Denn sie reden von dir lästerlich, und deine Feinde erheben sich ohne Ursache.
Ps 139,20
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Die Feinde…
Wir haben aus einem der allerschönsten Psalmen gezogen, sprachlich und was die Macht der Bilder betrifft — und der gezogene Vers ist Teil einer Verfluchung der Feinde. Hier ist, fast am Ende des Psalms, der Vers im Kontext (Vers 19-22):
Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten!
Dass doch die Blutgierigen von mir wichen!
Denn sie reden von dir lästerlich,
und deine Feinde erheben sich mit frechem Mut.
Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen,
und verabscheuen, die sich gegen dich erheben?
Ich hasse sie mit ganzem Ernst;
sie sind mir zu Feinden geworden
Mir war gar nicht bewusst, das Psalm 139 diesen Teil enthält. In Gottesdiensten wird er nicht gelesen, er scheint so gar nicht zu dem vertrauensvollen und liebenden Hauptteil zu passen, mit den unvergesslichen Bildern.
Aber wenn man selektiert, besteht die Gefahr, dass man immer dasselbe wählt und immer dasselbe wegdrückt. Das ist die Stärke des „Bibelverses der Woche“: alle Verse der Bibel, und somit auch des Psalters, werden mit der gleichen Wahrscheinlichkeit gezogen. Ich habe nachgezählt: Bislang hatten wir 23 Verse aus dem Psalter, und acht davon sprechen direkt oder indirekt vom Existenzkampf mit den „Feinden“. Wer es durchklicken will, hier sind die Links: BdW 20/2022, BdW 19/2022, BdW 38/2021, BdW 37/2020, BdW 15/2020, BdW 46/2019, BdW 28/2019, BdW 26/2019.
Die katholische Kirche hat aus dem Stundenbuch für Ordensleute eine Reihe von Fluchpsalmen vollständig gestrichen sowie auch ausgewählte Verse in anderen Psalmen, weil sie die Botschaft der Bibel zu verdunkeln scheinen. Aber der Psalter ist das Gebetbuch der Zeit des Tempels, und ganz offensichtlich spielt tödlicher Kampf darin eine tragende Rolle.
Wie kann man damit umgehen? Man kann es wörtlich lesen. Dann ist diese Welt durch einen gnadenlosen Überlebenskampf geprägt, in der sich der Betende der Hilfe und des Beistandes Gottes versichern will und muss — und nach Lage der Dinge bedeutet der Beistand Gottes dann die physische oder soziale Vernichtung des Gegners. Das ist durchaus nicht weltfremd, ich kann mir gut vorstellen, dass Soldaten auf beiden Seiten der ukrainisch-russischen Front so beten.
Zwei Menschen, die ich gut kenne, sehen in solchen Versen ein Abbild des Kampfs der Mächte des Lichts und der Mächte des Bösen, in die wir Menschen mit einbezogen sind, ob wir wollen oder nicht.
Mein Vater, den ich in der Vergangenheit darauf ansprechen konnte, erkennt in diesen Stellen die inneren Feinde, dasjenige, was uns daran hindert, unser eigentliches Potential als Kinder Gottes zu leben, was uns immer wieder herunterzieht und erdrücken kann.
Ich selbst habe gelernt, es so zu lesen: Die Welt ist wahrhaftig nicht so, wie sie sein sollte, wenn wir in einem festen Bund mit einem allmächtigen Wesen lebend, als Menschheit geeint und jeder für sich unter den zehn Geboten und dem Doppelgebot der Liebe. Was den Unterschied ausmacht, können in der Tat äußere Feinde sein. Ich will die vielen Beispiele dafür nicht aufzählen müssen. Es können große gesellschaftliche Bewegungen sein. Oder aber ganz individuelle innere Widerstände, Unreife, Geiz, Gier, sexuelles Verlangen, Angst, Neurosen, Psychosen. Und das Leid im Umgang mit Menschen: Kollegen, Konkurrenten, Neidern, Nachbarn – auch dem Ehepartner, den Geschwistern, den Kindern, den Eltern. Bei allem, was ich aufzähle, fallen mir Geschichten ein, manche davon dunkel und hoffnungslos. Sollte denn das alles in einem Gebetbuch keinen Platz haben? Im Neuen Testament ist viel vom Teufel und von Dämonen die Rede. Auch das sind Chiffren für höchst reale Vorgänge.
„Feinde“ trennen uns vom Reich Gottes. Je nachdem, wer betet und in welcher Lage er das tut, sind es sehr unterschiedliche Dinge. Wir tun gut daran, anzuerkennen, dass wir uns, dass alle Menschen sich in existenziellen Kämpfen befinden und dabei die Hilfe Gottes brauchen. Sonst bauen wir uns eine Wohlfühlreligion, der ausserhalb des Wellness-Bereichs keine Relevanz zukommt.
Der Herr behüte uns vor unseren Feinden! Und wenn ich am kommenden Sonntag das nächste Mal vor anderen den wunderbaren Psalm 139 lese, will ich ihn ganz lesen.
Ulf von Kalckreuth