Bibelvers der Woche 22/2019

Und die Briefe wurden gesandt durch die Läufer in alle Länder des Königs, zu vertilgen, zu erwürgen und umzubringen alle Juden, jung und alt, Kinder und Weiber, auf einen Tag, nämlich auf den dreizehnten Tag des zwölften Monats, das ist der Monat Adar, und ihr Gut zu rauben.
Est 3,13

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Recht auf Irrtum

Hier geht es wieder um einen Genozid, um einen allerdings, der nicht zum Ziel kommt. Die Geschichte der Königin Esther spielt in der Zeit des Exils. Nach dem Zusammenbruch des babylonischen Reichs unterstehen die Juden — die exilierten und die in ihrer Heimat gebliebenen — der Herrschaft des persischen Königs. Diese Herrschaft wird im AT als „gut“ gewertet, weil es schließlich zur Rückführung der Verbannten und zum Wiederaufbau des Tempels und der Stadt Jerusalems kommt. Aber das Buch Esther erzählt, wie vom persische König einst ein Erlass ausging, dass alle Juden getötet werden sollten: das ist der gezogene Vers. 

Der Erlass beruhte auf einem bewusst herbeigeführten Irrtum, auf „fake news“, wie man neudeutsch sagt. Des Königs oberster Berater mit Ministerrang, Haman, war von einem Juden erniedrigt worden, Mordechai mit Namen. Als Rache plant er die Vernichtung des jüdischen Volks. Er sagt dem König, die Juden im Reich hielten sich nicht an die Gesetze und schlägt vor, sie töten zu lassen. Bizarrerweise bietet er sogar an, dafür zu bezahlen. Doch der König unterschreibt das Edikt auch ohne Bezahlung: an einem bestimmten Tag, dem 13. Adar, sollen alle Juden getötet werden. Mit Hilfe von Esther, der jüdischen Frau des Königs, kann der Irrtum aufgeklärt werden und Haman wird gehenkt. Mordechai ist der neue Berater.

Aber mit den „Gesetzen der Meder und Perser“ hat es eine eigene Bewandtnis: sie dürfen nämlich nicht zurückgenommen werden, auch von demjenigen nicht, der sie erlässt. Der Erlass wird also nicht zurückgenommen. Stattdessen geht, auf Rat Mordechais, ein neues Gebot aus, dass nämlich am 13. Adar die Juden ihrerseits alle Freiheit hätten, ihre Feinde zu töten, in beliebiger Zahl. Eigentlich laufen die beiden Edikte in der Zusammenschau auf einen vom König dekretierten Bürgerkrieg hinaus; in der ausführlicheren Fassung der Septuaginta ist der Tag des Präventivmassakers daher auf den Vortag gelegt, den 12. Adar. Jedenfalls obsiegen die Juden überall. Es wird von fünfundsiebzigtausend getöteten Feinden berichtet, im ganzen Reich.

Die Geschichte stammt aus hellenistischer Zeit, sie wurde also geschrieben, als es das Perserreich längst nicht mehr gab. Es ist ausgeschlossen, dass sie sich tatsächlich in der beschriebenen Weise abgespielt hat, siehe https://de.m.wikipedia.org/wiki/Buch_Ester Man kann sie lesen als Erinnerung an die existenzielle Unsicherheit, der sich die ihres Gemeinwesens beraubten Juden gegenübersahen und als Überkompensation. Aber sie enthält auch prophetische Elemente. Nochmals dreihundert Jahre später wurde das Exil für die Juden zum Dauerzustand. Pogrome wie die im gezogenen Vers gab es mehr als einmal wirklich, und meist war dann keine Königin Esther da, die helfen konnte. Sie wird heute verehrt wie eine Heilige, und die Juden feiern den Tag des Massakers mit einem großen Fest — Purim. 

Aus Sicht der ‚Meder und Perser‘ liest man noch eine andere Wahrheit. Es ist ein Zeichen von Schwäche, Fehler nicht zugeben zu können. Es bedeutet Starre und Abkehr von der Wirklichkeit, und die Folgen können tödlich sein. Wir haben ein Recht auf Irrtum, von dem wir gelegentlich Gebrauch machen müssen, auch und vor allem anderen zuliebe.

Ich wünsche uns eine Woche, in der uns das Wissen um die eigene Fehlbarkeit nicht verlässt, 
Ulf von Kalckreuth

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