Bibelvers der Woche 46/2021

Wie ein elender, verachteter, verstoßener Mann ist doch Chonja! ein unwertes Gefäß! Ach wie ist er doch samt seinem Samen so vertrieben und in ein unbekanntes Land geworfen!
Jer 22,28

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Urteil und Gnade

Wir schreiben das Jahr 587 v. Chr. König Nebukadnezar II von Babylonien ist mit einer großen Interventionsarmee ins jüdische Kernland eingefallen, um den unbotmäßigen Vasallenstaat unter seinem König Zedekia unter Kontrolle zu bekommen. Jeremia empfiehlt die Kapitulation und wird damit zum inneren Feind. Kapitel 22 hält inne. Der Abschnitt ist eine Art Rückblick und Ausblick, er sammelt Sprüche Jeremias gegen Zedekia und frühere Könige Judas. Zum Kontext siehe die Betrachtung zum BdW 41/2019. Unser Vers bezieht sich auf Jojachin, genannt Konja. Der harte Spruch und die scheinbar endgültige Zuschreibung seines Schicksals sind faszinierend — weil sie sich als falsch erweisen. Jojachin stirbt nicht als verachteter und verstoßener Mann, im Gegenteil. 

Jojachin/Konja war der Vorgänger Zedekias. . Er war eine tragische Figur — hier ein Link zur Erzählung in 2. Kö 24,8ff. Sein Vater Jojakim hatte versucht, sich aus der Rolle als Vasall Nebukadnezars zu befreien und stellte die Tributzahlungen ein, in einer Zeit, da das babylonische Reich schwach schien. Auch damals setzte Nebukadnezar aus mehreren tausend Kilometern Entfernung eine Armee in Marsch. Jojakim starb, und Konja trat seines Vaters Nachfolge an. Im dritten Monat seiner Regentschaft, im Jahr 597 v. Chr., erreichte Nebukadnezar Jerusalem. Mit anderen Worten: Die Lage war genau die gleiche wie zehn Jahre später unter Zedekia!

Jojachin war damals achtzehn Jahre alt. Er hätte sich in der Stadt verschanzen können wie es später Zedekia tun würde. Jerusalem war nicht leicht zu nehmen. Trotz seiner Jugend aber traf er eine große Entscheidung. Er lieferte sich, seine Familie und den Hofstaat den babylonischen Eroberern aus, um sein Land zu retten! 

Viele müssen ihn dafür verachtet haben. Und die Strafe der babylonischen Großmacht war hart. Der Tempel und die Stadt wurden geplündert, und ein Teil der Elite musste das Land verlassen und sich in Babylonien ansiedeln — das sogenannte erste Exil. Aber das Land, Konjas Land, blieb in weiten Teilen intakt und konnte sich in der Folge erholen. Konja aber lebte marginalisiert, gefangen in Babylon. Hierauf und auf diesen Stand der Dinge bezieht sich unser Vers. 

In der Luther-Übersetzung von 1912 klingt unser Vers nun durchaus so, als ob auch Jeremia ihn verachtete. Aber warum sollte er? Konja/Jojakin hat seinerzeit genau das getan, was Jeremia selbst vehement von König Zedekia fordert, als die Geschichte sich in alptraumhafter Weise wiederholt. In der neuen Luther-Übersetzung von 2017 wird unser Vers als Frage gesetzt — „Ist denn dieser Mann Konja ein verachtetes, zerschlagenes Gefäß oder ein Gerät, das niemand haben will?“ Auch die katholische Einheitsübersetzung und die Übersetzung von Buber und Rosenzweig verfahren so. Die Lesart ist plausibel, aber letztlich eine Interpretation. Der hebräische Urtext lässt es schlicht offen. Fragezeichen gibt es im alten Hebräisch nicht und die Wortstellung von Frage- und Aussagesätzen ist dieselbe. 

Das Buch Jeremia endet mit der Rehabilitation Konjas — Jer 52, 31ff. Der Nachfolger Nebukadnezars, Ewil-Merodoch, erhebt Jojachin nach 37 Jahren der Gefangenschaft und bringt ihn zu hohen Ehren. Konja wurde zum ständigen Tischgenossen des mächtigsten Mannes der Welt. Die Erzählung steht an sehr herausgehobener Stelle am Ende der Schrift, und der Abschnitt ist ein wörtliches Zitat eines anderen Schlusses, des Endes des 2. Buchs der Könige. Es ist fast wunderbar zu nennen, dass diese Wendung, anders als viele andere Inhalte der Königsbücher, sich historisch-archäologisch klar belegen lässt: mit Funden babylonischer Keilschrifttafeln aus dem Jahr 1899! 

Wir können das auf zwei Arten lesen: aus der Perspektive Gottes und der eines Menschen. Ewil-Merodoch hat aus großer zeitlicher Entfernung (37 Jahre!) die Entscheidung Konjas bewundert, die Entscheidung eines damals sehr jungen Mannes, der unvermittelt vor eine existentielle Frage gestellt wird. Und bei Gott — bei Gott stehen Urteil und Gnade nebeneinander, für uns oft nicht zu entwirren. 

Auf geheimnisvolle Weise ist unser Vers tatsächlich beides. Er ist eine Aussage über Konja, zu der Zeit, als Jeremia spricht, aber auch eine offene Frage — eine Frage, die schließlich beantwortet wird, ausserhalb des Texts eigentlich, in einem Epilog. Die Gnade scheint im Buch Jeremia immer wieder als Möglichkeit auf. Hier wird sie ganz konkret. Man könnte das schwierige Buch aus dieser Dreiheit interpretieren: Aussage, Frage und Antwort.

Urteil und Gnade!

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

P.S. Von Jojachin ist in der Bibel später noch einmal die Rede: In Mat 1 wird er in der Ahnreihe eines anderen Königs genannt, Jesus von Nazareth.

