Dies ist das Geschlecht des Perez: Perez zeugte Hezron;…
Rut 4,18
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.
Mikroschicksal und Makrokosmos
Im Februar 1945 floh meine Großmutter mit ihren drei Kindern vor den Russen aus Niederschlesien und zog über Monate im Treck durch ein zerstörtes und eisig kaltes Deutschland, bis sie mit den Kindern in Laupheim ankam, einer kleinen Stadt in Südwestdeutschland. Dort lebten jüdische Verwandte, verschwägert über die Schwester ihres Mannes, meines Großvaters. Über dessen Schicksal wusste sie zu diesem Zeitpunkt nichts. Sie befand sich in einer Lage, die der von Naomi und Rut sehr glich.
Das Buch Rut spielt in der mythischen, vorstaatlichen Zeit Israels. Rut ist Vorfahrin Davids. Sie ist keine Israelitin, sie gehört dem verachteten Volk der Moabiter südöstlich der Kernlande Israels an — im ‚Bibelvers‘ der letzten Woche waren wir ihnen begegnet. Das Buch erzählt, erdig und herb, ein Flüchtlingsschicksal zweier Frauen. Elimelech, ein Mann aus Bethlehem, flieht vor einer Dürre in das Nachbarland Moab. Die Wanderung mißlingt: er und seine beiden Söhne sterben. Seine Frau Naomi zieht gemeinsam mit Rut, einer der beiden moabitischen Schwiegertöchter, zurück ins israelitische Heimatland. Sie hofft, dort Nahrung und Hilfe zu finden. Rut begleitet Naomi, obwohl sie Moabiterin ist und sie zu ihrer eigenen Familie zurückkehren könnte.
In Bethlehem sind die beiden gänzlich auf das Wohlwollen ihrer Umgebung angewiesen. Es gibt eine unklare Pflicht der nächsten Verwandten Elimelechs, als ‚Löser‘ zu fungieren, sonst haben sie keine Ansprüche. Es ist Erntezeit, sie haben Hunger, und Rut beginnt, das Korn aufzulesen, das bei der Ernte liegengeblieben war — das Recht der ganz Armen, siehe BdW 48/2019. So lernt die junge Frau den reichen Bauern Boas kennen und gerät in völlige Abhängigkeit von ihm. Sie schlafen miteinander. Einen langen Moment bleibt die Geschichte in der Schwebe und scheint in sexuelle Ausbeutung münden zu wollen. Aber Boas entscheidet sich, die Rolle des ‚Lösers‘ anzunehmen und füllt sie aus, indem er Rut heiratet. Das Kind der beiden wird Großvater Davids. Der gezogene Vers berichtet die Ahnreihe Davids als makrokosmischer Nachtrag zur mikrokosmischen Geschichte Ruths. Der Nachtrag bindet die Geschichte der beiden Flüchtlingsfrauen an die große Welt der biblischen Erzählung an.
In der Torah und den Geschichtsbüchern des Alten Testaments durchdringen sich Makrokosmos und Mikrokosmos auf eigentümliche Weise: es werden Einzelschicksale berichtet, diese aber haben zugleich Bedeutung für große Gruppen in der Zukunft. Die Personen sind Teil einer Ahnreihe, oder sind gar Stammväter oder -mütter ganzer Völkerschaften. Was sie tun, hat Bedeutung für alle diese Nachkommen, auch Könige oder Völker.
Unsere jüdischen Verwandten in Laupheim hatten den Naziterror wie durch ein Wunder überlebt, und es ging ihnen den Umständen entsprechend sehr gut. Als meine Großmutter mit den Kindern bettelarm in Laupheim ankam, nahmen sie die kleine Familie herzlich auf und ermöglichten ihr einen neuen Start. Unbewusst mag dabei neben vielem anderen auch die Erinnerung an das Buch Rut mitgeschwungen haben. Und auch hier: was geschah, hat Folgen bis heute.
Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth