Bibelvers der Woche 38/2021

Denn siehe, HErr, sie lauern auf meine Seele; die Starken sammeln sich wider mich ohne meine Schuld und Missetat.
Ps 59,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gottesmodus

Zwei Grundhaltungen gibt es. Menschen können die Welt und was sie umgibt als feindlich einstufen. Sie sind dann mißtrauisch und verschlossen, oder auch reizbar und aggressiv. In einer feindlichen Welt sind das angemessene Verhaltensweisen. Man kann die Welt auch als zugewandt erleben, als wohnte ihr ein kostbares Versprechen inne, das darauf wartet, wahr zu werden. Wir sind dann offen, neugierig, freundlich und bereit, Bindungen einzugehen. Und auch ungewöhnliche Dinge können wir tun.

Manchmal lässt die Lage uns keine Wahl. Die Welt ist so, dass sie nur eine der beiden Interpretationen zulässt. Aber meist und sehr weitgehend liegt es an uns selbst und an unserer inneren Dynamik, welche der beiden Positionen wir uns nähern, und in welcher individuellen Mischung. 

Wer an einen ihm zugewandten Gott glaubt, hat sich für die zweite Haltung entschieden, jedenfalls mit dem Kopf. Gott ist es, der hinter der Welt steht, sie ist der Ausdruck seiner Schöpfung und seines Wollens. Der Glaube an Gott, die Bereitschaft, sein Versprechen für wahr zu halten, ist Grundlage für Vertrauen. In die Welt, auch in die Menschen, die darin wohnen. 

Aber so einfach ist es nicht im wirklichen Leben. In dem Psalmen ist viel die Rede von „den Feinden“, die den Psalmisten umringen und mit denen er sich auseinandersetzt, manchmal verbal, manchmal auch auf Leben und Tod, siehe z.B. BdW 26/2019 oder BdW 23/2019. Im gezogenen Vers rotten sich die Feinde zusammen und werden zur lebensbedrohenden Gefahr. Die erste Haltung ist dem Psalmisten hier und anderswo mehr als nur vertraut. 

Aber immer in den Psalmen ist Gott die Rettung: der Gedanke an ihn, das Gebet, der Lobgesang. Ich glaube, dass es hier eine Art Mechanik gibt. Der Betende geht in den „Gottesmodus“, er gibt sich zurück in ein Ganzes, dem ein guter Wille innewohnt. Und damit ändert sich die Welt, seine Welt. 

Unser Psalm zeigt den Vorgang sehr deutlich, betont durch fast wortgleiche Wiederholung in der Mitte und am Ende. Der Antagonismus ist extrem, den Feinden wird ihre Menschlichkeit ganz und gar abgesprochen, sie sind wie heulende Hunde. Dann aber wendet sich der Psalmist ab von diesem Bild und Gott zu — und indem er das tut, durchdringen ihn Glück und Geborgenheit (Vers 15-18):  

Des Abends kommen sie wieder, 
heulen wie die Hunde und laufen in der Stadt umher. 
Sie laufen hin und her nach Speise 
und murren, wenn sie nicht satt werden. 

Ich aber will von deiner Macht singen und des Morgens rühmen deine Güte; 
denn du bist mir Schutz und Zuflucht in meiner Not. 
Meine Stärke, dir will ich lobsingen; 
denn Gott ist mein Schutz, mein gnädiger Gott.

Ist das nicht phantastisch? Heulende Hunde sind es, ja. Aber ich brauche sie nicht zu beachten, sie sind nicht wichtig…

Der Herr schenke uns Glück und Geborgenheit in dieser Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 37/2021

Siehe, hier bin ich; antwortet wider mich vor dem HErrn und seinem Gesalbten, ob ich jemandes Ochsen oder Esel genommen habe? ob ich jemand habe Gewalt oder Unrecht getan? ob ich von jemandes Hand ein Geschenk genommen habe und mir die Augen blenden lassen? so will ich’s euch wiedergeben.
1.Sam 12,3

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Vom Segen, gehen zu können

Lesen Sie den Vers ruhig zweimal. Auch ohne die näheren Umstände zu kennen merkt man rasch, dass hier jemand spricht, der sich seiner Stellung vergewissert, der um seine Reputation kämpft, der noch etwas sagen will.

Es ist Samuel. Samuel war nicht nur Prophet, sondern auch Richter (1.Sam 7). In der Zeit vor dem israelitischen Königtum standen Richter über den Stämmen und lösten übergreifende Rechts- oder Machtfragen und organisierten Bündnisse, wenn es Kriege zu führen galt. Sie reisten von Richtplatz zu Richtplatz durch das Land. Die Stämme waren autonom, die Richter waren daher auf freiwillige Kooperation angewiesen. Es hing von den politischen Umständen und den persönlichen Fähigkeiten des Richters ab, ob dies gelang und wenn ja, wie gut. Das Buch Richter dokumentiert, wie chaotisch oder gar bürgerkriegsähnliche die inneren Beziehungen sein konnten. 

