Bibelvers der Woche 44/2022

Und will das Recht gehen lassen über Moab; und sie sollen erfahren, dass ich der HErr bin.
Hes 25,11

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Vom Verurteilen

Ein „Fremdvölkerspruch“ von Hesekiel. Moab, Edom und eine Reihe anderer Völker haben zum Untergang Judas beigetragen, und sie sollen, so wünscht und prophezeit es Hesekiel, ihre Strafe erhalten. Auf seiner Reise ist der ‚Bibelvers der Woche‘ schon einige Male auf Sprüche zu anderen Völkern gestoßen. Die Tonlage kann sehr unterschiedlich sein. Mal weint der Prophet über das Unglück, das er sieht, siehe die BdW 4/2018 und 44/2018 zu Moab, mal sieht er Israel gleichrangig im Verbund mit den großen Völkern, siehe BdW 17/2021 zu Israel, Assur und Ägypten, und mal steht Vernichtung im Vordergrund, wie in BdW 13/2018 und auch in diesem Vers.

Ich bin in einem interreligiösen Chor, genannt ‚Tehillim‘, nach dem hebräischen Wort für ‚Psalmen‘. Wir singen zur Zeit den Psalm 137, in unterschiedlichen Vertonungen, hebräisch, deutsch, lateinisch, englisch. Er beginnt mit den bekannten Worten „An den Wassern von Babel saßen wir und weinten…“ Der Psalm kreist um die Erfahrung der Hilflosigkeit im erzwungenen Exil, und die Bedeutung des Festhaltens an der eigenen religiösen Identität. Und dann, am Ende des Psalms, kommen diese Worte: 

HERR, vergiss den Söhnen Edom nicht, was sie sagten am Tage Jerusalems:
»Reißt nieder, reißt nieder bis auf den Grund!«
Tochter Babel, du Verwüsterin
wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast
Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt
und sie am Felsen zerschmettert!

Wie singt man das eigentlich? Es ist eine Vernichtungsphantasie, hier spricht der blanke Hass gegen die Eroberer, die den Exilanten ihre Lebenswelt nehmen, um ihnen die eigene aufzudrücken. 

Die Bibel ist nicht nur Wort Gottes. Sie ist Transkript eines Gesprächs Gottes mit den Menschen — vielen Menschen, verschiedenen Menschen. Menschen in sehr unterschiedlichen Lebenslagen, über vielen Hunderten von Jahren. Manche können verzeihen, andere nicht. In der Sprache der Musik ist das, was da gen Himmel steigt, nicht ein volltönender Akkord, sondern ein Cluster. Wenn ich Psalm 137 immer wieder lese und auch singe, verstehe ich den Menschen, der ihn geschrieben hat. Auch meine Familie wurde vertrieben, auch wir haben alles verloren. Seine Phantasie aber muß ich für mich nicht übernehmen

Gott will Recht über Moab sprechen, sagt Hesekiel. Es ist klar, welches Urteil der Prophet erwartet — immerhin aber bleibt offen, ob Gott nicht vielleicht zu einem ganz anderen Ergebnis kommt. Wer nicht selbst verurteilt werden will, sollte Verurteilungen anderer nicht herbeisehnen. Es gibt einen anderen Psalm, er singt die Worte: „So du willst, HERR, Sünde zurechnen — Herr, wer wird bestehen?“

Ich wünsche uns allen eine Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

P.S. : In wenigen Wochen, am 23. November um 19:30 Uhr, findet im jüdischen Gemeindezentrum von Frankfurt ein Konzert von „Tehillim“ zu Psalm 137 statt — hier ein Link.

Bibelvers der Woche 43/2022

Baana, der Sohn Ahiluds, zu Thaanach und zu Megiddo und über ganz Beth-Sean, welches liegt neben Zarthan unter Jesreel, von Beth-Sean bis an Abel-Mehola, bis jenseit Jokmeams.
1 Kö 4,12

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Salomon und Liz Truss

Wie vor zwei Wochen ein Vers aus dem Beginn des ersten Königsbuchs. Salomo richtet seine Herrschaft auf. Hier geht es um einen wichtigen Aspekt — Steuern. Der gezogene Abschnitt benennt Verantwortliche für die Ausstattung der königlichen Hofhaltung für jeweils einen Monat. In 1 Kö 5,1-3 wird aufgelistet, welche Last es bedeutete, das Benötigte in Naturalien heranzuschaffen.

Es geht um die Wurst — wer muß die Rechnung zahlen? Als Volkswirt würde ich erwarten, dass die einmal eingerichtete fiskalische Verfassung darüber hinaus für weitere Zweck genutzt wurde, Finanzierung von Kriegen, öffentlichen Bauwerken, Repräsentation. Der Abschnitt nennt die Namen der Fronvögte und zählt die dahinter stehenden Gebiete auf: zwölf Steuerbezirke also. Wir können sie in einer Karte betrachten. Hier ist ein Link, der im Vers genannte Distrikt trägt die Nummer 5. Und dann fällt etwas Wichtiges auf: Salomos eigenes Stammesgebiet, Juda, ist völlig ausgespart. Obwohl Jerusalem direkt an Juda angrenzt, muß der Stamm Davids und Salomos nichts zur Finanzierung der Hofhaltung beitragen! 

