Bibelvers der Woche 22/2021

…was zu meiner Haustür heraus mir entgegengeht, wenn ich mit Frieden wiederkomme von den Kindern Ammon, das soll des HErrn sein, und ich will’s zum Brandopfer opfern.
Ri 11,31

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Abgründe und Trauer

Unser Vers ist der zweite Teil eines Gelübdes, er sagt, was geschehen soll, wenn die im ersten Teil genannte Bedingung eintritt. Jeftah (oder Jiftach) ist regionaler Führer und will den Widerstand gegen einen Einfall der Ammoniter in die Landschaft Gilead in Gad organisieren. Er ist Sohn des Fürsten von Gilead, gezeugt allerdings mit einer Hure und daher von der Familie verstoßen. In der Verbannung lebt er als Freibeuter, ähnlich wie David nach seiner Flucht vor Saul.

In der Not nun rufen ihn die Ältesten von Gilead und bieten ihm Herrschaft an: militärische Herrschaft jetzt und politische Herrschaft später. Jeftah hat wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Vor den Schlachten wendet er sich an den Herrn, hier ist das ganze Gelübde im Zusammenhang (in der Übersetzung von 2017): 

Und Jeftah gelobte dem Herrn ein Gelübde und sprach: Gibst du die Ammoniter in meine Hand, so soll, was mir aus meiner Haustür entgegengeht, wenn ich von den Ammonitern heil zurückkomme, dem Herrn gehören, und ich will’s als Brandopfer darbringen. (Ri 11, 30+31)

Er gewinnt die Schlachten und demütigt die Ammoniter, er kehrt siegreich heim. Und es kommt ihm seine Tochter entgegen, sein einziges Kind, eine junge Frau in heiratsfähigem Alter, tanzend, mit der Handpauke, dem Musikinstrument der jungen Mädchen!

Jeftah muß mit einem solchen Ausgang gerechnet haben — der hebräische Text wäre besser mit „wer mir entgegenkommt“ übersetzt. Sonderbar genug aber macht er seiner Tochter Vorwürfe. Sie weist seine Klage zurück und erinnert ihn, dass er es war, der das Gelübde getan hatte. Sie akzeptiert ihr Schicksal, bittet aber, zwei Monate lang in die Berge gehen zu können, um mit ihren Freundinnen zu trauern. Danach könne das Opfer gebracht werden. Und so geschah es.  Wenn ich richtig lese, starb sie von des Vaters eigener Hand.

Der Vers und die Geschichte treffen auf eine Tiefenschicht unseres kollektiven Unterbewusstseins. Ganz ähnliche Begebenheiten werden aus sehr unterschiedlichen Quellen berichtet. Das singende springende Löweneckerchen ist ein Märchen der Gebrüder Grimm, und Idomeneus eine griechische Sagengestalt. 

Ein Führer im vorstaatlichen Israel, ein Richter, opfert dem Herrn sein Kind. Es gibt in der Bibel einige Parallelen. In 2. Kö 3 ist es ein moabitischer König, der in höchster Not seinem Gott Kemosch den ersten Sohn opfert, um die Israeliten zurückzuschlagen — gleichfalls mit Erfolg. Ahas und Manasse, Könige von Juda, opfern ihre Söhne fremden Göttern. Auf Gottes Geheiß soll Abraham seinen Sohn opfern und er ist bereit dazu, nur Gottes Eingreifen rettet Isaak. In Sam 21 liefert David sieben Söhne Sauls den Gibeonitern aus, einem nichtisraelitischen Sassenvolk, damit diese ihre Feinde Gott zum Opfer bringen können. Und die Schilderung des furchtbaren Feldzugs der Israeliten gegen die Midianiter in Num 31 ist an einer wichtigen Stelle ambivalent, siehe den BdW 19/2019.

Menschenopfer sind in der hebräischen Bibel streng untersagt, und sie werden als Greueltaten dargestellt. Es ist jedoch möglich, dass dies nicht immer so gesehen wurde. Im kulturellen Umfeld Israels waren Menschenopfer etwas Natürliches: Opfer ist Kommunikation mit der Gottheit und die höchste Opfergabe war ein Mensch. Wie Baal erhebt der Gott der Israeliten an vielen Stellen des Tanach Anspruch auf den erstgeborenen Sohn, anders als für Baal muss dieser Anspruch allerdings durch ein Tieropfer ausgelöst werden. 

Es fällt mir nicht leicht, darüber zu schreiben, und ich kann für mich nicht klären, ob und mit welcher Regelmäßigkeit in frühester Zeit auch Menschen für Gott geopfert wurden — ganz sicher aber spielten menschliche Opfer eine Rolle in den vielfältigen Vorstellungen, aus denen sich erst die jüdische und dann die christliche Religion herausbildete. Ohne diese uralten Muster im spirituellen Genom könnten Christen nicht in einem Opfer die höchste Erlösungstat erkennen, dem Tod eines eingeborenen Sohns.

Wenn man nun die Geschichte von Jeftah und seiner Tochter noch einmal liest, mag man diese vielgestalte Vorstellungswelt erfühlen, und dann verschwimmen plötzlich die Grenzen zwischen „unserem“ Gott, dem Gott der Israeliten, und den anderen Göttern dieser Zeit. Und da ist sie, die schöne Tochter Jeftahs, wir kennen ihren Namen nicht, wie sie ihrem Vater lachend mit der Handpauke entgegentanzt und sich damit um ihr junges Leben bringt. Ich kann sehen, wie sie mit ihren Freundinnen in die kargen Berge Gileads zieht, um Abschied zu nehmen vom Leben — unendlich kostbar, mit dunklen Augen und schmalem Gesicht unter der Sonne Palästinas, auf einem Esel, angetan mit dem Goldschmuck ihres Vaters und begleitet von seinen bewaffneten Knechten, sie zu schützen und zu bewachen.

Am Ende des biblischen Berichts ist die Rede von alljährlichen Trauertagen für die namenlose Tochter Jeftahs, ausgerichtet von den jungen Mädchen Israels. Ja, manchmal ist es gut zu trauern. Gerade auch über das, was auf dem Weg liegt, der dorthin führt, wo wir stehen. Jetzt und hier.  

Der Herr behüte diesen Weg,
Ulf von Kalckreuth

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