Und Samuel war der letzte Richter. Als er hochbetagt war, versuchte er, das Amt in die Hand seiner Söhne zu legen (1.Sam 8). Doch sie erwiesen sich als unwürdig, sie waren parteiisch, bestechlich und auf den eigenen Vorteil bedacht. Das Volk wies die Söhne Samuels zurück und sagte dem Vater, es sei nun genug, man wolle einen König, und Samuel solle einen beschaffen. Er war nun wieder Richter, mit der Aufgabe, das Amt abzuschaffen! 

Samuel empfand diesen Wunsch als widerwärtig. Nicht nur aus tiefer Kränkung: darüber hinaus stand für Samuel fest, dass nur der Herr selbst König von Israel sein könne. Einen menschlichen König zu verlangen, war Mißtrauen gegen Gott!

Dieser Gott aber verlangt nun, dass Samuel den Willen des Volks tue. Er weist auch an, wer König sein solle: Saul. Samuel folgt. Dann hält er eine Abschiedsrede vor dem Volk. Er weist auf die Implikationen des Königtums hin: die Gefährdung der Beziehung zu Gott und die mögliche Versklavung durch den König. Und bittet das Volk inständig, Gott und seinem Wort die Treue zu bewahren. 

Vorher aber muss er sich die Reputation zurückholen, die seine Söhne ihm genommen haben. Samuel will in diesem Moment maximale Glaubwürdigkeit. „Siehe, hier bin ich“, setzt er ein. Er fragt das Volk, ob durch ihn, Samuel, jemand zu Schaden gekommen sei oder ob jemand Grund habe, etwas von ihm zurückzufordern. Er solle es jetzt tun. Und alle sind sich einig, dass Samuels Integrität ausser Zweifel steht. 

Mit seiner Rede gibt er sein Richteramt ein zweites Mal auf. Alles in Komposition und Duktus signalisiert, dass dieser Abschied endgültig sei. König Saul ist installiert und erringt einen glänzenden Erfolg nach dem anderen, der Wille des Volks und der Wille Gottes sind erfüllt.

Das Erstaunliche ist nun, dass er das Amt bald ein drittes Mal haben wird, wenigstens inoffiziell. Auch Saul erweist sich schliesslich als unwürdig und wieder ist Samuel gefragt: er soll das Königtum Davids vorbereiten.

Das ist eigenartig. Man kann sich denken, dass hier zwei Überlieferungsstränge zusammenstoßen: die Geschichte einer erfolgreichen Staatsgründung durch Saul und die eines glänzenden Königtums Davids, und die Figur Samuels muss die beiden Stränge verbinden und darüber hinaus David legitimieren.

So mag es sein. Ich versuche jedoch stets, die Texte so zu lesen, wie sie geschrieben stehen. Und da sehe ich einen alten, einen sehr alten Mann, der endlich gehen will; in Ehren, als einer, der niemandem etwas schuldig geblieben ist. Zu dem aber die Verantwortung ständig zurückkehrt wie ein schrecklicher Bumerang, fast wie ein Fluch. Bis zu seinem Tod — und darüber hinaus. Noch aus dem Totenreich heraus soll er antworten. In einer Szene wie aus Macbeth lässt Saul in höchster Not den Propheten und Richter durch die Hexe von Endor zitieren, in der Hoffnung auf einen rettenden Hinweis. Den aber gibt es nicht. Der Saul berufen hat, lässt ihn am Ende ganz und gar fallen. Die Tür zum Totenreich schließt sich hinter Samuel, und bald muss Saul ihm folgen. 

Glücklich, wer zur rechten Zeit gehen kann! 

Der Herr schenke uns seinen Frieden in dieser Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 36/2021

Dazu um Ismael habe ich dich auch erhört. Siehe, ich habe ihn gesegnet und will ihn fruchtbar machen und mehren gar sehr. Zwölf Fürsten wird er zeugen, und ich will ihn zum großen Volk machen.
Gen 17,20

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Zwei gesegnete Brüder

Wir haben einen Segensspruch gezogen, wie schon in der letzten Woche. Und wieder hat er Licht und Schatten. 

Abraham ist ein sehr alter Mann. Er führt eine größere Gruppe von Halbnomaden und lebt ohne Nachkommen in einem fremden Land. Und der Herr ist mit ihm. In Gen 15-18 erscheint der Herr ihm immer wieder und spricht, bruchstückhaft und in Varianten, den Segen: Abraham werde Söhne haben, zu einem großen Volk werden, das Land erben, in dem er als Fremdling lebt. 