Ist das möglich? Das Buch der Könige wurde nach dem Exil verfasst, also rund fünfhundert Jahre nach Salomo, auf der Grundlage älterer Schriften. Es wäre also denkbar, dass die salomonischen Steuerbezirke in Vergessenheit geraten waren und die Verfasser sich ersatzweise an den Steuerbezirken des Nordreichs (ohne Juda also) orientiert haben. 

Andererseits — wenn Salomo aber wirklich so besteuert hätte, so wäre dies die Steuerverfassung eines Imperiums, mit Juda und Jerusalem als Zentrum und den nördlichen Landesteilen als tributpflichtigen, abhängigen Gebieten. Während ich dies schreibe, sitze ich in einem Flugzeug nach Rom. Es setzt gerade zur Landung an in der ewigen Stadt. Bis zum Untergang des römischen Reichs mussten die Einwohner dieser Stadt keine Steuern zahlen… 

Senatus Populusque Romanus — Kanaldeckel in Rom

Nach dem Tod Salomos können sich die zehn Stämme des Nordens nicht mit der Herrschaft seines Sohns Rehabeam abfinden, siehe 1 Kö 12. In der Auseinandersetzung um die Nachfolge halten Vetreter der zehn Stämme dem Sohn Salomos entgegen: Dein Vater hat unser Joch zu hart gemacht. Mache du nun den harten Dienst und das schwere Joch leichter, das er uns aufgelegt hat, so wollen wir dir untertan sein. (1 Kö 12,4). Rehabeam besteht auf dem Status Quo, und die zehn Stämme schaffen sich einen eigenen Staat. Rehabeam kann nichts dagegen tun.

Wenn Salomo tatsächlich die ganze Steuerlast dem Norden aufgebürdet hätte, wäre das Auseinanderbrechen des Reichs mehr als verständlich. Sollte der für seine Weisheit gerühmte Salomo gleich zu Beginn seiner Herrschaft einen solchen Fehler begangen haben? Liz Truss fällt mir ein, die Premierministerin von Großbritannien, und ihre Steuerpolitik. Ihre Herrschaft währte nur sechs Wochen…

Eine schöne Nachricht zum Schluß: Der „Bibelvers der Woche“ wurde von der Frankfurter Buchmesse als relevantes Medium eingestuft, und ich kann, nun als akkreditierter Blogger, die Messe kostenfrei besuchen. Mein neues Leben als Influencer hat begonnen!

Uns allen wünsche ich eine Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche — akkreditierter Blog

Bibelvers der Woche 42/2022

… auf dass ihre Herzen ermahnt und zusammengefasst werden in der Liebe und zu allem Reichtum des gewissen Verständnisses, zu erkennen das Geheimnis Gottes, des Vaters und Christi,…
Kol 2,2

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Gottes Geheimnis

Hier ist noch einmal der Vers im Kontext, und zwar im leichter verständlichen Wortlaut der „Gute Nachricht Bibel“:  

Es liegt mir daran, dass ihr wisst, wie sehr es bei diesem meinem Kampf um euch in Kolossä geht und auch um die Gemeinde in Laodizea und überhaupt um alle, die mich persönlich nicht kennengelernt haben. Ich möchte, dass sie alle Mut bekommen und in Liebe zusammenhalten und dass sie zur ganzen reichen Fülle des Verstehens gelangen und Gottes Geheimnis begreifen, nämlich Christus. In ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen. (Kol 2,1-3) 

Das ist spannend: hier sagt Paulus knapp, warum er missioniert. Er tut’s für andere, nicht für sich selbst, und es geht ihm darum, bei diesen Mut zu erwirken, Liebe und das Erfassen von Gottes großem Geheimnis, Jesus Christus. Um zu ermessen, was da steht, mag man kurz überlegen, welche anderen Motive es geben könnte.

Ich wünsche uns eine Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 41/2022

Und Salomo machte zu der Zeit ein Fest und alles Israel mit ihm, eine große Versammlung, von der Grenze Hamaths an bis an den Bach Ägyptens, vor dem HErrn, unsrem Gott, sieben Tage und abermals sieben Tage, das waren vierzehn Tage.
1.Kö 8,65

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Hochzeit

Wir wohnen einer orientalischen Hochzeit bei, einer königlichen Hochzeit besonderer Art. Gott ist bereit, bei Israel zu wohnen, seiner Braut. Salomo hat in zwanzigjähriger Arbeit den Tempel gebaut, eine unglaubliche logistische und ökonomische Anstrengung. Der Tempel wurde geweiht, der Opferbetrieb aufgenommen, und mit einem langen Gebet will Salomo den Bund Israels mit dem Herrn, seinem Gott, stärken und gewissermaßen in die nächste Phase des gemeinsamen Lebens nehmen. 

