Interludium: Betrachtung zu Palmsonntag

Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Spricht Pilatus: Was ist Wahrheit?
Joh 18,37

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Königtum

Dies ist kein „Bibelvers der Woche“, zufällig gezogen, sondern meine Betrachtung zum Palmsonntag im Gottesdienst des vergangenen Sonntags. Sie schließt sich aber sehr unmittelbar an den Bibelvers dieser Woche an und hat mir geholfen, den Sinn der Karwoche besser zu verstehen. Sie können diesen Text also als Nachtrag betrachten.


Königtum, Tod, Fasten

Liebe Gemeinde, es ist Palmsonntag. Palmsonntag steht für ein großes Ereignis. Jesus zieht ein in Jerusalem, ins Zentrum der Macht – dort wo die Könige residierte und der Tempel stand. Es ist aber auch das Zentrum der Macht seiner Gegner. In Jerusalem wird sich alles entscheiden.

Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« 
Joh 12, 12-15

Palmsonntag hat etwas sehr Irritierendes – dieser Tag im funkelt und blitzt in allen Farben des Regenbogens und dazu auch in weiß, blendend hell. Eine große Wahrheit scheint auf: zu sehen für jedermann. In alptraumhafter Weise verkehrt aber diese Wahrheit sich dann in ihr Gegenteil, wird zur fetten, feisten Lüge. Um nochmals später doch wahr zu sein, auf gänzlich unerwartete Weise, in einer anderen Welt eigentlich.

Als Jesus später vor Pilatus steht, fragt dieser ihn: „Bist Du der Juden König?“ Und Jesus antwortet (Joh, 18):

Mein Reich ist nicht von dieser Welt… Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?

Wahrheit zeigt uns manchmal ständig ein anderes Gesicht. Und manchmal ist sie gar nicht wiederzuerkennen.

Palmsonntag: Jesus gibt sich als Messias zu erkennen – endlich! Es muss eine unglaublich dichte Atmosphäre gewesen sein, damals. Heilserwartung lag in der Luft. Die Menschen jubelten: sie hatten von Jesus gehört und von seinen Wundertaten und nun kam er tatsächlich nach Jerusalem, die Hochgebaute, wo sich das Schicksal Israels und der Welt wenden würde. Alle vier Evangelien berichten von dem Einzug, in leicht unterschiedlicher Weise. Auf einem Füllen sitzend kam Jesus, die Menschen haben ihre Kleider — die seinerzeit lange Tücher waren — auf das Füllen und über den Boden gelegt, für den König. Palmzweige wurden gestreut. Alles war möglich, alles konnte nun geschehen. Die Welt war weit offen. Das Reich Gottes und die Welt der Menschen waren verschränkt wie niemals vorher und niemals nachher. Die Menschen sangen den Messiaspsalm, Psalm 118. Ich will ihn nachher mit euch beten. Dieses Lied ist an vielen Stellen geradezu ekstatisch, es besingt den Einzug in die Heilige Stadt und den Anbruch des Reichs Gottes. In der Zukunft. Doch die war ja gerade Gegenwart geworden…!

Jesus durchschreitet das Tor. Was aber dort auf ihn wartet, ist nicht Königtum, sondern der Tod. Er wird verfolgt – versteckt feiert er mit seinen Jüngern das Pessachmahl, wird dann verraten, verhaftet, verurteilt und verspottet. Eine Dornenkrone setzen sie ihm auf, dem „König der Juden“, und einen Purpurmantel. Dann wird er gefoltert bis zum Tod. Die Welt bleibt stehen, der große Schabbat, einen ganzen Tag lang!

Und dann ist alles GANZ anders. Dann ist Jesus wirklich König, dann steht er auf von den Toten, ist Christus, der Gesalbte, der zur Rechten des Vaters sitzt.

Das ist eine unglaubliche Geschichte, nicht wahr? Als ich darüber nachdachte, merkte ich, dass sie aber auch etwas hat, das uns alle betrifft, etwas fast Alltägliches. Wir sind Kinder Gottes, sind als Kinder Gottes geboren und als Christen dazu bestimmt, die Krone zu empfangen. Das ist Palmsonntag, nicht wahr? Was aber dann mit uns geschieht, ist nicht schön. Bei vielen dauert es lange, bei manchen geht es schneller – wir desintegrieren, lösen uns auf. Im Alter verlieren wir alles: Kraft, Geist, Schnelligkeit, oft auch den Verstand und die Erinnerungen, am Ende sogar die grundlegendsten Fähigkeiten. Das Leben ist sehr gut darin, uns die Dornenkrone aufzusetzen. Ich denke an einen Menschen, der mir sehr nahe steht. Er wird neunzig und hat fast alles verloren, ausser seinem Verstand und seinem Gehör und seiner Familie. Diese drei sind ihm geblieben. Dornenkrone, nicht wahr? Karfreitag

Gottes großes Versprechen ist, dass dies nicht das Ende ist. Das wir zu Recht Gottes Söhne und Töchter heißen, dass wir Könige sind und Königinnen. In dieser Welt und in der nächsten. In Ostern liegt die eigentliche, die letzte Wahrheit.

Auf dem Weg dorthin aber verlieren wir alles. So ist es, unausweichlich, die Bibel sagt das deutlich, im Buch Kohelet wie auch in den Psalmen. Gott nimmt uns das nicht ab. Der Weg ist nicht schön, oft ist er gar entwürdigend, so wie die Dornenkrone. Und wir sollen lernen, damit umzugehen. Ich sehe darin den eigentlichen Sinn des Fastens. Lernen, frei zu bleiben.

Palmsonntag ist der Einstieg in die Karwoche. Mich hat die Fastenzeit in diesem Jahr überfallen und eingefangen, fast wie ein Räuber. Ich wollte eigentlich lediglich auf Alkohol und Videos verzichten. Fleisch esse ich ohnehin nicht. Meine jüngere Tochter hat dann beschlossen, tagsüber nicht zu essen, nur noch abends nach acht Uhr. Ich fand das überzeugend und habe mich angeschlossen. Jeden Abend haben wir um acht Uhr gemeinsam gegessen.

Und die kommende Woche, Montag bis Karsamstag, werde ich in einem kleinen Zimmerchen in der Mitte eines Kirchturms verbringen. Weißfrauenkirche, Gutleutstraße. Ich will versuchen, ein Buch aus meinen Betrachtungen zum Bibelvers der Woche zu machen. Das war ein recht kurzfristiger Entschluss, aber irgendwie passt er zum ganzen Rest. Ich werde sehr reduziert sein da oben, und ich bin gespannt, was es mit mir macht. Später werde ich es vielleicht wiedererkennen, in einigen Jahren, wenn ich selbst neunzig bin.

Und dann wissen, dass ich König bin. Wie Jesus, wie wir alle!

Amen! So sei es, so soll es sein!

Bibelvers der Woche 27/2019

Darum ist ihr Weg wie ein glatter Weg im Finstern, darauf sie gleiten und fallen; denn ich will Unglück über sie kommen lassen, das Jahr ihrer Heimsuchung, spricht der HErr.
Jer 23,12

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Richtige und falsche Propheten

In diesem Vers und dem Abschnitt, aus dem er gezogen wird, geht es um falsche Propheten und ihr Schicksal, Jeremia kündigt ihren Untergang an. Das Buch Jeremia ist nicht leicht zu lesen. Nicht nur, dass es von Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart, zukünftigen Möglichkeiten und Visionen handelt — es gibt auch viele Brüche, und einige historischen Ereignisse und Einzelheiten aus dem Leben des Propheten begegnen vorne wie hinten immer wieder, so als sei die Schriftrolle aus mehreren anderen Rollen zusammengefügt, die ihrerseits zerschnipselt waren. Das Buch ist stellenweise wie ein Fiebertraum. Aber manches zieht sich durch den Text, und Jeremias Auseinandersetzung mit den anderen Propheten seiner Zeit gehört dazu.

In seiner Zeit hatten Propheten eine fast amtliche Stellung, sie werden gemeinsam mit hohen Priestern und Regierungsbeamten genannt und stehen manchmal dem König nahe. Oder eben auch nicht, und das konnte gefährlich werden, wie wir in Woche 11/2019 gesehen haben. Jeremia fand sich im Laufe seines langen Lebens auf beiden Seiten. Unter König Josia war er sehr geachtet, er trug dazu bei, das zu errichten, woraus später einmal die jüdische Orthodoxie wurde. Unter seinen Söhnen Jojakim, Jojachin und Zedekia geriet er in Ungnade, immer weiter, und musste schließlich im Gefängnis und einer schlammgefüllten Zisterne ein Leben am Rand des Todes führen. Aber immer kannte man ihn, und sein Wort konnte Unruhe stiften. Seine Stellung als einer, der das Wort Gottes weitergeben konnte, stand nicht wirklich in Frage, selbst vor Gericht nicht. 

Jeremia spricht über diejenigen, die politisch korrekte Wahrheiten produzieren, direkt vom Herrn. Ein Prophet urteilt über Propheten. Ein wenig so, wie wenn heute Wissenschafter anderen Wissenschaftlern käufliche Forschung vorwerfen, oder Panikmache. Wie soll man damit umgehen? Im 5. Mose 18,20f gibt es eine Regel: falsche Propheten müssen sterben, und man erkennt sie einfach daran, dass ihre Prophezeiungen nicht eintreffen, wenn sie über die Zukunft sprechen. Jeremia nimmt das ernst, diese Drohung hängt ja ständig über seinem Leben, und er richtet sie konsequent auch gegen seine Gegner. In diesem Vers geschieht das allgemein, an anderer Stelle konkret gegen die mächtigen Gegner Hananja (Jer 28) und Schemaja (Jer 29, 24f).

Soweit ist alles klar. Wer behauptet, das Wort Gottes zu haben, um damit seine eigenen Ziele zu verfolgen, handelt in gesteigertem Maße verwerflich, so wie jemand, der die Wissenschaft zur Magd von kommerziellen Interessen macht. Die Lüge beraubt nämlich gleichzeitig die Gemeinschaft ihres Kompasses. Aber es ist ungeheuer schwer, dies festzumachen. Propheten verfügen eben über exklusive Erkenntnismöglichkeiten, ebenso wie Wissenschaftler, und Moses einfache Regel mag die Dinge zwar entscheiden, aber erst nach Jahren und Jahrzehnten. Welcher der vielen Projektionen zum Klimawandel ist denn gut abgesichert? Gar keine vielleicht?

Und wie mag es den Propheten selbst gegangen sein? Wussten sie denn immer, ob sie selbst echt sind oder falsch? Vielleicht war Hananja (immer wieder) ehrlich davon überzeugt, Bote der Wahrheit zu sein, und vielleicht wurde Jeremia in der Zisterne von Zweifeln heimgesucht? Unser Vers macht es eigentlich noch schwerer: Jeremia könnte seinen abschüssigen Lebensweg auch als Hinweis darauf lesen, dass er auf der falschen Seite steht. 

Wir sind keine Propheten, aber auch uns geht das etwas an. Glaube braucht, um wirksam zu sein, feste Überzeugung, aber feste Überzeugung kann auch dem Irrglauben zu großer Kraft verhelfen, im eigenen Leben und darüber hinaus. Noch eine Analogie zur Wissenschaft: Um nicht in die Sackgasse zu gehen, müssen Forscher sorgfältig die eigenen Erkenntnismöglichkeiten im Auge behalten und sich stets ihrer impliziten und expliziten Wünsche nach bestimmten Ergebnissen bewusst bleiben, die auf dem großen wissenschaftlichen Markt honoriert werden oder zum eigenen Weltbild passen. Sie müssen sich dann selbst bei den vielen kleinen Entscheidungen gut über die Schulter schauen. Und bescheiden bleiben, und anspruchslos, denn wer den Erfolg unbedingt will, wird seine Magd. Das ist sehr, sehr viel verlangt: alle Wissenschaftler wollen den Erfolg, so sind sie gestrickt. Und irgendwie muss man ja auch leben. 

Sorgfalt, Achtsamkeit und Bescheidenheit können helfen, Glauben von Irrglauben zu unterscheiden. Und wir können Gottes Hilfe erbitten, wie in dem alten Lied: 

Nun bitten wir den Heiligen Geist 
um den rechten Glauben allermeist, 
dass er uns behüte an unserm Ende, 
wenn wir heimfahrn aus diesem Elende. 
Kyrieleis.