Ein erster Schritt scheint getan. Sarai, Abrahams Frau, ist unfruchtbar. Aber sie führt ihm Hagar zu, ihre ägyptische Sklavin, damit diese an ihrer Statt ein Kind austrage. Und es gelingt: Hagar bringt Ismael zur Welt, Abrahams ersten Sohn.

Abraham ist neunundneunzig Jahre alt. Da erscheint Gott ihm wieder und verspricht einen Sohn. Nicht den, den er schon hat: Sarai selbst soll schwanger werden — und er soll sie nicht mehr Sarai nennen, sondern Sarah. Abraham kann nicht fassen, was er hört, er fällt auf sein Gesicht und lacht. Und sagt: „Ach, dass Ismael möge leben bleiben vor dir“. Das wäre genug.

Der Herr bleibt unbeirrt. Mit Isaak, der Sohn Sarahs, werde er einen ewigen Bund für seine Nachkommen aufrichten, nicht mit Ismael. Aber auch dieser ist gesegnet — das ist unser Vers; Auch er wird zum Stammvater von zwölf (!) Fürsten und einem großen Volk, sagt Gott. Auf Drängen Sarahs und auf Geheiss des Herrn jagt Abraham später Ismael und dessen Mutter Hagar in die Wüste. Dort  schützt und errettet Gott die beiden wundersam vom sicheren Tod, siehe hierzu den BdW 2020/52. Durch seinen Engel wiederholt Gott in der Wüste seine Segenszusage an Ismael. Der Name Ismael bedeutet „Gott hört“. 

Ismael gilt, bei Juden und bei Arabern, als Stammvater der arabischen Volksgemeinschaft, einschließlich der Midianiter, Isaak dagegen als Stammvater der Hebräer. Eine enge Verwandtschaft also, und eine schwierige Beziehung. Viel später sollte Mose im Land Midian dem Herrn begegnen. Seine Frau war Midianiterin — aber Mose selbst führte am Ende seines Lebens einen schrecklichen Vernichtungskrieg gegen das Wüstenvolk. 

Dennoch und immer: Zwei vom Herrn gesegnete Völker.

Ich wünsche uns allen den Frieden Gottes,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 35/2021

Und der HErr sprach zu Mose: Fürchte dich nicht vor ihm; denn ich habe ihn in deine Hand gegeben mit Land und Leuten, und du sollst mit ihm tun, wie du mit Sihon, dem König der Amoriter, getan hast, der zu Hesbon wohnte.
Num 21,34

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Fürchte dich nicht!

Die Wüstenwanderung ist zu Ende. Fast vierzig Jahre lang ist das erwählte Volk durch den Negev gezogen, in einer großen Kreisbewegung um das Seïr-Gebirge. Nun macht es, noch unter Mose, einen Ausbruch nach Osten, um dann auf der transjordanischen Seite nach Norden zu ziehen.  

Die Landnahme beginnt. Die Israeliten wollen das Land von Sihon durchqueren, dem König eines Amoriterreichs. Sie versprechen, nur durchzuziehen und auf der Königsstraße zu bleiben und für das Wasser zu zahlen, dass sie nutzen. Einige Zeit vorher waren sie mit demselben Anliegen bei den Edomitern gescheitert, diese hatten den Durchzug verweigert. Auch Sihon weigert sich und zieht den Israeliten entgegen. Mose greift an und Sihon wird furchtbar geschlagen. Die Israeliten nehmen sein Land ein und ziehen weiter Richtung Norden nach Baschan, einem anderen Amoriterreich östlich des Jordan. Auch dessen König, Og genannt, stellt sich ihnen entgegen. 

Die Heere stehen sich gegenüber. Das der zwölf Stämme und das Heer König Ogs, letzteres kleiner wohl, aber vielleicht besser geordnet und bewaffnet. An dieser Stelle steht der Bibelvers: Mose wird den Kampf gewinnen, sagt der Herr, und er soll das Land Baschan einnehmen, gerade so, wie er es mit dem Land König Sihons in Heschbon getan hat. Und so geschieht es. Aus dem Land der beiden Amoriterreiche erhalten die Stämme Ruben und Gad sowie der halbe Stamm Manasse ihr Erbteil — noch vor der Überquerung des Jordan bei Jericho.

Auch das Deuteronomium berichtet von den Geschehnissen. Dtn 2 und 3 sind zugespitzter als Num 21. Man erfährt, dass König Og einer der letzten der vorzeitlichen Riesen war, und man liest auch, dass die Israeliten an allen Bewohnern beider Königreiche den Gottesbann vollstreckte: Männern, Frauen und Kindern.