Es ist der glanzvollen Höhepunkt der biblischen Geschichte des Alten Testaments, siehe auch den BdW 27/2020. Die Zeit der Wanderschaft ist endgültig vorbei. Israel unter Salomo ist ein mächtiger Territorialstaat mit festen Grenzen. Er will sein Reich verstetigen, ein dauerhaftes Königtum etablieren. Die Bundeslade, die einst dafür stand, dass Gott mit seinem Volk zieht, wohin immer es auch geht, wird im Allerheiligsten fest verschlossen. Der Tempel in Jerusalem soll einziger Kultort sein. 

Auf das Gebet Salomos antwortet Gott mit einer Mahnung: ja, alles soll so sein, wie Salomo es erbeten hat — wenn denn das Volk den Bund hält. Wenn nicht, fielen Tempel, Staat und Königtum der Vernichtung anheim und das Volk würde zum Spott seiner Umgebung. 

Das greift mehrere Jahrhunderte voraus. Einstweilen aber wird die Hochzeit vollzogen. Und wie es üblich ist im Orient wird lange, lange gefeiert: sieben Tage, und nochmals sieben Tage, das waren vierzehn Tage… 

Ich habe Grund, dem Herrn für Schutz in der vergangenen Woche zu danken. Gottes Segen sei mit uns auch in der Woche, die kommt!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 40/2022

So gehorchet mir nun, meine Kinder. Wohl denen, die meine Wege halten!
Spr 8,32

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Weisheit suchen und finden!

Schauen Sie sich erst einmal den wundervollen Abschnitt an, dem unser Vers entstammt. Hier spricht die Weisheit selbst: 

Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als die Meere noch nicht waren, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens. Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über den Fluten der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich als sein Liebling bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.

So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten! Hört die Mahnung und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind! Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore! Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom HERRN. Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.
(Sprüche 8, 22-36, Lutherbibel 1984)

Das Buch der Sprüche ist ein Lehrbuch der Weisheit — im wortwörtlichen Sinne. In seinem Kern ist es eine Sammlung von Merksätzen zum Auwendiglernen, die den Lehrstoff begreif- und erinnerbar machen sollen. Ich freue mich jedesmal, wenn ich auf einen Vers aus dem Buch der Sprüche ziehe. Was dabei zum Vorschein kommt, ist neu und vertraut zugleich. Und es ist 2300 Jahre alt, gut abgehangen, nicht immer garantiert tagesaktuell. Aber wenn ich das brauche, kann ich den Deutschlandfunk einschalten.

Die morgenländische Weisheit ist mit der griechischen Philosophie verwandt. Es geht um Regeln für gelungenes Leben. Diese Regeln stehen in Zusammenhang mit Gott. Sie sind aber nicht Theologie, sondern Kunst der Lebenspraxis. Man findet im Buch der Sprüche kaum Verweise auf die Torah oder die Schriften. 

Die Regeln der Weisheit tragen sich selbst — wer sie befolgt, hat Erfolg, wer sie mißachtet, trägt den Schaden selbst. Wohl denen, die meine Wege halten! Jeder Lebensratgeber behauptet das von sich. Entscheidend aber ist, dass das Buch der Sprüche (auch) von Ethik handelt. Das „Wie soll ich leben“ bemißt sich nicht nur am individuellen Wohlergehen, sondern gleichermaßen am Wohlergehen der Gemeinschaft. Wir sehen hier üblicherweise einen Konflikt. Die Bonbons, die ein Kind sich vom Tisch nimmt, stehen für die anderen nicht mehr zur Verfügung. Die Weisheitsliteratur besteht darauf, dass es, wenn wir richtig leben, zwischen diesen Forderungen keinen Widerspruch gibt. Wer das für die Gemeinschaft richtige tut, bringt und hält sein eigenes Leben in Ordnung. Und umgekehrt: Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.

Wie soll man das verstehen? Als Ökonom fühle ich mich an Adam Smith erinnert. Er war Moralphilosoph und wurde zum Gründungsvater der Nationalökonomie. Er steht für die durchaus erstaunliche Botschaft, dass man längerfristig keinen Wohlstand erzielen kann, ohne dabei das Richtige für die Gemeinschaft zu tun. Wer reich werden oder auch nur am Markt bestehen will, reagiert auf Preissignale und kann gar nicht anders, er muß bestehende Knappheiten lindern. Er wird zum Beispiel Arzt — nicht um der Menscheit zu helfen, sondern weil Ärzte knapp und Behandlungen teuer sind. Der Porsche, den die Medizinstudentin während ihrer Vorlesungen vor Augen hat, lenkt sie und ihre Möglichkeiten sehr gezielt auf den rechten Weg. Auf ihren Altruismus müssen wir uns nicht verlassen… Andererseits: wen Preissignale nicht interessieren, muss dies teuer bezahlen — und zwar selbst.