Bibelvers der Woche 45/2021

Züchtige deinen Sohn, solange Hoffnung da ist; aber lass deine Seele nicht bewegt werden, ihn zu töten.
Spr 19,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Dein Stecken und Stab…

Ein schwieriger Vers, um es vorsichtig zu sagen. Ich habe zwei Kinder, die mich nicht selten an den Rand meiner Möglichkeiten bringen, und die ersten Assoziationen, die ich hatte, waren politisch nicht korrekt — von wegen „Vielleicht hätte ich die Bibel früher lesen sollen…“

Aber was steht hier? Ist es die Aufforderung, Gewalt einzusetzen? Der Text, den wir vor uns haben, ist rund 2300 Jahre alt. Das Verb jasar (יסר) im Althebräischen bedeutet sowohl züchtigen als auch erziehen. Eine klare Unterscheidung zwischen diesen beiden Konzepten gab es nicht. Sein Kind zu erziehen, bedeutete damals, es zu züchtigen. Für die Liebhaber unten ein Foto aus Wilhelm Gesenius‘ hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Neudruck der 17. Auflage 1915, mit den Facetten dieses Wortes.

Züchtigung / Erziehung bedeutete für denjenigen, der sie leistete, einen großen Aufwand — nur wenn (oder nur weil) Hoffnung auf Erfolg besteht, soll man sich die Mühe machen. Im Urtext steht hier כי, das würde man eher mit „weil“ als mit „solange“ übersetzen. Der zweite Teil des Verses bedeutet dem Erziehenden, maßvoll zu bleiben, sich nicht zu (massiven) Gewaltakten hinreissen zu lassen. Mit anderen Worten: Tu was, aber tu es maßvoll.

Unser Vers hat keinen direkten Kontext, er steht unverbunden in einer Reihe von Merksätzen zu verschiedenen Bereichen des Lebens. Aber es gibt im Buch der Sprüche eine Anzahl paralleler Stellen. Im Internet habe ich eine kleine Sammlung gefunden: 

  • 13,24: Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn, wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten. 
  • 22,15: Torheit steckt dem Knaben im Herzen, aber die Rute der Zucht treibt sie ihm aus. 
  • 22,13+14: Lass nicht ab, den Knaben zu züchtigen; denn wenn du ihn mit der Rute schlägst, so wird er nicht sterben; du schlägst ihn mit der Rute, aber du errettest ihn vom Tode.
  • 29,15: Rute und Tadel gibt Weisheit; aber ein Knabe, sich selbst überlassen, macht seiner Mutter Schande. 

Das ist herbe Sprache. Wiederum muß man bedenken, dass zwischen erziehen und züchtigen nicht unterschieden wird. Gewaltfreie Erziehung gab es nicht, das Gegenstück zu autoritärer Erziehung war nicht antiautoritär, sondern Vernachlässigung. Die gab es durchaus, das klingt durch. Erziehen bedeutet, Verhaltenstendenzen in einer Weise zu formen, dass sie dem Leben dienlich sind, dem Leben des Einzelnen und auch der ihn umgebenden Gemeinschaft. Das ist eine lebenswichtige Bringschuld der Eltern! Der homo oeconomicus, der stets in der Lagte ist, situationsadäquat rationale Entscheidungen zu treffen, braucht keine Erziehung. Aber er ist eine Fiktion. In Wahrheit sind wir für die vielen kleinen Entscheidungen und auch für die meisten großen auf unsere Verhaltenstendenzen angewiesen, auf dasjenige also, was wir ‚aus dem Bauch heraus‘ tun, weil wir es so gelernt haben, so gewohnt sind. 

Unser Vers und die anderen sagen den Eltern — in der Sprache des ersten Jahrtausends v. Chr. — dass sie sich die nötige Mühe geben müssen, dem Verhalten ihres Kindes eine Richtung zu geben, die dem zukünftigen Erwachsenen helfen, die richtigen Gewohnheiten anzunehmen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das Kind benötigt diese Weisung in grundlegender Weise (13,14 und 22,13f).

Eltern haben ihren Erziehungsauftrag von Gott. Und man glaubte, dass Gott seinerseits mit uns so verfährt, wie Eltern es mit ihren Kindern tun sollen. Dein Stecken und Stab trösten mich… In den Psalmen ist diese Idee fest verankert und auch bei den Propheten. Es wäre schön, nicht wahr? Unser Leiden hätte einen sehr konkreten, erzieherischen Sinn und Zweck. Wenn mir Unglück widerfährt, frage ich mich tatsächlich früher oder später, was ich daraus lernen kann. Und dann fällt mir oft einiges dazu ein. Aber nicht immer.

In den kommenden drei Wochen muss ich mich um meine beiden halbwüchsigen Töchter allein kümmern, neben der Arbeit. Wer uns kennt, weiss, das dies schwierig werden könnte. Wie leicht wäre es da, sie einfach tun zu lassen, was sie wollen, mir zum Nutzen, ihnen zum Schaden. Ich werde der Versuchung widerstehen, so gut es geht.

Ich wünsche uns allen, und diesmal besonders uns dreien, eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Erziehen und züchtigen: Wilhelm Gesenius, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, 17. Auflage 1915

Bibelvers der Woche 44/2021

Die waren alle Kinder Jediaels, Häupter ihrer Vaterhäuser, gewaltige Männer, siebzehntausend zweihundert, die ins Heer auszogen, zu streiten.
1.Ch 7,11

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Jediaël — Botschaft Gottes

In den ersten Kapiteln von 1.Ch werden die dramatis personae vorgestellt, die Völker der Staaten Israel und Juda und ihre Führer, und dies geschieht über ihre Stammtafeln, siehe dazu den BdW 18/2020. Wir haben einen Vers aus dem Abschnitt über den Stamm Benjamin gezogen. Benjamin, so heisst es da, hatte drei Söhne, Bela, Becher und Jediaël. Dann werden die Kinder dieser Söhne genannt. Zu Jediaël wird geschrieben (Luther 2017): Der Sohn Jediaëls aber war: Bilhan. Bilhans Söhne aber waren: Jëusch, Benjamin, Ehud, Kenaana, Setan, Tarsis und Ahischahar. Die waren alle Söhne Jediaëls, Häupter der Sippen, gewaltige Männer, 17200, die als Heer ausziehen konnten zum Kampf. 