Die Länder Sihons und Ogs waren organisierte Reiche mit festen Städten, hier ist ein Link. Eine Eroberung „im Vorbeigehen“, unter Auslöschung der gesamten Bevölkerung gar, ist schwer vorstellbar. Ich möchte aber auf etwas anderes aufmerksam machen: Den erstaunliche Kontrast zum Beginn der Wüstenwanderung. Die Ägypter hatten ein Volk von Bausklaven in die Wüste getrieben und mit ihrer Armee verfolgt, gerade so wie es die Deutschen mit den Hereros taten. Nur ein Wunder konnte das wehr- und hilflose Volk retten. In existenzieller Gefahr rief Mose den Israeliten zu: 

Fürchtet Euch nicht. Steht fest und seht zu, was für ein Heil der Herr heute an euch tun wird. Denn wie ihr die Ägypter heute seht, werdet ihr sie niemals wieder sehen. Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein (Gen 14,13f).

Fürchtet Euch nicht! Fast ebenso beginnt im gezogenen Bibelvers Gottes Wort an Moses, aber was für ein Unterschied im Kontext! Den Amoritern hilft kein Wunder. Etwas Großes, etwas Grundsätzliches ist geschehen während des jahrzehntelangen Zugs durch die Wüste. Unter der Führung eines Mannes und seines Gottes ist aus einem Volk von Sklaven ein Heer kampferprobter Eroberer geworden. Die Landnahme hat begonnen. Das Buch Josua berichtet, mit welch furchtbarer Effizienz sie sich weiter vollzieht. Vieles kann man darin sehen. Auch den Segen und die Treue des Herrn und die Erfüllung eines Versprechens. Keine Frage, der Text verlangt diese Lesart. Mir fällt sie schwer.

Ich wünsche uns allen den Frieden Gottes, in dieser Woche und immer,
Ulf von Kalckreuth

Nachtrag, 28. August:
Vielleicht muß ich nicht immer auf den ganz großen Zusammenhang schauen. Ich bin ja kein Theologe. Man kann den Vers auch einfach als Ermutigung in einer bevorstehenden Auseinandersetzung lesen, nicht wahr? Wie es sich wohl anfühlt, im Auftrag Gottes unterwegs zu sein?

Bibelvers der Woche 34/2021

Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile.
Luk 12,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Wenn du nur an eines denken kannst…

If God had a name, what would it be?
And would you call it to his face, 
if you were faced with him?
In all his glory, what would you ask,
if you had just one question?

So beginnt ein Lied, das ich sehr mag, „One of us“ von Joan Osborne. Was wäre die Frage, die wir stellen würden? Sie beträfe sicherlich dasjenige, was uns am allerwichtigsten ist. In dieser kurzen Geschichte geschieht es. Jesus steht vor vielen Menschen und predigt. Ein Mann steht auf. Vor allen anderen bittet er Jesus, ihm gegen seinen Bruder zu helfen, mit dem er wegen des Erbes im Streit liegt (Luk 12, 13-15):

Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile. Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Schlichter über euch gesetzt? Und er sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.

Es ist eine traurige Geschichte. Die Erbsache ist, was diesen Mann von Grund auf bewegt — die Sonne will nicht untergehen über der Bitternis, die diese Ungerechtigkeit in ihm nährt. Und jetzt steht der Messias vor ihm. Er kann diese Welt ändern — und tut es nicht! Macht ihm noch Vorwürfe, vor allen anderen. Ich kann mir vorstellen, mit welchem Gesicht der Mann zurück geht in sein ärmliches Haus. Aufgewachsen war er vielleicht in einem großen Haus, aber das enthält sein Bruder ihm nun vor. 

In meiner Bibel ist die Geschichte überschrieben mit „Warnung vor Habgier“. Das ist leicht gesagt. Wie soll der Mann denn da herausfinden? Gut möglich, dass er im Streit mit seinem Bruder gar „recht“ hat, das macht es noch schwieriger.

Denn die Dinge heilen nicht, sie werden nicht von selbst gut. Man muß sie verlassen, hinter sich lassen können. Sonst läuft man an seinem Messias vorbei. Du sollst nicht begehren… das ist eines der zehn Gebote. Aber ich fürchte, es ist einigermaßen sinnlos, sich diesbezüglich gute Vorsätze zu machen. Man kann es, oder man kann es nicht. Es ist eine Gnade. Es gibt viele Alpträume, aus denen man ohne diese Gnade nicht herausfindet. 

Hier ist ein Link zu „One of us“

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 33/2021

…darum habe ich auch mich selbst nicht würdig geachtet, dass ich zu dir käme; sondern sprich ein Wort, so wird mein Knecht gesund.
Luk 7,7

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Von ‚Abstandsregeln‘ und ihrer Überwindung

Der Hauptmann von Kapernaum, ein römischer Zenturio, bittet Jesus, seinen Knecht zu heilen, den er sehr liebt. Als Jesus in die Nähe des Hauses kommt, bittet er ihn ausserdem, nicht näherzutreten, sondern die Heilung aus der Entfernung zu bewirken, nur durch sein Wort.