Jeder weiss, dass es viele Situationen gibt, in denen der Markt nicht das Wohl aller garantiert. Aber das Preissystem als grundlegende soziale Institution ist erstaunlich robust, und es wäre schön, lebensnotwendig gar, wenn mehr Felder sich so entwickeln ließen, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen unserem Eigeninteresse und dem Wohl aller. Solche Wege sind dauerhaft und belastbar. Das Buch der Weisheit steht für die Überzeugung, dass es sie gibt. 

Und so verstehe ich den Vers dieser Woche: Lasst uns diese Wege suchen und sie gehen! Es ist das Beste, das wir für uns selbst tun können. Ich selbst denke an die Klimakrise, es ist das, was mich zunehmend beruflich beschäftigt. Widersprüche zwischen Eigeninteresse und dem Interesse der Menschheit sind hier der Kern des Problems. 

Jesus sagt uns, dass dieser Widerspruch Illusion ist, dass wir ihn überwinden müssen, dass wir bei Gott sind, wenn wir den Nächsten lieben wie uns selbst. 

Der Herr gebe uns Weisheit, in der kommenden Woche und in unserem Leben.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 39/2022

Und wenn sie durch die Tore des innern Vorhofs gehen wollen, sollen sie leinene Kleider anziehen und nichts Wollenes anhaben, wenn sie in den Toren im innern Vorhofe und im Hause dienen.
Hes 44,17

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Reinheit und Verschiedenheit

Es geht in unserem Vers um Reinheit. Reinheit in der Verschiedenheit ist für Juden sehr wichtig. Gott erschafft die Welt, indem er verlässliche Grenzen dort einzieht, wo Chaos herrscht — er trennt Licht von Finsternis, das Land vom Wasser, den Himmel von der Erde. Schöpfung ist Trennung. Juden feiern die Verschiedenheit: des Heiligen vom Weltlichen, der Juden von den Nichtjuden, der Männer von den Frauen. Ein zentrales Gebet, die Havdalah, dankt dem Herrn so: 

Gelobt seist Du, Herr, unser Gott, König der Welt, 
der du unterscheidest und trennst
zwischen Heiligem und Nichtheiligem,
zwischen Licht und Finsternis,
zwischen Israel und den Völkern,
zwischen dem siebten Tag und den sechs anderen.

Gelobt seist Du, Herr, 
der du unterscheidest und trennst
zwischen Heiligem und Nichtheiligem.

Für Christen und auch Hindus oder Buddhisten ist dies eine gewöhnungsbedürftige Idee — sie tendieren dazu, die in der Verschiedenheit verborgene Einheit zu suchen. In diesem Sinne ist der Vers, den wir gezogen haben, zutiefst jüdisch. Der letzte Teil des Buchs Hesekiel ist eine großartige Vision vom neuen Jerusalem als der Ort der Herrschaft Gottes auf Erden. Der reale Tempel im realen Jerusalem ist vernichtet, da sieht Hesekiel am Ort seiner Verbannung den neuen Tempel im himmlischen Jerusalem. Ein Engel führt ihn, und er kann den Dienst im Tempel Gottes studieren. Hesekiel ist Fachmann, er entstammt einer Priesterfamilie und war vielleicht selbst Priester im Tempel, bevor er nach Babylonien verschleppt wurde. Im himmlischen Tempel sieht er nun Reinheit, wo sie früher nicht war. Hierfür steht unser Vers. Die Priester, die nun wirkliche Leviten sind und Gott wirklich dienen wollen, tragen leinene Kleidung, damit sie nicht schwitzen und mit ihrer Körperlichkeit den Tempel nicht verunreinigen. Diese Kleidung sollen sie nach dem Gottesdienst an einer besonderen Örtlichkeit verwahrt, „damit sie das Volk nicht durch ihre Kleidung mit dem Heiligen in Berührung bringen“ (44,19). 

Lehavdil bein chodesh lechol — das Heilige vom Nichtheiligen scheiden, wie es im Gebet heisst. Beides muss immerzu voreinander geschützt werden, das Heilige und das Nichtheilige. Das Heilige ist immer bedroht und braucht Reinheit. Für normale Sterbliche wiederum war es tödlich, mit der Heiligkeit Gottes in Berührung zu kommen oder sie auch nur zu sehen. 

Ja, auskristallisierte Verschiedenheit ist Schöpfung, und die Strukturen, die sie schafft, machen die Welt aus. Das ist richtig, logisch zwingend geradezu, und wenn wir uns über Unterschiede ärgern, hilft es oft sich zu fragen, ob es denn gut wäre, wenn sie fehlten. Gott aber ist es auch, der die Gegensätze eint und in der Einheit zur Vollkommenheit macht. 

In der vergangenen Woche war Tag- und Nachtgleiche, jetzt ist die Nacht länger als der Tag. In der Woche, die vor uns liegt, feiern Juden ihr Neujahrsfest, das Fest der Schöpfung, Sie gedenken des Tags der Erschaffung der ersten Menschen, als Mann und Frau, aber auch des Tags der ersten Sünde. In der Welt der Verschiedenheit sei der eine Gott uns gnädig und zugewandt!

