Liebe Herren, wie lange soll meine Ehre geschändet werden? Wie habt ihr das Eitle so lieb und die Lüge so gern! (Sela.)
Ps 4,3
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Lüge und Wahrheit
Als ich in den Vers in der vergangenen Woche zog, glaubte ich, sofort zu verstehen. Hier ruft die gequälte Seele eines Opfers seiner Umgebung und ihrer Hierarchien. In einer großen Organisation bekommt man genügend Anschauungsmaterial: Wer nicht in den Kram passt, wird zur Zielscheibe, viele zerbrechen daran. Ich las den Vers meiner Frau vor und sagte ihr: „Dieser Psalm 4 ist gewiss kein Psalm Davids“.
Und ich lag falsch. Hier spricht König David. Wer sind denn die „lieben Herren“, von denen er so bitter spricht? Die Granden seines Hofs, die Stammesfürsten, auf deren Wohlwollen er angewiesen war, die Könige und Fürsten anderer Reiche? Von Willy Brandt wird gesagt, dass sein Aufstieg sich auf einer Kette von Demütigungen vollzog — vielleicht hat auch David das so empfunden?
Es geht hier um eine Grunderfahrung, die Könige und Bettler teilen, und auch Angestellte.
Der Psalm spricht vom Vertrauen in Gott, Gott als Bezugspunkt, der alles heilt. Wenn Menschen zueinander in Konflikt stehen, hat jeder „seine“ Wahrheit und glaubt sie in der Regel selbst. Und die Wahrheit des einen ist dem anderen Lüge. ‚Was ist Wahrheit‘, fragt Pilatus, und nur an der Oberfläche ist das Ironie. Die eine, intersubjektiv nachprüfbare Wahrheit der Wissenschaftstheoretiker gibt es im sozialen Gegeneinander nicht, es gibt so viele Wahrheiten wie Beteiligte und machmal noch einmal so viel. Schmutzig wird die Welt dabei und — ja, demütigend.
Gott als Bezugspunkt. Gott als Lokus der Wahrheit — wenn zwei miteinander reden und beide denken an Gott, dann werden sie dieselbe Wahrheit sehen. Davon bin ich überzeugt. Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.
Der Herr behüte uns in dieser Woche und erhalte unsere Wahrhaftigkeit,
Ulf von Kalckreuth