Die Geschichte wird in Matthäus 8 und in Lukas 7 erzählt. Der parallele Vers aus Matthäus ist eine wichtige Formel in der katholischen Abendmahlsliturgie. Bei Lukas tritt das Motiv des Abstands viel deutlicher hervor. Hier bittet der Hauptmann nicht selbst, sondern lässt jüdische Freunde, Älteste in der Gemeinde, ein Wort für ihn einlegen. Die haben guten Grund, der Bitte Folge zu leisten: der Hauptmann hatte den Bau der Synagoge in Kapernaum finanziert. Jesus selbst hat dort schon gepredigt. Und als Jesus in die Nähe des Hauses kommt, spricht wiederum nicht der Hauptmann selbst ihn an. Er schickt vielmehr Freunde, die Jesus bitten, die Heilung aus der Ferne zu bewirken. Diesen Inhalt trägt unser Vers.

Der Hauptmann ist Zenturio, Chef einer Garnison der verhassten römischen Besatzungsmacht. Ihm sind selbst Beschränkungen im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung auferlegt — wie in jeder Besatzungssituation gab es in der römischen Armee Fraternisierungsverbote. Aber das Problem ist wechselseitig: Juden durften nur sehr eingeschränkt Umgang mit Menschen haben, die nicht dem jüdischen Volk angehörten. Dabei galt der Umgang mit den römischen Besatzern in besonderer Weise als unmoralisch, schlimmer noch als der Kontakt mit Prostitutierten, Zöllnern und Dieben, die dem eigenen Volk angehörten.  

Für den Zenturio war dies zum Trauma geworden. Er „liebte“ die jüdische Gemeinde, schreibt Lukas. Der Zenturio war Proselyt, ein Mensch, der den Gott der Hebräer als seinen Gott anerkannte, ohne selbst Jude zu sein und ohne vollgültig der Gemeinde angehören zu können — und dies, obwohl er ihren Versammlungsort finanziert hatte. Er dürfte seine Erfahrungen mit religiösen Lehrern gemacht haben. Auch heute behandeln ultraorthodoxe Juden in Israel Andersgläubige gelegentlich mit ablehnender Indifferenz. Das kann verletzend sein, und diese Art Verletzung kann sich der Führer der Kommandantur am See Genezareth nicht leisten, auch aus politischen Gründen nicht. 

In seiner Verzweiflung versucht der Hauptmann die Quadratur des Kreises. Er bittet Jesus, an dessen Wirkmacht er glaubt, um Hilfe, und gleichzeitig um sicheren Abstand. Er selbst macht es vor: Älteste der jüdischen Gemeinde bitten für ihn, und dann Freunde. Jesus soll den Knecht aus der Entfernung heilen!

Sonst heilt Jesus mit körperlichem Kontakt. An dieser Stelle könnte die Handlung aus mehreren Gründen kippen. Der Hauptmann geht sehr weit, indem er Jesus sagt, wie dieser die erbetene Hilfe zu leisten hat. Ausserdem hat Jesus selbst sich um ‚Abstandsregeln‘ nie gekümmert und durch seinen unterschiedslosen Umgang mit Prostituierten, Zöllnern und anderen Sündern viel Anstoß erregt. Mit der Frage, warum denn der Zenturio es nicht ebenso halte, könnte er die Bitte mit einer klaren Botschaft abweisen. Stünde die Geschichte so im Evangelium, würde es nicht auffallen.

Aber frei wählt Jesus eine andere Interpretation. Er sieht die Not des Hauptmanns und erkennt, dass dieser das Unmögliche versucht. Jesus staunt, schreibt Lukas! Und er sagt laut: Ja, du hast recht, das Unmögliche ist möglich. Und genau darauf kommt es an. Dein erstaunlicher Glaube ist besser und tiefer als derjenige der rechtgläubigen Umstehenden. Und dann bewirkt er die Heilung, ganz genau so, wie der Hauptmann sie sich wünscht. 

Später, lange nach Jesu Tod, verbreitete seine Lehre sich besonders schnell und leicht unter den Proselyten der griechisch-römischen Welt. In gewisser Weise war der Hauptmann von Kapernaum der erste von vielen. Unten sind zwei Bilder, von den Resten des Fischerdorfs Kapernaum und vom See Genezareth. Es war Anfang April 2017. Bei diesem Licht fällt es leichter als anderswo, das Unmögliche für möglich zu halten! 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 32/2021

Wenn uns der HErr Zebaoth nicht ein weniges ließe übrigbleiben, so wären wir wie Sodom und gleich wie Gomorra.
Jes 1,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Das Pendel

Wir sind im ersten Kapitel des Jesajabuchs. Den Text bis Kapitel 6, wo Jesajas Berufung erzählt wird, kann man als Ouvertüre lesen, in der die wesentlichen Themen des Buchs vorgestellt werden. Auch diese Ouvertüre aber hat Ort und Zeit. In den Versen 7-9 kennzeichnet der Prophet die Situation seines Sprechens:  

Euer Land ist verwüstet, eure Städte sind mit Feuer verbrannt; Fremde verzehren eure Äcker vor euren Augen; alles ist verwüstet wie durch Fremde verheert. Übrig geblieben ist allein die Tochter Zion wie ein Häuslein im Weinberg, wie eine Nachthütte im Gurkenfeld, wie eine belagerte Stadt. Hätte uns der HERR Zebaoth nicht einen geringen Rest übrig gelassen, so wären wir wie Sodom und gleich wie Gomorra.

