Und weil sich dein Herz erhebt, dass du so schön bist, und hast dich deine Klugheit lassen betrügen in deiner Pracht, darum will ich dich zu Boden stürzen und ein Schauspiel aus dir machen vor den Königen.
Hes 28,17
Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.
Wer ist Luzifer?
Der Abschnitt, in dem unser Vers steht, Hes 28, 11-19, ist schön und schrecklich zugleich. Vielleicht lesen Sie ihn erst einmal.
Die ersten drei Jahre meiner Grundschulzeit war ich Schüler an einer katholischen Konfessionsschule, seinerzeit der einzige evangelische Schüler. Der Religionsunterricht wurde von Ordensschwestern erteilt. Sie erzählten mir eine Geschichte, die ich nie vergessen habe. Unter den Engeln Gottes war einer, der schöner und klüger war als die anderen, ein Engelfürst wie Michael und Gabriel. Sein Name war Luzifer, Morgenstern, „Lichtbringer“. Berauscht von seiner Schönheit und Klugheit wollte er mehr sein als die anderen, wollte er sein wie Gott. Er vermochte es, viele andere Engel auf seine Seite zu ziehen, und es kam zum Kampf unter den Engeln Gottes. Gegen Luzifer stritten Michael und seine Getreuen. Luzifer wurde überwunden und in die Hölle gestürzt, nun war er Satan und steht für die dunkle Seite der Welt.
Die Geschichte ist wichtig. In der Nussschale erklärt sie, wie das Dunkle in die Welt kommt, obwohl Gott hell ist. Dass es real ist und mächtig, trotz Gottes Allmacht. Dass des Bösen Kraft aber nur vorläufig ist. Wie es verlockend sein kann und schön, auch beim dritten Hinschauen. Und selbstverständlich habe ich angenommen, dass die Geschichte in der Bibel steht.
Aber dort steht sie nicht. Jedenfalls nicht im Buch Genesis, wo sie zu vermuten wäre. Als ich das irgendwann merkte, begann ich, sie zu suchen. Man erzählt sie sich überall bei den Christen, und sie wird auf drei Bibelstellen zurückgeführt. Eine davon ist Hes 28, aus der unser Vers stammt. Die beiden anderen sind Jes 14,12-14 und Off 12,3ff, der Kampf des Drachen mit den Engeln.
Aber sonderbar: der Text in Offenbarung bezieht sich auf die Endzeit, ist Apokalypse, nicht Genesis, er erzählt das Ende der Welt, nicht ihren Ursprung. Und die Texte von Jesaja und von Hesekiel behandeln lebende Menschen, Jesaja den König von Babylon, Hesekiel in unserem Vers den König von Tyros. Der Prophet stimmt sogar ein Klagelied für den König an, von Gott befohlen. Das wäre sehr viel „sympathy for the devil“, um es mit den Stones zu sagen.
Recht betrachtet steht die Geschichte vom Höllensturz nicht in der Bibel. Aber wir kennen sie, und auch Johannes, Hesekiel und Jesaja könnten sie gekannt haben. Vielleicht haben sie die Geschichte bewusst genutzt, zitiert, um „ihren“ jeweiligen Gegenstand — die Endzeit und die Könige von Tyros und Babylon — zu beleuchten. In ihren Grundzügen wird sie im äthiopischen Henochbuch erzählt, dessen alte hebräische Fassung in Qumran aufgetaucht ist. Wenn es aber in unserem Vers nicht in erster Linie um Luzifer geht, um was dann? Es muss wichtig sein, Tyros empfängt mit drei Kapiteln bei Hesekiel enorme Aufmerksamkeit.
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Zwei Szenen mit meinen Kindern. In der vergangenen Woche ging ich abends nach der Kinderoper mit Mathilde durch die Taunusanlage. Es war dunkel und die Hochhäuser ringsum waren hell erleuchtet und neigten sich wie Giganten über uns. Mathilde war begeistert von der blendenden Pracht. Ich auch, aber ich dachte an den Bibelvers und stellte mir vor, sie stürzten über uns zusammen.
Meine ältere Tochter, Esther, hat mich in der vorvergangenen Woche in die Welt von Instagram eingeführt. Ich habe jetzt einen eigenen Account und kann sehen, wie Menschen sich und ihr Leben darstellen. Überall Ästhetik — manche stellen das dar, was sie sehen und wie sie es sehen, manche andere schamlos immer wieder sich selbst. Alles ausweglos hochselektiv. Die Accounts wachsen organisch und verweisen aufeinander, sind miteinander verflochten. Instagram und Facebook sind Teil der „echten“ Welt geworden, die Menschen leben darin und ein wenig auch dadurch. Auch hier lässt mich etwas nicht los: Was geschieht, wenn der Träger des Accounts stirbt? Seine Bilder, seine Kommentare, seine Nachrichten bleiben, was sie sind, sie wachsen nur nicht weiter. In der virtuellen Welt bleiben sie stehen, glänzend und schön, abgelöst von unserer Körperlichkeit. Wir entgrenzen.
Dann verstand ich, worauf ich Abschnitt und Vers beziehen kann. Der Text von Hesekiel passt auf uns, viel besser noch als auf die Menschen, die der Prophet selbst kannte. Nach den Maßstäben des Altertums sind wir von Engeln und Göttern kaum zu unterscheiden. Viele von uns jedenfalls. Das Internet, die sozialen Medien und der Flugverkehr machen uns fast allwissend und allgegenwärtig. Manche von uns richten ihr ganzes Leben auf diesen Feenglanz.
Wenn wir uns vergessen und zu Göttern werden, gehen wir unter. Wie der König von Tyros und die Frau des Fischers im Märchen. Und könnte es nicht sein, dass auch die uralte Geschichte vom gefallenen Engel, die mir die Ordensschwester weitergegeben hat, eigentlich uns meint, schön und schrecklich zugleich, unentwirrbar, und die Kämpfe in unserem Inneren?
Ulf von Kalckreuth