שנה טובה ומתוקה 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 38/2022

Er redete aber von dem Judas, Simons Sohn, Ischariot; der verriet ihn hernach, und war der Zwölfe einer.
Joh 6,71

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Fast allein

Jesus war streitbar — die Evangelien berichten, wie seine harten Formulierungen harte Gegenwehr erzeugen konnten, bis hin zu Gewalttätigkeit, und oft tat er nichts, dies zu vermeiden. 

Der Streit in Kapernaum, von dem hier die Rede ist, ist der erste, von dem Johannes berichtet. Und er kostete den Wanderprediger den größten Teil seiner Anhängerschaft, die durch das Wunder der Brotvermehrung gewaltig zugenommen hatte. 

Was war geschehen? Jesus sagt den Zuhörern, dass sie eins werden müssen mit ihm, dass sie nur so zum Vater kommen können. Ob dies gelingt, ob jemand diesen Weg findet, entscheidet der Vater. Jesus gebraucht für das Einssein mit Jesus ein krasses Bild, und es bleibt ausgesprochen unklar, ob es nur ein Bild ist oder mehr: Die Menschen, so sagt er, müssen sein — Jesu — Fleisch essen und sein Blut trinken, um zum ewigen Leben zu kommen. 

Da schießen explosiv Empfindlichkeiten hoch. Für Juden ist es eine grauenvolle Vorstellung. Menschenopfer sind abscheulich. Das Trinken von Blut ist absolut verboten, Fleischgenuß ist nur möglich, wenn dem Fleisch durch Schächten alles Blut entnommen wurde. Denn im Blut ist das Leben des Tieres, sagt Mose. Gemeint ist im Evangelium zunächst der Opfertod Jesu — das Opfer ist heilsnotwendig. Aber man kann Jesu Worte darüber hinaus auf das Heilige Abendmahl, die Eucharistie beziehen, und dann geht es um physisches Fleisch und physisches Blut. Auch unter Christen werden die Diskussionen hierzu sehr scharf, wenn sie nicht vermieden werden

Jesus vermeidet gar nichts und beharrt auf der Formulierung. Die Menschen wenden sich angeekelt ab. Nur die zwölf Schüler, die er sich selbst erwählt hatte, blieben. Er fragt, ob sie nicht auch gehen wollen, und Petrus antwortet für alle mit den Worten: Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens, und wir haben geglaubt und erkannt,: Du bist der Heilige Gottes.

Ein anrührendes Bekenntnis. Jedem anderen hätte es an dieser Stelle die Stimme verschlagen. Aber Jesus antwortet: Habe ich nicht euch zwölf erwählt? Und einer von euch ist ein Teufel.

Der gezogene Vers nun ist die Erklärung des Evangelisten: Jesus meint Judas Ischariot, der ihn später verraten würde. Johannes liefert diese Erklärung, weil die Antwort sehr schroff ist und ihr Sinn nicht offensichtlich — beweisen die Zwölf nicht gerade ihre Treue? Das ist doch wahrlich nicht dasselbe: herausgehobener Anhänger eines Stars zu sein, des angehenden Königs und Heilsbringers, oder zu den letzten Getreuen eines gemiedenen Aussenseiters zu zählen. Die zwölf bleiben bei ihrer Entscheidung für den Messias, den sie gefunden haben. 

Vielleicht meint Jesus wirklich Judas. Vielleicht aber bricht sich in ihm auch Enttäuschung Bahn. Die Zukunft, die vor ihm liegt, wird eben kein Siegeszug sein, keine erfolgreiche Bekehrung großer Massen, sondern ein leidensvoller und oft recht einsamer Weg. Das wird jetzt sehr deutlich.

Wie hätte ich mich entschieden? Wie die zwölf oder wie die vielen anderen? In Mat 7,14 spricht Jesus, dass der Weg zum Leben schmal sei und nur wenige ihn finden. Hat er das vor oder nach Kapernaum gesagt? Es ist die Gnade des Vaters, die zum Vater führt, so sagt er hier, in Joh. 6. 

Der Herr sei uns gnädig auch in der kommenden Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 37/2022

Freue dich und sei fröhlich, du Tochter Zion! denn siehe, ich komme und will bei dir wohnen, spricht der HERR.
Sach 2,14

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Ende — und Erlösung

Das ist sehr sonderbar, nicht wahr? Dieser Vers ist wie ein Echo auf den Vers der letzten Woche, ein spiegelverkehrtes Abbild. Hier spricht einer der letzten Propheten der hebräischen Bibel, Sacharja, dessen Name „Gott erinnert sich“ bedeutet. Der erste Teil des Sacharjabuchs stammt aus der Zeit um 520 v. Chr., als Juden aus dem babylonischen Exil zurückkommen und damit beginnen, aus den Trümmern Jerusalems wieder eine Stadt zu bauen. Staatliche und religiöse Ordnung entstehen neu — es gibt in Serubbabel einen Führer aus der alten Königsdynastie und in Jeschua einen charismatischen Hohenpriester. Der Bau eines Tempels wird in Angriff genommen.

Ein fröhlicher Vers, in befreiender Sprache. Er könnte aus dem Text eines Tanzlieds stammen, nicht wahr?

Gott erinnert sich seines Volks, seiner geliebten Braut. Ein altes Bild aus besseren Zeiten. Er kehrt zu seiner Braut zurück, um wieder bei ihr zu wohnen, so sagt es der gezogene Vers. Die Botschaften aus der Zeiten vor dem Exil – wie die im Vers der letzten Woche — kehren sich hier glatt um. Das spricht Sacharja in der Einleitung des Buchs selbst an (Sach 1,2-4):

Der HERR ist zornig gewesen über eure Väter. Aber sprich zum Volk: So spricht der HERR Zebaoth: Kehrt euch zu mir, spricht der HERR Zebaoth, so will ich mich zu euch kehren, spricht der HERR Zebaoth. Seid nicht wie eure Väter, denen die früheren Propheten predigten und sprachen: »So spricht der HERR Zebaoth: Kehrt um von euren bösen Wegen und von eurem bösen Tun!«, aber sie gehorchten nicht und achteten nicht auf mich, spricht der HERR.

Hier ist frohe Botschaft. Aber was genau ist die Botschaft? Denken wir an den Vers der vergangenen Woche, die angekündigte Vernichtung. Wer nun zweitausendfünfhundert Jahre später von beidem liest, vom Zorn Gottes, der Zerstörung Jerusalems und der Wegführung des Volks einerseits und der einem Wunder gleichen religiösen und staatlichen Wiedergeburt in der Gnade Gottes siebzig Jahre später, einem Tanz gleich — der hat es nicht leicht.

Der Herr ist zur Reue fähig wie nach der Sintflut, wäre eine Botschaft: Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht (1. Mo 8,22). Die Bundestreue des Herrn überdauert den Bundesbruch der Menschen, so hätte es Sacharja selbst wohl gesehen. Die Gnade des Herrn ist mit denen, die sie annehmen, könnte Paulus sagen.  

In mir entsteht dies: Gottes Gnade kann durch Katastrophen tragen, auch und gerade dann, wenn sie Strafen sind. Das ist schön und schrecklich zugleich.

Die Bibel stellt in mehreren zentralen Stellen Leid und Freude nebeneinander, macht sie gar abhängig voneinander: Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei sind und ledig sein sollen, zu verkündigen ein gnädiges Jahr des HERRN und einen Tag der Rache unseres Gottes, zu trösten alle Trauernden. und einen Tag der Reue unseres Gottes, steht bei Jesaja (61,2). Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen, und tragen guten Samen, sagt Psalm 126. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen, sagt Jesus (Luk 6,21b), der Meister der Aporie, und die Offenbarung (7,17) spricht von den Geretteten der Endzeit so: denn das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und leiten zu den Quellen lebendigen Wassers und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.

Hier scheint auf, dass Leid und Strafe gar Voraussetzung sein könnten für Freude und Erlösung. Ich will das hier so weitergeben, obwohl ich es nicht wirklich verstehe.

Wir können schließen wie in der vergangenen Woche: die Gnade des Herrn sei mit uns, derer wir so sehr bedürfen!  
Ulf von Kalckreuth


Wieder ist jemand von uns gegangen, der unsere Zeit geprägt hat — nach Michail Gorbatschow nun Queen Elisabeth II. Sie war schon Königin, als ich sprechen lernte. Zeit ist ein Shredder, fortwährende Vernichtung. Im Gedächtnis Gottes sind wir alle aufgehoben.

Bibelvers der Woche 36/2022

So höret nun und merket auf und trotzt nicht; denn der HErr hat’s geredet.
Jer 13,15

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Subway wall

Was hat der Herr geredet? Jeremia erzählt erst von einer Zeichenhandlung. Auf Weisung Gottes legt er sich einen Gürtel zu, trägt ihn eine Weile und legt ihn dann in einer Felsspalte in der Nähe eines Bachs ab. Als er lange Zeit später wiederkommt und den Gürtel sucht, findet er ihn verrottet. So kann Gott das Volk, mit dem er sich gegürtet hat, auch wieder von sich lösen, dann wird es verrotten. Im Anschluß kündigt Jeremia die Vernichtung an, die dem Volk wiederfahren wird — jeder wird wie volltrunken sein und der eine am andern zerschmettern. 

Das Buch Jeremia ist voll solcherlei Ankündigungen, und im Großen und Ganzen werden sie wahr. Das Königreich Juda büßt seine staatliche Existenz ein, die Hauptstadt und der Tempel werden vernichtet, ein großer Teil der Bevölkerung ins babylonische Ausland deportiert. In Kapitel 13 des Buchs ist das angekündigte Ende noch bedingt darauf, dass das Volk die eingeschlagenen Wege weitergeht. Das Unheil kann noch abgewendet werden. Dafür steht der gezogene Vers. Später schwindet die Bedingtheit: aus der Drohung wird eine einfache, hilflose Vorhersage.

Hier wird kollektive Vernichtung angedroht, als Konsequenz für kollektives Versagen. Aus der katholischen Konfessionsschule meiner Kindheit habe ich mitgenommen, dass — nach dem Tod übrigens, nicht vorher —  meine individuellen Sünden gewogen würden. Und aus evangelischen Gottesdiensten heutigen Tags scheint uns Gott als Allerbarmer auf, der möglichst vielen Menschen möglichst großes Glück schenken will. 

Es ist sonderbar, wie die Vorstellungen sich immer weiter von der Bibel und auch von der erfahrbaren Wirklichkeit entfernen. Kollektives Versagen bringt kollektives Unheil mit sich, das ist sehr bodenständig, hier gilt das Gesetz der großen Zahl. Beim Individuum ist der Zusammenhang längst nicht so streng: Glück, günstige Umstände und Zufall können verhindern, dass jemand für seine Fehler büßt. Mit Glück erntet auch ein dummer Bauer große Kartoffeln. Ob jemand für seine Fehler büßt scheint mir vor allem davon abzuhängen, wie gut er vernetzt ist. Und die letzte Vorstellung — gehen Sie gedanklich die Geschichte zurück: scheint es möglich, dass ein allmächtiger Gott zu jedem Zeitpunkt das größtmögliche Glück aller verfolgt hätte? 

Mit der Bibel hat diese Vorstellung nicht viel zu tun. Das Alte Testament spricht vom Bund, der Treue Gottes zu diesem Bund und der Strafe für die fehlende Bundestreue des Volk Gottes. Ebenso das Neue Testament. Diese Welt ist gefallen, sie bewegt sich unabwendbar ihrem Ende zu, sagt das Neue Testament. Gerettet wird, wer das Angebot des Bundes annimmt und hält, jenes diesmal, das Gott uns in Seinem Sohn macht. 

Gibt es kollektive Strafe? An den Judäern, an den Babyloniern, an den Deutschen wegen des Genozids, an den Reichen wegen der Armut der anderen, an uns allen wegen unseres Umgangs mit der Ökosphäre? Und wer ist gerettet? Alle? Das Volk Gottes in seinen zwei Gestalten? Die unter ihnen, die den Bund halten? Ich? Mein Nachbar? Und wenn ich, warum nicht er? Auch wenn Tausende fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, es wird dich nicht treffen! sagt Psalm 91. Wer sind die, die fallen, und wer ist hier gerettet? Was kann zur Rettung geschehen? Kann etwas geschehen?

Das sind Rätsel und Fragen, die mich verfolgen. And the sign said: The words of the prophets are written on a subway wall. „So höret nun und merket auf und trotzt nicht, denn der HErr hat’s geredet.“ Die Bibel ist eigentlich ziemlich deutlich. Was die Kirchen sagen, verstehe ich nicht. 

Uns allen wünsche ich die Gnade Gottes, derer wir bedürfen!  
Ulf von Kalckreuth


In dieser Woche starb Michail Gorbatschow, letzter Präsident der Sowjetunion und Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU bis zu ihrem Untergang. Im vergangenen Jahr gab es zum BdW 12/2021 eine Betrachtung, die Elemente eines Nachrufs enthält.

Bibelvers der Woche 35/2022

Und am andern Tage, da Agrippa und Bernice kamen mit großem Gepränge und gingen in das Richthaus mit den Hauptleuten und vornehmsten Männern der Stadt, und da es Festus hieß, ward Paulus gebracht.
Apg 25,23

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

In der Schwebe — dauerhaft!

Der Vers beschreibt den Moment, wo vier Menschen zusammentreffen, um das Vorgefallene zu verstehen. Er steht in einer langen, verwickelten Geschichte. Wie einen literarischen Text kann man sie aufdröseln. Vielleicht stelle ich zunächst kurz die vier Menschen vor, die dramatis personae, mit Wikipedia-Links

Paulus: Chefmissionar ohne Kirche. Christ und Pharisäer, Jude von Geburt, Römer per Staatsbürgerschaft, und Grieche per Herkunft und Sprache. Als Missionar hat er gelernt, allen alles zu sein (1. Kor. 9, 19-23). Nun, da er in Gefangenschaft geraten ist, setzt er seine vielen Identitäten wie Reisepässe an der richtigen Stelle ein. 

Agrippa (Herodes Agrippa II), Klientelkönig der Römer, Enkel von Herodes des Großen, und nominell Herrscher über wechselnde Teile der römischen Provinz Syria. Wie andere Kolonialherren versuchen die Römer, ihre Macht möglichst über lokale Vertraute auszüben, deren Herrschaft in den Augen der Bevölkerung eine gewisse Legitimität besitzt. Agrippa steht auch die Oberaufsicht über den Tempel in Jerusalem zu, mit dem Recht, den Hohenpriester einzusetzen — damit kommt ihm eine Führungsposition in religiösen Fragen zu. 

Berenike: Schwester von Agrippa mit buntem und skandalträchtigem Leben, ist Vorlage vieler literarischer Darstellungen. Zur Zeit der Handlung lebt sie mit ihrem Bruder in einem auf Dauer angelegten Verhältnis. Sie wird später Geliebte von Titus, bevor dieser römischer Kaiser wird. Theodor Mommsen nannte sie „Kleopatra im Kleinen“.

Porcius Festus, Prokurator und Inhaber der römischen Befehlsgewalt in Cäsarea, ist als Nachfolger des Marcus Antonius Felix gerade in sein Amt gekommen. Er kennt sich in den jüdischen Interna nicht aus und ist besorgt, unnötige Konflikte zu vermeiden.

Was bringt die vier zusammen?

Paulus ist in Jerusalem von den Römern vor wütenden religiösen Juden in Sicherheit gebracht worden, die ihn im Tempel entdeckt hatten. Beinahe hätte ihn dort das Schicksal seines Meisters ereilt. Er kommt in eine Art Schutzhaft. Dies ist der Beginn eines schier unendlichen Zugs durch die Instanzen der römischen juridischen Maschine. Ein Oberst lässt ihn schlagen und bekommt es mit der Angst zu tun, als dieser sich auf sein römisches Bürgerrecht beruft. Paulus wird nach der Provinzhauptsatdt Cäsarea überstellt. Dort sollte der römische Statthalter Felix entscheiden, was mit dem sonderbaren Gefangenen geschehen mag, gegen den schwer greifbare, aber hochemotionale Beschuldigungen gerichtet werden. Felix überlässt diese Entscheidung seinem Nachfolger Festus und lässt Paulus derweil jahrelang in leichter Haft. 

Festus, der neue Prokurator, will gute Beziehungen zu den religiösen Juden und schlägt vor, man könne die Sache in Jerusalem entscheiden. Paulus lehnt ab — das Recht dazu hat er als römischer Staatsbürger offenbar — und verlangt, dass seine Sache vor einem kaiserlichen Gericht entschieden werden solle, in Rom also. Auch in diesem Fall würde sich das Problem für Festus erledigen, er hat daher nichts dagegen.  Aber von den Dingen der Juden und Christen weiß er so wenig, dass er nicht einmal eine Anklageschrift formulieren kann.

Und weil Agrippa, als Oberherr des Tempels mit seiner Schwester Berenike seinen Antrittsbesuch macht, lädt Festus das königliche Paar ein, den rätselhaften Gefangenen gemeinsam zu betrachten. Der gezogene Vers bringt die vier Menschen endlich zusammen.  

Agrippa kennt die christliche Lehre einigermaßen und versteht die Hintergründe des Konflikts. Er gibt Paulus Gelegenheit zu einer langen Verteidigungsrede, die dieser nutzt, um sich als frommer Jude mit einer besonderen Einsicht vorzustellen. Agrippa und die anderen Teilnehmer des Verhörs können keine Schuld erkennen. An diesem Punkt könnten der römische Prokurator und das königliche Paar ihn mühelos lossprechen. Statt dessen aber tritt Paulus seinen Weg nach Rom an — ohne Anklageschrift.  Dort wird sich die Geschichte von ungerichteter Haft und der Suche nach klaren Konturen noch viele Jahre lang fortsetzen, bis zu seinem Tod im Zuge einer Christenverfolgung unter Nero.

Wahrheit kann ungreifbar sein, mit den Begriffen, die uns zur Verfügung stehen.

Ich denke, das ist der Kern dieser sonderbaren Geschichte und unseres Verses. Niemand auf dem langen Instanzenweg vermag eine Schuld zu erkennen. Anders als bei Jesus von Nazareth, der in Jerusalem in fast der gleichen Lage recht schnell zu Tode kam, bleibt Paulus‘ Schicksal dauerhaft in der Schwebe. Er lebt eine Zwischenexistenz als Gefangener erster Klasse mit vielen Sonderrechten. Mit den Kategorien des römischen Rechts lässt sich das, wofür er steht, nicht fassen. Paulus vermag sich überall adäquat zu verteidigen. Die kolonialen Instanzen bleiben eigentümlich wirkungslos.

Aber sie geben ihn auch nicht frei. Es ist gleichzeitig offensichtlich und nicht justiziabel: Der Apostel ist eine Herausforderung, nicht nur für religiöse Juden, sondern auch für das römische Reich. So, wie niemand ihn schuldig sprechen kann, will auch niemand verantwortlich sein, ihn losgegeben zu haben. Er wird immer weitergereicht. Paulus hat keine Schuld, sondern ein Schicksal, eine Bestimmung. Gefangen, und doch frei. Er erreicht Rom nach vielen Monaten und einem Schiffbruch — und es wirkt nicht, als brächte ihn die römische Gerichtsbarkeit dorthin, eher so, als zöge seine Bestimmung ihn wie ein Magnetberg an… 

Ich kann es leider nicht besser sagen. Albert Camus hätte vielleicht eine großartige Erzählung daraus gemacht. Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche auf dem Weg zu unserer Bestimmung, was auch immer sie sei, 
Ulf von Kalckreuth