Was wird da beschrieben? Der Prophet ist in Jerusalem. Die Stadt ist eingeschlossen, das Umland ist von fremden Heeren besetzt, die anderen Städte des Reichs sind gefallen. Diese Situation gab es im Jahr 702 v. Chr., als der historische Jesaja schon alt war. Der Assyrer Sanherib führte einen Vernichtungskrieg gegen das unbotmäßige Juda. Dessen König Hiskia wollte sich aus der Oberhoheit des assyrischen Reichs befreien und hatte die Zahlung von Abgaben eingestellt. Nun heerte die gewaltige Armee des assyrischen Reichs über das Land, und es ging ums nackte Überleben.  

Es fehlt nur ein weniges, dann wären wir wie Sodom und Gomorrha: ganz vernichtet und ohne Rettung. Aber dies wenige macht den ganzen Unterschied. Beinahe rhythmisch wechselt Jesajas Buch hin und her zwischen Sünde und Katastrophe einerseits und Wiederherstellung und Verheissung des Heils andererseits. Das ist nicht zeitlich gemeint, Jesaja wechselt die Perspektiven. Aber käme es je zur gänzlichen Vernichtung, so bliebe dies Pendel stehen. Das ist eine sonderbare Vorstellung, wie der eigene Tod. In unserer Welt wird dies nicht geschehen, es wäre dann schon eine andere. 

Das wenige, was übrig bleibt, ist der Boden für Neubeginn, neue Orientierung und neues Wachstum. Die Ältesten unter uns haben das nach dem Krieg erlebt. Seither ist unser Land von großen Katastrophen verschont geblieben. Und die Struktur, die sich in den Jahren vor das Elend geschoben hat, ist eindrucksvoll, wenn auch an manchen Stellen brüchig…

Eine Freundin von mir ist Minimalistin. Sie versucht konsequent, sich und ihre Habe auf das nötigste zu beschränken. Das hat eine eigene Schönheit, die sofort vor Augen tritt, wenn man sich das Gegenteil vorstellt. Die Kraft des Minimalismus liegt in dem Raum und der Zeit, die mit Träumen oder neuen Realitäten gefüllt werden können. Unser Leben aber hat solche kargen Phasen auch, wo wir es nicht wollen: Krankheit, Arbeitslosigkeit, Tod des Partners, seelische Verwirrung. Quarantäne. Oder auch eine intensive Prüfungsphase. Wir erleben sie als Krisen, aber sie sind auch Räume für den nächsten Pendelschlag. 

Wie ging der Krieg aus? Die Historiker sprechen von einer schrecklichen Niederlage Hiskias, von der sich das Land nur schwer erholte, die Bibel hingegen in 2. Kö 19 von einem wunderbaren Sieg: Über Nacht starben 185.000 feindliche Soldaten, und die Belagerung Jerusalems musste abgebrochen werden. 

Vielleicht ist beides auf seine Weise richtig. Realität entsteht evolutorisch. Der nächste Schritt erfolgt stets auf Basis dessen, was übrig geblieben ist, und große Veränderungen brauchen Raum.

Beim Schreiben hatte ich zwei Menschen besonders vor Augen. Uns allen aber wünsche ich eine gesegnete Woche auf dem kosmischen Pendel, ob es nun gerade nach links schwingt oder nach rechts,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 31/2021

Und Esra, der Schriftgelehrte, stand auf einem hölzernen, hohen Stuhl, den sie gemacht hatten, zu predigen, und standen neben ihm Matthithja, Sema, Anaja, Uria, Hilkia und Maaseja, zu seiner Rechten, aber zu seiner Linken Pedaja, Misael, Malchia, Hasum, Hasbaddana, Sacharja und Mesullam.
Neh 8,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Re-Formation

Ein langer Vers, mit vierzehn Namen. Aber dennoch ist er spannend: hier erzählt uns die Bibel, wie in der Bibel gelesen wird.

Die Zeit des erzwungenen Exils war zu Ende. Juden durften aus Babylon in ihr Heimatland zurückkehren und Jerusalem konnte neu aufgebaut werden. Nachdem es wieder einen Tempel gab, kam Esra aus Babylon, um den Tempeldienst neu einzurichten. Zu den dürftigen ersten Anfängen und der Bedeutung des großen Reformators für das Judentum siehe die beiden BdW 30/2020 und 32/2020

Esra stand vor einer gewaltigen Aufgabe. Die Kontinuität der Religionsausübung war gebrochen und neue Formen waren entstanden, etwa der Gottesdienst in Synagogen. Die überlieferten Schriften wurden während und nach dem Exil redigiert, neu kompiliert und ergänzt. Das Neue und das Alte mußten zu einem Ganzen integriert werden. Der entstehenden Gemeinschaft fehlte eine Identität. 

Der religiöse Führer entschließt sich zu einem Schritt von großer symbolischer Kraft. Im neuen Tempel — einer Baustelle eigentlich — stellt er sich auf und liest laut, an alle gerichtet, das Gesetz. Er wiederholt damit eine Handlung Josias, des großen Reformkönigs vor dem Exil. Damals, in einer Zeit religiöser Ambivalenz und Gleichgültigkeit, war bei Reparaturarbeiten am Tempel das „Buch des Gesetzes“ gefunden worden. Josia ließ es verlesen und leitete damit eine Reinigungsbewegung ein, siehe den BdW 20/2021

Esra liest das Gesetz laut. Damit sagt er gleichzeitig, wie das Wort Gottes gelesen werden soll: wörtlich nämlich, nicht in termini von Abstraktionen und Interpretationen. Esra ist „Reformator“ im ältesten Sinn des Wortes. Er stellt in seiner Gegenwart eine idealisierte, in die Vergangenheit projizierte Struktur wieder her. Dabei tritt er nicht als Person auf, sondern als Repräsentant einer neuen geistlichen Elite. Sechs spirituelle Würdenträger stehen rechts von ihm und sieben links. Viele Stunden lang stehen sie und lesen laut das Gesetz Gottes. So wie Juden überall in der Welt es in der Synagoge heute noch tun. 

Was für ein Bild!

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Faksimile einer Megillat Esther. Bild: Ulf von Kalckreuth, Juli 2021
Faksimile einer Megillat Esther. Bild: Ulf von Kalckreuth, Juli 2021

Bibelvers der Woche 30/2021

…und der Eifergeist entzündet ihn, dass er um sein Weib eifert, sie sei unrein oder nicht unrein,…
Num 5,14

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gottesurteil

Wieder ein Vers, über den vielleicht noch nie eine Predigt geschrieben wurde. Es geht um ein Gottesurteil, das die Schuld oder Unschuld von Frauen klären soll, die des Ehebruchs verdächtigt wurden. Es ist dies ein schwerer Verdacht: auf Ehebruch stand nichts weniger als die Todesstrafe, und zwar sowohl bei der verheirateten Frau als auch beim Mann, der in die Ehe einbricht, siehe Deut 22,22 und Lev 20,10. Das Gesetz ist asymmetrisch. Einem Mann sind außereheliche Beziehungen grundsätzlich erlaubt, sein Seitensprung bleibt folgenlos, wenn er dabei nicht die Ehe eines anderen Mannes bricht.

Andererseits aber sieht das ältere Judentum vor, dass Urteile wegen schwerer Vergehen nur aufgrund von Zeugenaussagen erfolgen können. Nach Deut 19,15 sind für ein Urteil mindestens zwei Zeugenaussagen nötig. Nun findet Ehebruch kaum je in der Öffentlichkeit statt, so dass die Norm in Gefahr steht, leer zu laufen. Selbst wenn eine Frau mit dem Kind eines anderen schwanger war, fehlte es ja an Zeugen. 

An dieser Stelle greift das in Num 5 beschriebene Verfahren ein. Ein Mann hat das Recht, seine Frau zum Priester zu bringen und ihre Treue durch ein Gottesurteil klären zu lassen. Er bringt ein Opfer mit, legt es ihr in die Hand, so dass sie selbst zur Opfernden wird, und der Priester lässt sie Wasser trinken, das mit Staub aus der Umgebung des Allerheiligsten verunreinigt ist. Das Wasser wird verflucht. Der Priester spricht — und sie bestätigt durch doppeltes Amen — dass dies Wasser sie unfruchtbar mache und schwer entstellen werde, wenn sie die Ehe gebrochen hat, dass es aber harmlos bleibe, wenn dies nicht der Fall ist. Hier ist ein Link zu einer eingehenden Beschreibung des Verfahrens.

Der Text nennt explizit zwei Anlässe für das Verfahren: die Schuld der Frau ist mehr oder weniger offensichtlich, oder aber der Mann ist nachhaltig „vom Geist der Eifersucht“ entzündet, ob zu Recht oder zu Unrecht. Diese Möglichkeit greift der gezogene Vers auf. In beiden Fällen kann die Ehe nicht ohne weiteres fortgeführt werden, und das Gottesurteil wird nötig.