So weit, so gut. Ich stelle mir gern die Söhne Jediaëls vor, „Häupter der Sippen, gewaltige Männer“. In meinem Kopf ist das Patriarchat durchaus noch nicht verschwunden. Aber eine Frage tut sich auf, wenn man ein wenig weiterliest. Gleich am Anfang des nächsten Kapitels gibt es eine andere Stammtafel Benjamins, und zwar im Kontext der Ahnenreihe Sauls. Dort steht (8,1+2): Benjamin aber zeugte Bela, seinen Erstgeborenen, Aschbel als zweiten Sohn, Achrach als dritten, Noha als vierten, Rafa als fünften. Von Jediaël ist nicht die Rede, nur Bela taucht in beiden Ahnreihen auf. Gab es Jediaël überhaupt? 

Es wird noch unangenehmer. Ahnreihen Benjamins gibt es bereits in der Thora. Gen 46,21 lautet: Die Söhne Benjamins: Bela, Becher, Aschbel, Gera, Naaman, Ehi, Rosch, Muppim, Huppim und Ard. Bela und Becher kennen wir aus 1.Ch 7 bereits. Huppim und Mumim tauchen als Nachkommen von Ir, einem Sohn von Bela auf. Aschbel kennen wir aus der Ahnenreihe in Kapitel 8. Gera und Naaman tauchen dort unter den vielen Söhnen von Bela auf. Was ist mit Ehi, Rosch und Ard? Und Jediaël?

Eine vierte Ahnenreihe finden wir in Num 26, 38-41: Die Söhne Benjamins nach ihren Geschlechtern waren: Bela, daher kommt das Geschlecht der Belaiter; Aschbel, daher kommt das Geschlecht der Aschbeliter; Ahiram, daher kommt das Geschlecht der Ahiramiter; Schufam, daher kommt das Geschlecht der Schufamiter; Hufam, daher kommt das Geschlecht der Hufamiter. Die Söhne Belas aber waren: Ard und Naaman, daher kommt das Geschlecht der Arditer und Naamaniter. Das sind die Söhne Benjamins nach ihren Geschlechtern, an Zahl 45600.

Bela wird wieder als erstes genannt, Aschbel kennen wir aus der Ahnreihe Sauls in 1.Ch 8, Ard und Naaman kennen wir aus Gen 46, dort allerdings als Söhne Benjamins, nicht als Enkel. Die Namen Ahiram, Schufam und Hufam finden sich in keiner der anderen Stammtafeln. Becher wird in Num 26 als Sohn Ephraims, nicht Benjamins genannt. Von Jediaël keine Spur.

Mmmh…. Als gesichert könnte man mitnehmen, dass Benjamins ältester Sohn Bela hieß, und dass er darüber hinaus weitere Söhne hatte. Jediaël, von dem unser Vers handelt, taucht in keiner der anderen Stammtafeln auf. Ist er ein Gespenst?

Das gibt es öfter in der Bibel. Gleich ganz am Anfang, in Gen 1 und 2, finden wir hintereinander zwei Schöpfungsberichte, die sich gegenseitig ausschließen. Wie gehen wir damit um? Die überlieferten Schriften sind durch Kompilation und Redaktion unterschiedlicher Quellen entstanden. In ältere Überlieferungen werden dabei fremde Texte integriert, denen Autorität zukommt. Oft aber bleiben die originalen Versionen daneben bestehen. Jüdische Redaktoren löschen nichts, aus Ehrfurcht vor der Schrift. Christliche (evangelische) Theologen versuchen dann, durch Abschichtung der Textebenen die ursprünglichen Texte zurückzugewinnen. Manchmal gelingt das überzeugend. Man steht dann vor zwei oder mehreren verschiedenen Texten und kann Hypothesen über ihre Herkunft bilden. Aber was machen wir damit? 

Der Anspruch, Wahrheit zu repräsentieren, gehört zum Wesenskern der Bibel. Sie hört auf, Bibel zu sein, wenn wir sie als fiktionalen Text oder als geronnenen Zeitgeist der Jahrtausende lesen. Jüdische Interpreten bilden daher in solchen Fällen Konjekturen und Interpretationen, die es erlauben, alle sich scheinbar widersprechenden Darstellungen gleichermaßen wahr sein zu lassen. Solche Konjekturen können sehr kunstvoll sein, so kunstvoll, dass es nicht leicht fällt, eine Wahrheit zu akzeptieren, die davon getragen wird, davon abhängig ist.

Ich selbst mache ein wenig von beidem und doch etwas anderes. Die Wahrheit, die die Bibel abbildet, ist göttlicher Natur. Dies Abbild muß nicht notwendigerweise ein logisch konsistentes, widerspruchsfreies System von Aussagen bilden. Wir können in der Bibel nach der ihren Textteilen je innewohnenden Wahrheit suchen. Diese Wahrheit ist in der ersten Schöpfungsgeschichte eine andere als in der zweiten, und in der Genealogie von Chr. 7, die auf Heerformationen fokussiert, eine andere als im Stammbaum Sauls. Ich kann und muss Bibelstellen zusammen lesen, um sie zu verstehen. Dazu suche ich solche, welche die Stelle erleuchten, die ich zu verstehen suche, nicht diejenigen, die zu ihr im Widerspruch stehen. Je nachdem, wo ich anfange, betrachte ich manche Textstücke und andere nicht. Ich bleibe mir dabei der Existenz jener anderen aber stets bewusst. Es sind andere Wahrheiten, nicht die, um die es jetzt gerade geht. Jediaël ist kein Gespenst, es gibt ihn! Der Name, hebräisch ידיעאל, bedeutet: „Kunde / Botschaft Gottes“.

So kann ich auch mit Widersprüchen zur historischen Evidenz und zur Naturwissenschaft umgehen. Ich sehe sie — und versuche den Text zu verstehen. Auch wenn Archäologen zeigen, dass Jericho nie eine Mauer hatte und es historisch eine kriegerische Landnahme Palästinas durch einen Verband hebräischer Stämme nicht gegeben haben kann. Gelernt habe ich das bei der Arbeit am Bibelvers der Woche. Das Verfahren wirkt ein wenig unwissenschaftlich. Man muss zulassen, dass es mehrere Wahrheiten gibt, die im Widerspruch zueinander stehen, aber dennoch — wahr sind. Und ich denke, dass es genau so ist. Man muß es aushalten. Hinter den sich widersprechenden Wahrheiten mag eine übergeordnete Wahrheit liegen, die wir nicht erkennen können. 

ידיעאל — Botschaft Gottes. Was für ein Name!

Genug der Philosophie. Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 43/2021

…daß golden werde, was golden, silbern, was silbern sein soll, und zu allerlei Werk durch die Hand der Werkmeister. Und wer ist nun willig, seine Hand heute dem HErrn zu füllen?
1.Ch 29,5 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gerne geben!

David wollte seinem Herrn einen Tempel bauen, ein Haus, wie er es nennt. Dieser Wunsch blieb ihm versagt — der Herr sagt David, dass er kein Haus brauche von ihm, dass vielmehr er, der Herr ihm, David, ein Haus bauen wolle (1. Chr. 17). Den Tempel Gottes solle Salomo bauen, sein Sohn. 

David aber bleibt seinem Projekt eng verhaftet. Man bekommt beinahe das Gefühl, dass für seinen Sohn nicht viel zu tun bleibt. In Kap 18 der Chronik wird berichtet, dass David die Beute seiner Kriegszüge dem Tempelbau widmet, hierzu siehe auch BdW 27/2021. Gott lässt ihn den Tempelplatz finden (Kap 22) — eine merkwürdige Geschichte, in der Gott David und das Volk straft wegen einer Volkszählung, um dann der Plage Einhalt zu gebieten. Dann (Kap 23) sucht David Bauleute und Steinmetze, und er verpflichtet die im Lande wohnhaften Ausländer zu Zwangsarbeit. Ausserdem lässt er Baumaterial heranschaffen. In den Kapiteln 24, 25 und 26 wird bestimmt, welche Familien welche Ämter im Tempel haben sollen, als Priester und Sänger, Torhüter, Schatzmeister, Amtleute und Richter. Feierlich überreicht David dann seinem Sohn die fertigen Pläne.

Noch etwas sehr wichtiges tut er: er sammelt das nötige Geld. Er selbst widmet dem Bau über den Ertrag der Kriegszüge hinaus eine große Summe — 3000 Zentner Gold und 7000 Zentner Silber. Aktuell kostet ein Kilo Feingold 50.000 Euro und ein Kilo Silber 670 Euro. David spendet also einen Gegenwert von heute 80 Millionen Euro. Und damit wirbt er — sehr modern — um die Unterstützung des Volks. Die Sippen sollen das fehlende Geld aufbringen, das ist unser Vers. Und sie tun es, gerne, freiwillig und großzügig, so wird berichtet: fünftausend Zentner Gold, zehntausend Gulden und zehntausend Zentner Silber, ausserdem viel Bronze, viel Eisen. 

Von einer ähnlichen Begebenheit berichtet Ex 35. Während der Wüstenwanderung sollte die prächtige Ausstattung der Stiftshütte finanziert werden, ein transportabler Tempel. Die Israeliten gaben so viel, dass Mose die Annahme weiterer Spenden ablehnen musste. Auch in Exodus wird berichtet, dass die Gabe freiwillig und freudig erfolgte. 

Es gibt noch einen weiteren Bezug zurück auf Exodus: David fragt, „wer ist bereit, heute seine Hand für den Herrn zu füllen?“ Dieser Ausdruck steht sonst für eine Handlung im Rahmen der Weihe eines Priesters: dem Novizen werden die Hände gefüllt, damit er vor dem Herrn ein Schwingopfer verrichten kann, siehe Ex 29. Ich verstehe, dass David mit seinen Worten der Spende eine besondere Heiligkeit zuspricht, die vielleicht auf den Geber zurückstrahlt.

Gerne sollen wir geben, und freudig, und die Gabe wird auf uns zurückstrahlen. Und noch etwas sagt uns der Vers, die Gabe macht, dass „golden werde, was golden, und silbern, was silbern sein soll“ — mit anderen Worten, sie kann dazu beitragen, dass die Welt heil wird, dass sie so wird, wie sie sein soll. Bei diesen Worten denke ich an meine Frau, sie würde es vielleicht ähnlich sagen…

Ich wünsche uns eine freudige Woche, und der Herr segne unsere Gaben,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 42/2021

Und setzten sich nieder, zu essen. Indes hoben sie ihre Augen auf und sahen einen Haufen Ismaeliter kommen von Gilead mit ihren Kamelen; die trugen Würze, Balsam und Myrrhe und zogen hinab nach Ägypten.
Gen 37,25

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Zweimal Knechtschaft und zurück

Der Vers markiert eine der Gabelungen, aus denen sich die biblische Geschichte aufbaut. Die Ausgänge dieser Wegscheiden, Wendungen, Entscheidungen sind oft überraschend und lassen sie insgesamt als von Gott geschrieben erscheinen.

Josef wird von seinen Brüdern gehasst und sie haben sich seiner gewaltsam bemächtigt. Er ist anders als sie, ein Träumer und Visionär, und von ihrem Vater wird er offenkundig bevorzugt. Ruben, der Älteste, will ihn dennoch retten. Auf seine Intervention hin töten ihn die Brüder nicht sofort, sondern werfen ihn erst einmal in ein leeres Wasserloch. Ruben verlässt die Szene, wir erfahren nicht, warum. An dieser Stelle wird die Handlung gänzlich unbestimmt. Wird er sterben, wird er leben? Josef ist unten im Wasserloch, oben sind die Brüder und essen. Die Zeit steht still. 

Da heben sie ihre Augen auf — in der Bibel ist dies der Code für eine unmittelbar folgende schicksalhafte Wendung. Sie sehen ismaelitische Händler, eine Kamelkarawane, die von Gilead im Norden nach Ägypten im Süden zieht. „Warum Josef töten und an ihm schuldig werden? Wir verkaufen ihn!“ Sie ziehen ihn aus der Grube und geben ihn den Händlern für einen ordentlichen Preis, zwanzig Silberstücke. Sie mögen der Karawane noch eine Weile nachgesehen haben: Josef würde nie zurückkommen, und wie lange er in der Sklaverei zu leben hätte, war eigentlich gleichgültig… 

Aber an dieser Stelle beginnt eine ganz andere, eine ganz große Geschichte: Josef wird nach Ägypten gebracht, der Träumer macht dort eine unglaubliche Karriere, die ihn zum Manager macht, ins Gefängnis bringt und endlich ins Amt eines Vizekönigs von Ägypten führt. In vielen Wirrungen holt er seine Brüder nach, sie ziehen fort aus Palästina. Ihre Nachkommenschaft wächst und wird in Ägypten zu einem ganzen Volk, dem Volk Israel. 

Obwohl wir Entscheidungen treffen, schreibt Gott die Geschichte, sagt uns die Bibel hier, weil wir die Konsequenzen unserer Entscheidungen nicht überblicken. Die Erzählung von Josef in Ägypten mag völlig aus der Luft gegriffen erscheinen. Und doch kenne ich eine ähnliche Begebenheit, die sich in der Vergangenheit unserer Familie wirklich zugetragen hat. Ich will Ihnen das erzählen. 

Unsere Familiengeschichte berichtet von Caspar von Kalckreuter, Gutsherr in der Niederlausitz und Soldat — letzteres, wie es scheint, aus freiem Willen. Nach dem Dreissigjährigen Krieg kämpfte Schweden mit dem Vereinigten Königreich von Polen und Litauen um die Vorherrschaft im Nordosten. Die Preußen hatten sich unter dem Großen Kurfürsten aus dem polnischen Verband gelöst und waren mit den Schweden verbündet, die Polen hatten ihrerseits ein großes Tatarenheer als Unterstützung. Der große Kurfürst war auch Markgraf der Lausitz. Caspar zog also 1656 im Alter von 30 Jahren mit den Preußen gegen Polen und Tataren.

Am Michaelistag, Anfang Oktober, kam es zu einer katastrophalen Niederlage. Caspar wurde von den Tataren gefangengenommen, nackt ausgezogen und mit den anderen Gefangenen misshandelt. Den Gefangenen wurde nachts die Füße zwischen zwei Bretter gebunden und an der Erde befestigt, und gelegentlich legten sich die Tataren quer über die Gefangenen. Mit dem Hauptheer der Tataren gelangte er an den Dnjepr. Im strengem Winter hütete er Schafe und putzte die Pferde. 

Mit dem schweifenden Heer kam er schließlich ins Donaudelta, wo er einem türkischen Sklavenhändler verkauft wurde. Dieser brachte ihn nach Konstantinopel und verkaufte ihn auf dem Sklavenmarkt weiter. Caspar gab sich seinem neuen Herrn, einem Kaufmann, als Schotte aus und mußte zunächst einfache und harte Arbeit verrichten. Mit der Zeit wurde er des Kaufmanns Gehilfe. Sein Herr gab ihm die Erlaubnis, sich freizukaufen und setzte den Preis erst auf 1000, dann auf 500 Taler fest. Im Auftrag seines Herrn führte Caspar mehrere Seereisen durch. Eine davon ging nach Ägypten (!), den Nil hinauf. Erst nach abenteuerlichen Wegen und Umwegen gelangten sie zurück nach Konstantinopel, sein Herr hatte das Schiff verlorengeglaubt. Es gelang Caspar, Kontakt mit dem Gesandten des Deutschen Reichs aufzunehmen, der half, das fehlende Geld von Caspars Bruder zu besorgen. Sein Herr bat ihn sehr, zu bleiben und Muslim zu werden, und auch der Kadi, der ihm am Kai den Freibrief überreichte, wollte ihn halten. Aber er machte sich auf den weiten Weg zurück.

Zu Pfingsten 1660 schließlich, dreieinhalb Jahren nach seiner Gefangennahme, gelangte er in seine Heimat in der Niederlausitz. Er war gesundheitlich angeschlagen und die Familiengeschichte gibt das Bild einer posttraumatischen Belastungsstörung wieder: 

Es ist aber der von Kalckreuter nach seiner Wiederkunft nicht mehr so gesund, so schön und so fröhlich als vorher gewesen. Er konnte sich die harte, unvermuthete Dienstbarkeit nicht gänzlich aus dem Gemüte schlagen. Auch litt er öfter unter bösen Vorstellungen, weshalb er einst im Winter bei tiefem Schnee ohne Kleider aus dem Bette gesprungen und sich eine halbe Meile entfernt an einem anderen Orte versteckt hat, worüber er in eine gefährliche Krankheit gefallen. — Endlich hatte er fast alles vergessen, wo er gewesen war.
(Aus dem Bericht von Johann Magnussen, ev. Prediger zu Albrechtsdorf, 1679)

Vizekönig ist Caspar nicht geworden bei den Tataren und in der Türkei, nein. Aber er besaß die Kraft, weiterzuleben und durchzuhalten, als die Lage ausweglos war, und die Klugheit, seine Möglichkeiten zu nutzen, als sie sich ihm, nach langer Zeit, endlich zeigten. Mit Gott blieb er stets verbunden: als einziges Besitztum war ihm ein Gebet- und Gesangbuch geblieben, das „Lüneburger Handbüchlein“, mit dem Neuen Testament, dem Katechismus und den Psalmen — eine Kostbarkeit im 17. Jahrhundert! Die Türken ließen ihn ungehindert darin lesen. 

Der gezogene Vers handelt von der Unbestimmtheit, die in vielen persönlichen Katastrophen steckt. Unversehens habe ich nun darüber geschrieben, wie man damit umgehen kann. Ich glaube, es ist eine mächtige Überlebensstrategie. Weiterleben und durchhalten, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, und warten. Mit Gott im Gespräch bleiben. Und dann die Chancen begrüßen, wenn sie kommen — falls sie kommen. Wie Josef. Wie Caspar. 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 41/2021

Freuet euch in dem Herrn allewege! Und abermals sage ich: Freuet euch!
Phi 4,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Freude!

Vor etwas mehr als einem Jahr zogen wir einen Vers, der diesem hier unmittelbar folgt: Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen! der Herr ist nahe! (Phi 4,5), und damals betrachtete ich beide gemeinsam. Hier ist ein Link zum BdW 34/2020. Das ist nicht lange her, es stimmt noch alles, einschließlich leider auch der Probleme mit dem Rücken und der Erziehung. Der Vers zeigt einfach und unmißverständlich, ob jemand auf dem richtigen Weg ist. Dann nämlich geht Freude von ihm aus — sichtbar, spürbar — dann kann er ein Segen für die Welt sein. Wir dürfen uns freuen, wir sollen es sogar, Gott will es so, will uns so. Die Frohe Botschaft trägt ihren Namen aus gutem Grund. Und umgekehrt: wenn man unfroh ist, läuft etwas, läuft man falsch. 

Da es die Betrachtung zum Bibelvers dieser Woche also schon gibt, darf ich aufschauen und den Blick weiten. Und da sehe ich, dass wir in den vergangenen Wochen Verse gezogen habe, die jeweils eine Essenz des Glaubens auf einen einfachen und lebenspraktischen Nenner bringen — zum Anfassen gewissermaßen:

  • Vor zwei Wochen wurden wir aufgefordert, unseren Nächsten, gar unseren Feind zu lieben. Ihn in seiner Mitgeschöpflichkeit zu sehen und die eigenen Interessen nicht automatisch höher zu bewerten als die Bedürfnisse des Anderen.
  • Vor einer Woche gab es einen Vers, der uns den Schatten der Flügel Gottes als Zufluchtsort bot, in persönlicher Not, bei Verzweiflung, Lebens- und Todesangst.
  • Und der Vers dieser Woche sagt uns, dass der Weg mit Gott in Freude mündet: Freude aus Gott, die wir nicht nur empfangen dürfen, sondern aktiv weitergeben können. 

Mir scheint, die drei Verse und die damit verbundene Haltung charakterisieren den christlichen Glauben, und zwar im Ergebnis. Ein Menschen, der so lebt, folgt Jesus, auch wenn er ihn nicht kennt. Immer wieder habe ich mich in dieser Woche gefragt, welcher dieser drei Verse der richtige sei, wenn ich traurig war oder in Schwierigkeiten steckte. Die Antwort war stets einfach. 

Dabei sind die Verse selbst sehr anspruchsvoll, jeder für sich. Über Nächsten- und Feindesliebe brauche ich nichts zu sagen. Dann aber: wer von uns weiß sich unter den Schatten der Flügel Gottes jederzeit geborgen? Auch das sagt uns Jesus immer wieder: sorgt euch nicht, der Vater sorgt für euch! Aber die Sorge ist ziemlich fest verdrahtet in uns. Und Freude ist wahrhaftig nicht immer leicht — ich will es hier nicht ausbuchstabieren, das würde die Freude verderben, aber gelegentlich grenzt Freude durchaus an Realitätsverweigerung. Das ist mit allen drei Versen so: sie enthalten ein lautes „Trotzdem!“

Was macht den Kern des Glaubens aus? Kanonische Versuche, das Unsagbare in Worte zu fassen, sind die Glaubensbekenntnisse. Sie sind nicht leicht zu lesen und zu verstehen. Wichtiger als Aussagen und ihre logischen Beziehungen zueinander ist das, was daraus folgt, für unser Leben, das der anderen und unser Verhältnis zu Gott. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Wahrheit unerkennbar ist. Paulus fand dafür das Wort vom dunklen Spiegel, durch den wir blicken. Für die eine, unerkennbare Wahrheit können wir Bilder, Vorstellungen und begriffliche Konstrukte suchen. Sie sind dann gut, wenn sie zu richtigem Sein, zu richtigem Handeln führen. Sie sind Stützen, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Was zählt, ist die Haltung, die innere Verfasstheit, die mit diesen Vorstellungen einhergeht und wechselwirkt. Der Rest ist Theologie.

Mein Credo könnte also lauten: In Jesus Christus will ich ein Mensch sein, der das Mitgeschöpf im Anderen sieht, auch wenn er ihm fern steht, der sich geborgen weiß unterm Schatten der Flügel Gottes, und der dem Leben, seinen Mitmenschen und seinem Gott — und schließlich auch seinem Tod — mit Freude begegnet, innerlich und äußerlich. 

Wenn Sie Zeit und Ruhe haben, gehen Sie in sich und versuchen Sie, sie zu spüren, die Freude. Sie ist da, in Ihnen, sie will gefunden werden!

Ich wünsche uns Freude, und die Fähigkeit dazu, in der kommenden Woche und immer!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 40/2021

Wie teuer ist deine Güte, Gott, daß Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben!
Ps 36,8

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Unter dem Schatten der Flügel Gottes

Wie ein Geschenk ist dieser Vers. Aus Psalm 36 werden gern Sprüche für Konfirmation und Taufe gewählt: die Worte wirken aus sich selbst heraus. Da nehme ich mich gern zurück. Lesen Sie einfach (Ps 36,6-10): 

HERR, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, 
und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen. 
Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes 
und dein Recht wie die große Tiefe. 
HERR, du hilfst Menschen und Tieren. 
Wie köstlich ist deine Güte, Gott, 
dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben! 
Sie werden satt von den reichen Gütern deines Hauses, 
und du tränkst sie mit Wonne wie mit einem Strom. 
Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, 
und in deinem Lichte sehen wir das Licht. 

Vor vielen Jahren stand der Vers über der Trauerfeier für meine Großmutter.

Der Herr schenke uns den Schatten seiner Flügel,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 39/2021

Und so ihr liebet, die euch lieben, was für Dank habt ihr davon? Denn die Sünder lieben auch ihre Liebhaber
Luk 6,32

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Die Feinde lieben!

Manchmal, wenn es ihm besonders wichtig ist, spricht Jesus wie ein Zen-Lehrer: er stellt Sätze in den Raum, die widersinnig oder gar erschreckend erscheinen und überlässt es seinen Zuhörern, das Gehörte für sich auszufüllen. Was immer sie dann finden, es wird ihre Wahrheit sein. 

Unser Vers steht im Anschluß an eine der bekanntesten Maximen Jesu und des Christentums: wir sollen unsere Feinde lieben. Vielleicht haben Sie den Satz zu oft gehört, um sofort zu spüren, wie widersinnig er ist. Hatten Sie einmal eng mit Menschen zu tun, die Ihre Feinde waren? Es gibt da zwei Aspekte, ich könnte fragen „denen Sie feind waren“ oder „die Ihnen feind waren“. Wie fühlt sich das an? Versuchen Sie, sich zu erinnern, auch wenn es vielleicht weh tut.

Liebe hat da jedenfalls keinen Platz. Was hoch kommt, sind Angst, Ärger, Hass, Mißtrauen, vielleicht auch Enttäuschung. Die Konzepte „Feind“ und „Liebe“ schließen sich aus, mit anderen Worten: es geht nicht. In der letzten Woche haben wir aus einem Psalm gezogen, wo es um den inneren Umgang mit Feinden geht. Der Psalmist gelangt dahin, die Feinde aus seiner Gedanken- und Gefühlswelt ganz auszublenden, indem er sich Gott zuwendet. Das befreit ihn. Eine großartige innere Verwandlung — aber weit, sehr weit entfernt bleibt er davon, die Feinde zu lieben. 

Feindesliebe steigert und übersteigert das Gebot der Nächstenliebe. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ sagt Leviticus 19,18, bezogen auf die Volksgenossen. Jesus verlangt mehr: Nächster ist uns jeder, der uns in einer konkreten Lebenssituation begegnet, dessen Schicksal mit dem unseren verbunden ist. Im Gleichnis macht Jesus das hilflose Opfer eines Raubüberfalls zum Nächsten des vorbeiziehenden Samaritaners, des Angehörigen einer Volksgruppe, der die Juden Verachtung entgegenbringen. Hier in der Feldrede sagt er: Nicht nur den „eigenen Leute“ sollen wir mit Liebe begegnen: Verwandte, Freunde, Gönner, alle, die uns lieben. Sie zu lieben, vermag jeder, auch die Sünder — so unser Vers oben. Es ist dies eine Art verallgemeinerter Egoismus. Altruismus beginnt dort, wo wir uns den „anderen“ zuwenden, sagt Jesus. Und seien es die Feinde. Lasst uns die Feinde lieben!

Man kann die Antinomie dieser Forderung auflösen. Wenn ich den Menschen betrachte, der mein Feind ist und den ich nach Jesu Weisung nun lieben soll, kann ich mich fragen, ob er eigentlich mein Feind sein muss. Wenn nicht, kann ich selbst das Gebot der Feindesliebe in das der Nächstenliebe verwandeln. Immer noch schwer genug, aber nicht paradox. Mein Mathematiklehrer hat das als „Mantelpaviantrick“ bezeichnet, zur Lösung besonders vertrackter Probleme: Wie fängt man einen Mantelpavian? Man zieht ihm den Mantel aus und fängt ihn wie einen normalen Pavian. 

Wenn wir Feindesliebe ernst nehmen, müssen wir aufhören, andere als Feinde zu betrachten. Einseitig, wenn es sein muss. Anders geht es nicht. Uns selbst werden wir dabei verändern, und vielleicht auch den Feind. Und ein kleines bisschen die Welt.

Der Herr schenke uns Mut in dieser Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 38/2021

Denn siehe, HErr, sie lauern auf meine Seele; die Starken sammeln sich wider mich ohne meine Schuld und Missetat.
Ps 59,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gottesmodus

Zwei Grundhaltungen gibt es. Menschen können die Welt und was sie umgibt als feindlich einstufen. Sie sind dann mißtrauisch und verschlossen, oder auch reizbar und aggressiv. In einer feindlichen Welt sind das angemessene Verhaltensweisen. Man kann die Welt auch als zugewandt erleben, als wohnte ihr ein kostbares Versprechen inne, das darauf wartet, wahr zu werden. Wir sind dann offen, neugierig, freundlich und bereit, Bindungen einzugehen. Und auch ungewöhnliche Dinge können wir tun.

Manchmal lässt die Lage uns keine Wahl. Die Welt ist so, dass sie nur eine der beiden Interpretationen zulässt. Aber meist und sehr weitgehend liegt es an uns selbst und an unserer inneren Dynamik, welche der beiden Positionen wir uns nähern, und in welcher individuellen Mischung. 

Wer an einen ihm zugewandten Gott glaubt, hat sich für die zweite Haltung entschieden, jedenfalls mit dem Kopf. Gott ist es, der hinter der Welt steht, sie ist der Ausdruck seiner Schöpfung und seines Wollens. Der Glaube an Gott, die Bereitschaft, sein Versprechen für wahr zu halten, ist Grundlage für Vertrauen. In die Welt, auch in die Menschen, die darin wohnen. 

Aber so einfach ist es nicht im wirklichen Leben. In dem Psalmen ist viel die Rede von „den Feinden“, die den Psalmisten umringen und mit denen er sich auseinandersetzt, manchmal verbal, manchmal auch auf Leben und Tod, siehe z.B. BdW 26/2019 oder BdW 23/2019. Im gezogenen Vers rotten sich die Feinde zusammen und werden zur lebensbedrohenden Gefahr. Die erste Haltung ist dem Psalmisten hier und anderswo mehr als nur vertraut. 

Aber immer in den Psalmen ist Gott die Rettung: der Gedanke an ihn, das Gebet, der Lobgesang. Ich glaube, dass es hier eine Art Mechanik gibt. Der Betende geht in den „Gottesmodus“, er gibt sich zurück in ein Ganzes, dem ein guter Wille innewohnt. Und damit ändert sich die Welt, seine Welt. 

Unser Psalm zeigt den Vorgang sehr deutlich, betont durch fast wortgleiche Wiederholung in der Mitte und am Ende. Der Antagonismus ist extrem, den Feinden wird ihre Menschlichkeit ganz und gar abgesprochen, sie sind wie heulende Hunde. Dann aber wendet sich der Psalmist ab von diesem Bild und Gott zu — und indem er das tut, durchdringen ihn Glück und Geborgenheit (Vers 15-18):  

Des Abends kommen sie wieder, 
heulen wie die Hunde und laufen in der Stadt umher. 
Sie laufen hin und her nach Speise 
und murren, wenn sie nicht satt werden. 

Ich aber will von deiner Macht singen und des Morgens rühmen deine Güte; 
denn du bist mir Schutz und Zuflucht in meiner Not. 
Meine Stärke, dir will ich lobsingen; 
denn Gott ist mein Schutz, mein gnädiger Gott.

Ist das nicht phantastisch? Heulende Hunde sind es, ja. Aber ich brauche sie nicht zu beachten, sie sind nicht wichtig…

Der Herr schenke uns Glück und Geborgenheit in dieser Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 37/2021

Siehe, hier bin ich; antwortet wider mich vor dem HErrn und seinem Gesalbten, ob ich jemandes Ochsen oder Esel genommen habe? ob ich jemand habe Gewalt oder Unrecht getan? ob ich von jemandes Hand ein Geschenk genommen habe und mir die Augen blenden lassen? so will ich’s euch wiedergeben.
1.Sam 12,3

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Vom Segen, gehen zu können

Lesen Sie den Vers ruhig zweimal. Auch ohne die näheren Umstände zu kennen merkt man rasch, dass hier jemand spricht, der sich seiner Stellung vergewissert, der um seine Reputation kämpft, der noch etwas sagen will.

Es ist Samuel. Samuel war nicht nur Prophet, sondern auch Richter (1.Sam 7). In der Zeit vor dem israelitischen Königtum standen Richter über den Stämmen und lösten übergreifende Rechts- oder Machtfragen und organisierten Bündnisse, wenn es Kriege zu führen galt. Sie reisten von Richtplatz zu Richtplatz durch das Land. Die Stämme waren autonom, die Richter waren daher auf freiwillige Kooperation angewiesen. Es hing von den politischen Umständen und den persönlichen Fähigkeiten des Richters ab, ob dies gelang und wenn ja, wie gut. Das Buch Richter dokumentiert, wie chaotisch oder gar bürgerkriegsähnliche die inneren Beziehungen sein konnten. 

Und Samuel war der letzte Richter. Als er hochbetagt war, versuchte er, das Amt in die Hand seiner Söhne zu legen (1.Sam 8). Doch sie erwiesen sich als unwürdig, sie waren parteiisch, bestechlich und auf den eigenen Vorteil bedacht. Das Volk wies die Söhne Samuels zurück und sagte dem Vater, es sei nun genug, man wolle einen König, und Samuel solle einen beschaffen. Er war nun wieder Richter, mit der Aufgabe, das Amt abzuschaffen! 

Samuel empfand diesen Wunsch als widerwärtig. Nicht nur aus tiefer Kränkung: darüber hinaus stand für Samuel fest, dass nur der Herr selbst König von Israel sein könne. Einen menschlichen König zu verlangen, war Mißtrauen gegen Gott!

Dieser Gott aber verlangt nun, dass Samuel den Willen des Volks tue. Er weist auch an, wer König sein solle: Saul. Samuel folgt. Dann hält er eine Abschiedsrede vor dem Volk. Er weist auf die Implikationen des Königtums hin: die Gefährdung der Beziehung zu Gott und die mögliche Versklavung durch den König. Und bittet das Volk inständig, Gott und seinem Wort die Treue zu bewahren. 

Vorher aber muss er sich die Reputation zurückholen, die seine Söhne ihm genommen haben. Samuel will in diesem Moment maximale Glaubwürdigkeit. „Siehe, hier bin ich“, setzt er ein. Er fragt das Volk, ob durch ihn, Samuel, jemand zu Schaden gekommen sei oder ob jemand Grund habe, etwas von ihm zurückzufordern. Er solle es jetzt tun. Und alle sind sich einig, dass Samuels Integrität ausser Zweifel steht. 

Mit seiner Rede gibt er sein Richteramt ein zweites Mal auf. Alles in Komposition und Duktus signalisiert, dass dieser Abschied endgültig sei. König Saul ist installiert und erringt einen glänzenden Erfolg nach dem anderen, der Wille des Volks und der Wille Gottes sind erfüllt.

Das Erstaunliche ist nun, dass er das Amt bald ein drittes Mal haben wird, wenigstens inoffiziell. Auch Saul erweist sich schliesslich als unwürdig und wieder ist Samuel gefragt: er soll das Königtum Davids vorbereiten.

Das ist eigenartig. Man kann sich denken, dass hier zwei Überlieferungsstränge zusammenstoßen: die Geschichte einer erfolgreichen Staatsgründung durch Saul und die eines glänzenden Königtums Davids, und die Figur Samuels muss die beiden Stränge verbinden und darüber hinaus David legitimieren.

So mag es sein. Ich versuche jedoch stets, die Texte so zu lesen, wie sie geschrieben stehen. Und da sehe ich einen alten, einen sehr alten Mann, der endlich gehen will; in Ehren, als einer, der niemandem etwas schuldig geblieben ist. Zu dem aber die Verantwortung ständig zurückkehrt wie ein schrecklicher Bumerang, fast wie ein Fluch. Bis zu seinem Tod — und darüber hinaus. Noch aus dem Totenreich heraus soll er antworten. In einer Szene wie aus Macbeth lässt Saul in höchster Not den Propheten und Richter durch die Hexe von Endor zitieren, in der Hoffnung auf einen rettenden Hinweis. Den aber gibt es nicht. Der Saul berufen hat, lässt ihn am Ende ganz und gar fallen. Die Tür zum Totenreich schließt sich hinter Samuel, und bald muss Saul ihm folgen. 

Glücklich, wer zur rechten Zeit gehen kann! 

Der Herr schenke uns seinen Frieden in dieser Woche, 
Ulf von Kalckreuth