Damit versehen, können wir unsere Glaubensüberzeugungen leben. Sie mögen dann immer auch falsch sein — als Menschen können wir nichts ganz richtig sehen. Aber Gott wird uns tragen. Ich wünsche uns eine Woche abseits der glatten, abschüssigen Bahn in der Dunkelheit eingebildeter Wahrheiten.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 22/2019

Und die Briefe wurden gesandt durch die Läufer in alle Länder des Königs, zu vertilgen, zu erwürgen und umzubringen alle Juden, jung und alt, Kinder und Weiber, auf einen Tag, nämlich auf den dreizehnten Tag des zwölften Monats, das ist der Monat Adar, und ihr Gut zu rauben.
Est 3,13

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Recht auf Irrtum

Hier geht es wieder um einen Genozid, um einen allerdings, der nicht zum Ziel kommt. Die Geschichte der Königin Esther spielt in der Zeit des Exils. Nach dem Zusammenbruch des babylonischen Reichs unterstehen die Juden — die exilierten und die in ihrer Heimat gebliebenen — der Herrschaft des persischen Königs. Diese Herrschaft wird im AT als „gut“ gewertet, weil es schließlich zur Rückführung der Verbannten und zum Wiederaufbau des Tempels und der Stadt Jerusalems kommt. Aber das Buch Esther erzählt, wie vom persische König einst ein Erlass ausging, dass alle Juden getötet werden sollten: das ist der gezogene Vers. 

Der Erlass beruhte auf einem bewusst herbeigeführten Irrtum, auf „fake news“, wie man neudeutsch sagt. Des Königs oberster Berater mit Ministerrang, Haman, war von einem Juden erniedrigt worden, Mordechai mit Namen. Als Rache plant er die Vernichtung des jüdischen Volks. Er sagt dem König, die Juden im Reich hielten sich nicht an die Gesetze und schlägt vor, sie töten zu lassen. Bizarrerweise bietet er sogar an, dafür zu bezahlen. Doch der König unterschreibt das Edikt auch ohne Bezahlung: an einem bestimmten Tag, dem 13. Adar, sollen alle Juden getötet werden. Mit Hilfe von Esther, der jüdischen Frau des Königs, kann der Irrtum aufgeklärt werden und Haman wird gehenkt. Mordechai ist der neue Berater.

Aber mit den „Gesetzen der Meder und Perser“ hat es eine eigene Bewandtnis: sie dürfen nämlich nicht zurückgenommen werden, auch von demjenigen nicht, der sie erlässt. Der Erlass wird also nicht zurückgenommen. Stattdessen geht, auf Rat Mordechais, ein neues Gebot aus, dass nämlich am 13. Adar die Juden ihrerseits alle Freiheit hätten, ihre Feinde zu töten, in beliebiger Zahl. Eigentlich laufen die beiden Edikte in der Zusammenschau auf einen vom König dekretierten Bürgerkrieg hinaus; in der ausführlicheren Fassung der Septuaginta ist der Tag des Präventivmassakers daher auf den Vortag gelegt, den 12. Adar. Jedenfalls obsiegen die Juden überall. Es wird von fünfundsiebzigtausend getöteten Feinden berichtet, im ganzen Reich.

Die Geschichte stammt aus hellenistischer Zeit, sie wurde also geschrieben, als es das Perserreich längst nicht mehr gab. Es ist ausgeschlossen, dass sie sich tatsächlich in der beschriebenen Weise abgespielt hat, siehe https://de.m.wikipedia.org/wiki/Buch_Ester Man kann sie lesen als Erinnerung an die existenzielle Unsicherheit, der sich die ihres Gemeinwesens beraubten Juden gegenübersahen und als Überkompensation. Aber sie enthält auch prophetische Elemente. Nochmals dreihundert Jahre später wurde das Exil für die Juden zum Dauerzustand. Pogrome wie die im gezogenen Vers gab es mehr als einmal wirklich, und meist war dann keine Königin Esther da, die helfen konnte. Sie wird heute verehrt wie eine Heilige, und die Juden feiern den Tag des Massakers mit einem großen Fest — Purim. 

Aus Sicht der ‚Meder und Perser‘ liest man noch eine andere Wahrheit. Es ist ein Zeichen von Schwäche, Fehler nicht zugeben zu können. Es bedeutet Starre und Abkehr von der Wirklichkeit, und die Folgen können tödlich sein. Wir haben ein Recht auf Irrtum, von dem wir gelegentlich Gebrauch machen müssen, auch und vor allem anderen zuliebe.

Ich wünsche uns eine Woche, in der uns das Wissen um die eigene Fehlbarkeit nicht verlässt, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 33/2018

Joas aber sprach zu allen, die bei ihm standen: Wollt ihr um Baal hadern? Wollt ihr ihm helfen? Wer um ihn hadert, der soll dieses Morgens sterben. Ist er Gott, so rechte er um sich selbst, dass sein Altar zerbrochen ist.
Ri 6,31

Was ist Wahrheit?

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. Der folgende Vers 32 gehört untrennbar dazu, daher sei er hier angefügt: 

Von dem Tag an nannte man Gideon Jerubbaal, das heißt „Baal streite mit ihm“, weil er seinen Altar niedergerissen hat.

Wenn man lange genug auf einen Vers blickt, geraten manchmal Kategorien ins Wanken. Das Richterbuch erzählt von einer Zeit großer Unbestimmtheit. Das Gelobte Land ist erobert — oder vielleicht doch nicht? Liest man die ersten Seiten des Richterbuchs, so hat es eher den Anschein, als bewohnten die Israeliten in Kanaan einzelne Geländetaschen, und sind ihren jeweiligen Nachbarn mal überlegen, mal unterlegen, mal im Frieden. Das „Volk“ Israels besteht aus zwölf Stämmen, die kaum kooperieren, manchmal sogar Krieg gegeneinander führen und außer ihrem Gott wenig gemein haben. Und oft noch nicht einmal diesen: die Kulte der Kanaaniter um Ba’al und Astarte sind allgegenwärtig und sehr attraktiv für die Stämme. Und warum auch nicht? Die Idee von Gott, seine „Person“, unterscheidet sich noch nicht sehr von der anderer Götter in Kanaan. Aber auch in dieser frühen Zeit ist bereits das Bilderverbot ein hartes Unterscheidungsmerkmal.

Der Abschnitt, in dem der Vers steht, handelt von Gideon, dem Sohn des Joas. Für ihn gibt es in zwei Erzählkreisen zwei Namen. Als junger Mann zerschlägt er die Altare Baals, die seinem Vater gehören, und zerhackt die Statue der Astarte. Er nimmt das Holz der Statue, um dem Gott Israels ein Opfer zu bringen. In diesem Erzählkreis heißt er Gideon, der gezogene Vers steht an seinem Ende. In der folgenden Erzählung schlägt er vernichtend die Midianiter, welche die Israeliten hart bedrücken. Hier heißt er an mehreren Stellen „Jerubbaal“. Der Name lässt aufhorchen. Er bedeutet „Baal streitet“. Es ist ein „theophorischer“ Name, wie Jisra’el (Gott kämpft) und Jisma‘el (Gott hört). Im zweiten Teil dieser Namen steht „El“, eines der Namen Gottes, der erste Teil ist das Imperfekt eines Verbs in der 3. Person Sg. Ähnlich gebildet ist auch Johannes („Gott ist gnädig“), wobei dort die Kurzform „Ja“ des Gottesnamens in der ersten Silbe steht. 

Der Name „Jerubbaal“ bezieht sich deutlich hörbar nicht auf den Gott Israels, sondern auf Baal! Der Kämpfer gegen Baal trägt also einen Namen, der ihn unter den Schutz Baals stellt. Die Verse 31 und 32 adressieren dieses Problem und machen zwei Festlegungen. Zum einen wird der Name politisch korrekt gedeutet — Jerubbaal heißt nicht einfach „Baal streitet“, sondern der Name bedeutet „Baal soll nur streiten (wenn er kann)“. Grammatisch ist das denkbar, das hebräische Imperfekt gibt das her, und mit dieser Interpretation wäre es ein Spottname auf Baal — allerdings einer mit einem enormen Potential für Missverständnisse. Weiterhin stellen die beiden Verse fest, dass Gideon den Namen Jerubbaal als Zweitnamen erhält, wie Jakob den Namen Jisra‘el. Die mit diesen beiden Namen bezeichneten Personen sind also in Wahrheit eine einzige.

Und wenn die Verse nicht im Buch stünden? Dann gäbe es einerseits Jerubbaal, einen genialen und furchtlosen, dem Baal zugewandten israelitischen Heerführer, der die Midianiter vernichtend schlägt und dessen Sippe ins Unglück gerät, weil er Gold aus der Beute einschmelzen lässt, um ein Standbild zu erstellen und zu verehren — sowie andererseits Gideon, einen zornigen jungen Anhänger des Gottes Israels, der sich im Kampf gegen den Baalskult gegen den eigenen Vater wendet, von diesem schließlich aber vor der aufgebrachten Menge gerettet werden muss. 

Sehr unbestimmte Zeiten waren das! 

Für diese Woche wünsche ich uns Klarheit in den Kategorien. Wir selbst müssen sie schaffen, die Welt schenkt sie uns nicht…
Ulf von Kalckreuth