Das Verfahren wird detailliert auch im Talmud beschrieben, in einem eigenen Abschnitt. Man kann davon ausgehen, dass es tatsächlich zur Anwendung kam. Gibt es hier irgendwo eine frohe Botschaft? Der Ritus bietet immerhin die Möglichkeit, den Schuldvorwurf aus der Welt zu schaffen. Und es ist kein Gottesurteil der Art, bei dem jemand mit einem Mühlstein um den Hals in den See geworfen wird, damit Gott ihn errette, wenn er unschuldig ist. Der Staub dürfte unappetitlich, aber nicht gesundheitsschädlich gewesen sein. Implizit beinhaltet das Verfahren eine starke Tendenz zugunsten der beschuldigten Frau. 

Aber manche Problemlösungen sind keine. Stellen wir uns die Szene vor: ein Mann geht mit seiner Frau den weiten, staubigen Weg zum Tempel in Jerusalem. Sie ist möglicherweise schwanger. Er stellt sie dem Priester vor und die drei vollziehen den Ritus. Wenn die Frau das „bittere, verfluchten Wasser“ trinkt und nicht daran stirbt, so könnte die Ehe fortgeführt werden. So ist es wohl gemeint. Aber was wird, was kann von dieser Ehe dann noch übrig sein? 

Vertrauen wäre besser — Vertrauen der Art, die sogar das Wissen überlagern kann. Aber solches Vertrauen ist nicht jedermanns Sache. Wie der Glauben auch.

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 29/2021

…welchen er uns bereitet hat zum neuen und lebendigen Wege durch den Vorhang, das ist durch sein Fleisch,…
Heb 10,20

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Durch den Vorhang

Ein Vers voll konzentrierter Theologie, Teil eines gedrängten Satzes, der seinerseits die voranstehende Abhandlung zusammenfasst. Hier ist der ganze Satz, Heb 10, 19-22 in der Lutherbibel 2017:

Weil wir denn nun, Brüder und Schwestern, durch das Blut Jesu den Freimut haben zum Eingang in das Heiligtum, den er uns eröffnet hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist: durch sein Fleisch, und haben einen Hohenpriester über das Haus Gottes, so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in der Fülle des Glaubens, besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser.

Ich kann versuchen, das mit meinen Worten wiederzugeben. Es geht um den Zugang zu Gottes Gegenwart. Verse dazu hatten wir in den vergangenen Wochen 24, 25 und 26 bereits. Das Allerheiligste war die „Wohnung Gottes“ im Stiftszelt auf der Wüstenwanderung und später im Tempel. Niemand erträgt die volle Gegenwart Gottes, ohne zu sterben, siehe BdW 24/2021. Gott wohnt daher in der Dunkelheit. Zum Allerheiligsten hatte nur der Hohepriester Zutritt, einmal im Jahr. Allen anderen war der Raum verwehrt. 

Christus hat der Beziehung zwischen Mensch und Gott auf eine neue Grundlage gestellt. Deshalb sprechen Christen vom „neuen“ Testament. Christus steht für den Zugang zu Gott, er ist dieser Zugang, sagt der Verfasser des Hebräerbriefs. Christus ist Hohepriester ganz eigener Art. Sein Opfer und sein Tod sind die Verbindung zwischen unserer Welt und Gottes Gegenwart, wie ein Weg durch den Vorhang, der im Tempel das Allerheiligste und die Welt zugleich verband und trennte. Mt 27 und Mk 15 beschreiben, wie dieser Vorhang bei Jesu Tod zerriss. 

Der Hebräerbrief sucht die Wahrheit Christi in Bilder und Formeln des traditionellen Judentums zu fassen. Die Adressaten waren jüdische Christen. Der Brief ist eine Art Übersetzung. Eigentlich ist das Eulen nach Athen tragen: Jesus war Jude und hat sein Leben unter frommen Juden verbracht. Seine Sprache war einfach, er selbst hätte sicherlich nicht so formulieren wollen. Aber die Antworten auf die Fragen — wer ist denn der Christus? König, Priester, Prophet, Messias, Mensch, Gott, beides? — begannen früh schon so komplexe Gestalt anzunehmen, dass sie übersetzt werden mussten.

Der Brief wurde später in den biblischen Kanon aufgenommen, in den Kernbestand der Zeugnisse christlichen Glaubens. Ob er sein erstes Ziel erreicht hat? Wie wurde er wohl aufgenommen? 

Bei mir bleibt dies Bild: Christus, der bei Gott lebt und den Menschen zugleich, ist unser Weg zur Gegenwart Gottes. Sein Tod macht den Weg durch den Vorhang frei, der die Welten trennt.

Gehen müssen wir den Weg selber. Unvorstellbar eigentlich. Schwindelerregend. Wer wagt es? 

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth