Wer bei einem Vieh liegt, der soll des Todes sterben.
Ex 22,18
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Der Weg des Gesetzes
Der Vers ist eine typische Mitzwah, eine Bestimmung der Torah. Im Judentum bestimmen die fünf Bücher Mose die Regeln für ein gottgefälliges Leben — Gott hat seinem Volk gesagt, welchen Weg es gehen sollen. Diese Regeln sind eine Gnadengabe Gottes am Sinai, in ihrer Gesamtheit beschreiben sie einen Heilsweg. Rabbinische Gelehrte zählen in den fünf Büchern Mose insgesamt 613 Bestimmungen: 248 Gebote und 365 Verbote. Die Mitzwot haben oft keinen im engeren Sinne religiösen Charakter, sondern regeln Fragen des Lebens, die in modernen Gesellschaften unter das Zivilrecht, das Strafrecht, das Familienrecht oder die Sozialgesetzgebung fallen könnten. Unter diesem Link finden Sie die Auflistung der Mitzwot nach Maimonides, dem großen jüdischen Religionsgelehrten des Mittelalters.
Die rabbinische Tradition hat Prinzipen entwickelt, diese Gebote auszulegen und auch das zu regeln, wofür es keine ausdrücklichen Bestimmungen gibt. Die 613 Mitzwot spannen damit einen normativen Raum auf, der das Gottgefällige vom Sündigen unterscheidet. „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (3. Mose 19,2). Die Befolgung der Mitzwot ist eine lebenspraktische, tägliche Übung, die uns näher zu Gott bringen und an seiner Seite halten sollen.
Daraus ergibt sich unmittelbar, wie unser Vers als Mitzwah zu lesen ist: Du bist ein Mensch, sollst heilig sein und dich nicht selbst zum Tier machen.
Die Haltung der christlichen Kirchen zur Torah und den Mitzwot ist nicht einfach zu verstehen. Die Torah wurde nicht in Gänze übernommen und verbindlich gemacht — Paulus legt dar, dass der Versuch, sich durch Befolgung aller Gebote das Heil zu sichern, in die Irre führen muss. Die jüdischen Speisegebote etwa haben im Christentum keine Geltung, die Gebote zu den Feiertagen nur ansatzweise. Aber auch ein Leben mit und aus Christus braucht am Ende Wegweiser und Jesus selbst verweist oft auf die Torah. Die zehn Gebote und das Doppelgebot der Liebe sind Kern christlicher Ethik. Und mit ihnen wurden viele Wertungen des Judentums übernommen, anderes wurde ergänzt. Der Weg des Gesetzes wird auch im Christentum gegangen, bei den Katholiken mehr als bei den Protestanten, und das richtige Maß ist bis heute Stein des Anstoßes.
Die Wertungen der Torah zur Sexualethik wurden im Christentum vollständig übernommen. Paulus verweist auf sie als Ganzes, vgl. den BdW 2018/42. Viele davon sind auch heute vertraut und natürlich — die Bestimmungen zum Verkehr unter Verwandten etwa oder das Verbot, die eigene Tochter zu Hurerei anzuhalten — aber es sind darunter auch Bestimmungen wie die folgende (Lev 20,15):
Wenn jemand bei einem Mann schläft wie bei einer Frau, so haben sie beide getan, was ein Gräuel ist, und sollen des Todes sterben; ihre Blutschuld komme über sie.
Die Strafbarkeit von Sodomie wurde in der alten Bundesrepublik 1969 aufgehoben, wegen Bedeutungslosigkeit. Im Jahr 2012 wurde Sodomie wieder verboten — als Ordnungswidrigkeit im Rahmen der Tierschutzgesetzgebung. Eine Verfassungsbeschwerde zweier Sodomisten wegen Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung scheiterte im Jahr 2016. Der Schutz des Tiers habe seinerseits Verfassungsrang.
Noch einmal zurück zum Weg des Gesetzes. Ich bin tief gespalten. Sodomie mag in unserem Leben keine Rolle spielen. Der Vers und sein Umfeld illustrieren aber, dass der Weg des Gesetzes keine Autobahn ist, einfach zu fahren und schnelle Verbindung zum Ziel. Wir steinigen keine Ehebrecher (Lev 20,10) und wir töten keine Zauberinnen (Ex 22,19). Ich habe nicht gelernt, ein Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert nach Regeln aus der Eisenzeit zu führen. Um das tun zu können, mit einem akzeptablen Ergebnis, braucht man eine lange und ganzheitliche religiöse Erziehung. Dazu muss gehören, die Bestimmungen als Richtschnur für das eigene Leben anzunehmen, nicht aber als Basis für das Urteil über andere. Auch verstehe ich die Warnung Paulus‘ vor den Fallstricken der Gesetzlichkeit gut.
Aber die Torah kann Gottes Willen erhellen wie ein Schlaglicht! Nur zwei Beispiele: den Vers der Woche 41/2018 — aus demselben Abschnitt wie der Vers dieser Woche vor genau zwei Jahren — und den Vers der Woche 48/2019. Wie will man darauf verzichten?
Wenn nun Gott sich uns Menschen zweimal in Gnade zugewandt hat: mit seinem Gesetz und mit dem Erlöser, seinem Sohn, und wenn dieser Erlöser immer und immer wieder auf das Gesetz verweist — wie schön wäre es dann für mich, genauer zu wissen, was denn Gottes Wille in meinem Leben ist! Nicht alles ist ja so leicht zu entscheiden wie die Frage, ob Sodomie einen Platz darin hat…
Heute ist Tag der Deutschen Einheit und Sukkot, das Laubhüttenfest. Der Herr möge mit uns sein!
Ulf von Kalckreuth
2 Antworten auf „Bibelvers der Woche 41/2020“