weisheit

Oh, das wird nicht einfach. Der Vers stammt aus dem Buch der Sprüche, einem Stück der Weisheitsliteratur. Er hat die Weisheit selbst zum Thema und benennt ihren Wert. Ein Vater spricht zu seinem Sohn (3,13-18): 

Wohl dem Menschen, der Weisheit erlangt, 
und dem Menschen, der Einsicht gewinnt!
Denn es ist besser, sie zu erwerben, als Silber, 
und ihr Ertrag ist besser als Gold.
Sie ist edler als Perlen, 
und alles, was du wünschen magst, ist ihr nicht zu vergleichen. 
Langes Leben ist in ihrer rechten Hand, 
in ihrer Linken ist Reichtum und Ehre. 
Ihre Wege sind liebliche Wege, 
und alle ihre Steige sind Frieden. 
Sie ist ein Baum des Lebens allen, die sie ergreifen, 
und glücklich sind, die sie festhalten.

Diese Sätze sind zentral. In 8,10f. werden sie fast wörtlich wiederholt, und dort spricht die Weisheit selbst. Der Vergleich mit Silber und Gold taucht darüber hinaus noch zwei weitere Male auf.

Bei mir haben die Sätze nicht sofort verfangen. Ich war sogar erst ein wenig enttäuscht. Was sollte ich dazu schreiben? Man soll klug sein, ja, das habe ich schon als Schüler gelernt. Um den Wert des Wissens wusste ich stets, und immer wieder im Leben war ich bereit, dafür auch Verzicht zu leisten. Nicht nur um den Ertrag von Studien geht es: wem die Übersicht fehlt, wer die Vorgänge in seiner Umgebung nicht einordnen kann, ist schnell verloren. Ökonomen bezeichnen den Wert der Kenntnisse und Fähigkeiten eines Menschen als sein „Humankapital“: es sind Mittel zur Erzielung von Einkommen. Die Schule, eine Ausbildung, Lernen, Üben werden als Investition betrachtet: Heute auf Silber und Gold verzichten, um morgen erweiterte Möglichkeiten zu haben. So ist die Welt tatsächlich, und die einfache Idee hat gewaltige Implikationen für das Verständnis der Verteilung der Einkommen und der Lebenschancen. Nicht jedem gefällt die Vorstellung. Im Jahr 2004 wurde „Humankapital“ gar zum Unwort des Jahres gekürt. Eine Schwundstufe der Idee habe ich vergangenen Mittwoch in einer S-Bahn gefunden: eine Personalwerbung der hessischen Finanzverwaltung. Hier ist ein Bild:

S5 nach Friedrichsdorf/Taunus

Nun IST aber Humankapital Gold und Silber, es will gerade NICHT etwas anderes sein. Hier und an anderen Stellen spricht der Bibeltext — bzw. ein Mensch dahinter — wahrhaft euphorisch, beinahe trunken über den Wert der Weisheit. Sie ist Emanation Gottes, wie sonst die Thora, und kein Superlativ genügt — alles, das du dir wünschen magst, ist ihr nicht zu vergleichen. Es geht also um mehr. Was hat es auf sich mit der Weisheit? Lassen Sie uns nachdenken.

„Ich, die Weisheit, wohne bei der Klugheit und finde Einsicht und guten Rat“ heisst es in 8,12. Weisheit und Klugheit sind verwandt, aber nicht dasselbe. Das Buch der Sprüche ist ein Lehr- und Lernbuch, die Spruchsammlungen sind Vorlage fürs Auswendiglernen. Der Lehrer und die Lehre dazu fehlt uns, und so wirkt die in Sprüchen geronnene Weisheit manchmal dröge. Man sollte nicht viele davon schnell hintereinander lesen. Überwiegend folgen die Merksätze einem gemeinsamen Schema: für eine Eigenschaft, Gewohnheit, Einsicht oder Maxime wird in einem Doppelvers festgestellt, wie es dem geht, der ihnen folgt, und andererseits demjenigen, der dies nicht tut. Dabei sind oft Dinge angesprochen, die ich der Lebensklugheit zuordnen würde — wir sollen nicht bürgen, nicht offen schlecht über Mächtige reden, Prahlerei vermeiden, Streit aus dem Weg gehen, wir sollen Fleiß und Zielstrebigkeit entfalten. Manches klingt wie der Rat, sich regelmäßig die Zähne zu putzen. Anderes betrifft Gegenstände, die wir der Ethik zuordnen würden. Immer wieder wird vor den verderblichen Folgen des Ehebruchs gewarnt. Ehrlichkeit und Authentizität wird groß geschrieben, das Ränkeschmieden verdammt. Die überragende Bedeutung der Eltern für das Leben wird betont, und Neid und Missgunst in allen Facetten angeprangert. Dabei fällt die Nähe zu den zehn Gebote auf.  

In der undifferenzierten Mischung steckt die wichtigste Botschaft. Zwischen Lebensklugheit und Ethik besteht kein Widerspruch — sie sind gar ein und dasselbe, wenn man das Leben versteht. Wir sollen klug und umsichtig sein, die Zeichen der Zeit erkennen, ja. Aber wer seine Eltern verachtet, lügt oder die eigene Ehe mißachtet, wird sein Leben nachhaltig beschädigen, gerade so, wie wenn er faul in den Tag hinein lebt oder leichtfertig Bürgschaften übernimmt. Gottes Gebote sind Rezepte für ein gelingendes Leben. Wir nehmen uns nicht nur unserem Nächsten zuliebe zurück, wir tun es in erster Linie für uns selbst. Gott wird im Buch nur sehr gelegentlich als strafende Instanz angesprochen, meist ist er Beobachter oder Zeuge der Vorgänge. Ethik und Lebensklugheit gehören zusammen und sind gemeinsam Voraussetzung für ein gelungenes Leben. 

Wer sie als Gegensätze sieht, ist man schnell bei einer Ethik nach Kassenlage und hält Prinzipien hoch, wenn und solange er sie sich leisten kann. Wir sollen statt dessen das Netz weiter werfen, über den scheinbaren Gegensatz hinaus Wege finden, auf denen der Zusammenklang gelingt. Solche Wege zu kennen und zu finden ist in der Tat mehr wert als Gold, Silber und Perlen. 

Ich lebe in einer Familie mit zwei Kindern, die nun in der dunklen Jahreszeit weitgehend auf sich selbst gestellt ist. Den Kindern fehlen Bewegungsmöglichkeiten und Ablenkung. Der Stresspegel ist hoch. Vier Monate Corona-Winter mit langen Ferien liegen vor uns. Da liegt es nahe, die Warnungen zu ignorieren und Winterurlaub in den Alpen zu machen. Die Schweiz lädt herzlich ein, und Geld ist gottlob da. Hier steht Ethik gegen Lebensklugheit, nicht wahr? Aber vielleicht verwirklichen wir stattdessen einen alten Traum und nehmen einen Hund aus dem Tierheim zu uns. Wir werden täglich stundenlang draussen sein, das Tier wird viel der Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die wir sonst mißvergnügt gegeneinander richten würden. Dem Hund mag es Einstieg sein in ein besseres Leben, und uns können die einfachen, aber unabweisbaren Forderungen der Tierpflege helfen, mehr Struktur ins virtuell gewordene Leben zu bringen. Und ins Skihotel können wir mit dem Tier gar nicht…

Was würde das Buch der Sprüche dazu sagen? Vielleicht, dass wir als Skiurlauber bei der Wiedereinreise sicher einen Corona-Test machen müssen und dann in Quarantäne kommen. Aber meinen würde es damit, dass wir Platz machen sollten in unserem kleinen Haus für einen Hund…  

An manchen Stellen transzendiert das Buch der Sprüche die eigentlich empirisch gemeinte Identität von gottgefälligem Verhalten und Lebensklugheit. Hier ist ein Vers, der mir am Herzen liegt. Vielleicht ist das so etwas wie ein Kondensat des Buchs. Es ist mein Konfirmationsspruch:.  

Befiel dem Herrn deine Werke, so wird dein Vorhaben gelingen. (8,19)

Eine Erinnerung an den Wert der Weisheit kommt stets zur rechten Zeit. Ich wünsche uns eine gesegnete zweite Adventswoche.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 49/2020

…und Abidan, der Sohn des Gideoni, über das Heer des Stammes der Kinder Benjamin.
Num 10,24

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Auf dem Weg

Wir bewegen uns weiterhin in der Torah — in den letzten drei Wochen hatten wir nacheinander Verse aus den Büchern Genesis, Exodus und Leviticus. Nun also Numeri, und immer noch die Wüste.  Aus Numeri 10 hatten wir schon einmal gezogen; erinnern Sie sich an die schöne Stelle mit den zwei Trompeten in Woche 17/2019? Nun erleben wir die Trompeten in Aktion — es wird der Aufbruch vom Sinai beschrieben, der Beginn der langen, kreisförmigen Wanderung. 

Die Wolke, die für die Gegenwart Gottes steht, erhebt sich von der Stiftshütte — vor zwei Wochen erst hatten wir ihrem Bau beigewohnt. Die Hütte wird zerlegt und getragen. Für die Stiftshütte selbst sind andere Gruppen verantwortlich als für die schweren heiligen Geräte. Die Heerscharen der einzelnen Stämme brechen nacheinander auf, nach Stämmen und Heeresgruppen getrennt. Die jeweiligen Führer der Großverbände werden genannt — unser Vers bezeichnet den Aufbruch des Stammes Benjamin unter der Leitung von Abidan. Die Wolke indiziert einen neuen Ort, die Stiftshütte wird dort aufgebaut und die heiligen Geräte folgen. Die Wanderung des ganzen Volks wird angeführt von der Bundeslade.

Dies ist ähnlich wie beim Zug aus Ägypten hin zum Sinai, und doch ganz anders. Auf dem Weg aus Ägypten durch das Schilfmeer in die Wüste hatte die Wolke tags geführt und eine Feuersäule nachts. Immer noch sind die Israeliten in der Wüste und wandern. Aber als Ergebnis der Offenbarung gibt es nunmehr die Lade mit ihren Gesetzestafeln und die Stiftshütte mit dem Allerheiligsten und den Kultgegenständen, mit genauen Anweisungen für ihren Gebrauch. Eine neu gestiftete, geoffenbarte Religion — sie ist gleichzeitig Staats- und Zivilordnung — verbindet die Stämme. Als entlaufende Bausklaven waren sie zum Sinai gekommen, nun sind sie Nation, die sich auf eine Landnahme vorbereitet. Verband nach Verband bricht auf, in fester Ordnung, verlässt das Lager, zieht gemeinsam, lässt sich wieder nieder. 

Und so wird es bleiben während der nächsten vierzig Jahre. Die Wanderung, zunächst Übergang von einem Ort zum anderen, wird selbst Heimat. Fast alle, die wir hier aufbrechen sehen, werden auf der Wanderung ihr Leben beenden,. Erst die Kinder und Kindeskinder erreichen das versprochene Land. 

Das kann ein Bild für das Leben sein. Sie sind auf dem Weg. Die Orte, an denen sie sich aufhalten, sind vorläufig und letztlich unwichtig. Ihre eigentliche Realität tragen sie mit sich: Gott, das Gesetz und die Beziehungen untereinander. An „Social Distancing“ ist nicht zu denken — das Lagerleben ist eng, und in der Wüste ist die Sippe lebensnotwendig. 

Ein faszinierendes, sehr altes Bild. Und es ist so gar nicht das, was wir zu leben versuchen. Ist das gut für uns oder schlecht? Was soll unser Leben sein, Zustand oder Weg? Ein Zustand, als „So-sein“, ist seinem Wesen nach vergänglich. Wege können viel dauerhafter sein: die Römerstraßen und die antiken Handelswege werden oft heute noch genutzt. Der Begriff ‚Ewigkeit‘ ist für mich Chiffre eher für einen Weg als für einen Zustand.

Auf unserer Reise wünsche ich uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth