Bibelvers der Woche 34/2024

Und hatten siebenhundert und sechsunddreißig Rosse, zweihundert und fünfundvierzig Maultiere,…
Esr 2,66

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Eröffnungsbilanz

Der Vers enthält eine Aufzählung von Reittieren, welche die Rückkehrer aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem brachten. Sonderbar genug ist diese Aufzählung auf zwei Verse verteilt. Hier ist der ganze Satz, Vers 66+67, nach der Lutherbibel 1984: 

Und sie hatten 736 Rosse, 245 Maultiere, 435 Kamele und 6720 Esel.

Die beiden Bücher Esra und Nehemia erzählen die Geschichte des Neubeginns der Remigranten in der Heimat der Vorfahren. Nur wenige unter ihnen hatte Jerusalem und Juda noch selbst als Heimat erlebt. Unser Vers steht in der sog. Heimkehrerliste, einer Liste der ersten Remigrationswelle. Familie für Familie, Großverband für Großverband. 42.350 Rückwanderer werden gezählt, ohne Sklavinnen und Sklaven. Von ihnen gibt es 7337. Auch 200 Sängerinnen und Sänger sind in der Gesamtzahl nicht enthalten und werden gesondert aufgeführt. Die Liste wird in Neh 7 wiederholt, einschließlich auch unseres Verses.

Was hat es auf sich mit diesem sonderbaren Vers? Zur Buchhaltung eines Unternehmens, der systematischen Aufzeichnung aller Geschäftsvorfälle, gehören Anfangsbilanz und Schlussbilanz eines Geschäftsjahres. Bilanzen sind Aufstellungen aller Vermögenswerte, sachlich und finanziell, und aller Verbindlichkeiten. Zwischen der Anfangsbilanz eines Jahres und seiner Schlussbilanz steht die laufende Buchhaltung. Die Anfangsbilanz des laufenden Geschäftsjahres ist dabei identisch mit der Schlussbilanz des vorhergehenden. 

Was aber, wenn es kein vorhergehendes Geschäftsjahr gibt? Dann muss die Eröffnungsbilanz durch dingliche Erfassung der Vermögenswerte und Schulden erstellt werden. Genau das geschieht in der Rückkehrerliste. Sie erfasst, wieviele Menschen aus welchen Stämmen und Familien in das Heilige Land zurückkehren, ihre Sklaven und Reittiere (unser Vers) und welche Vermögenswerte sie bereit sind, für den Aufbau eines neuen Tempels zur Verfügung zu stellen. 

Mit dieser Eröffnungsbilanz startet der Bericht einer neuen Zeit. Jeder Esel zählt, jeder Sklave. Und auch jede Sängerin.

Ich wünsche uns Gottes Segen und den Mut, dort neu zu beginnen, wo es dem Leben dient!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 20/2024

Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, des Namen sollst du Jesus heißen.
Luk 1,32

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Vom Himmel gefallen

Die Welt wird neu. die Regeln gelten nicht mehr. Sie sind über den Haufen geworfen. Zwei Frauen bekommen Kinder — unmögliche Kinder, im Wortsinn, vom Himmel gefallen…!

Elisabeth ist eine alte Frau, die sich ihr Leben lang Kinder gewünscht hat. Ihr Mann, Zacharias, ein Tempelpriester, hatte aufgegeben. Als es an ihm war, das Brandopfer vorzunehmen und er allein war mit seinem Gott am Altar, erschien ihm Gabriel. Du wirst Vater, sagt ihm der Engel, gegen alle Möglichkeiten. Und als Zacharias nach einem Zeichen fragt, weil er es nicht glauben kann, antwortet ihm Gabriel, dass er verstummen werde, weil er nicht glauben kann — solange, bis das Kind auf der Welt sei.

Maria ist eine junge Frau, und auch ihr erscheint Gabriel. Ein Kind soll sie gebären, sagt der Engel, und dies Kind wird den Thron Davids erben. Maria ist jung und unverheiratet. Auch sie kann nicht glauben, was sie hört: wie kann das sein, da ich von keinem Manne weiß, fragt sie. Gabriel antwortet Maria weniger harsch als Zacharias — sie möge doch ihre Base besuchen, Elisabeth, auch sie sei schwanger, seit fünf Monaten, gegen alle Möglichkeiten.

Diese beiden Kinder kommen zur Welt. Und sie bleiben eng verbunden, wie Zwillinge. Johannes, der Prophet, Wegbereiter, Rufer in der Wüste, und sein Schüler, Jesus, den Johannes tauft und in dem er den Retter der Welt erkennt. Der eine stirbt unter Herodes, der andere unter Pilatus. Wann eigentlich verstand Jesus, dass er der Messias ist? Wann wusste Johannes, dass er es nicht ist?

Ein Engel erscheint hintereinander zwei Menschen, einem alten Tempelpriester und einem Mädchen, das von keinem Manne weiß. Die Welt wird neu, die Regeln gelten nicht mehr… 

Hallelujah!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 14/2021

Und weil sie den HErrn auch fürchteten, machten sie sich Priester auf den Höhen aus allem Volk unter ihnen; die opferten für sie in den Häusern auf den Höhen.
2 Kö 17,32

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Ungleiche Geschwister

Manchmal ist die Bibel nicht so großherzig, wie ‚man‘ sie gern hätte. Gottes Wort ist sie, überliefert aber von Menschen, die in ihrem eigenen Leben stehen und in dem ihrer Gemeinschaft. Da tut sich gelegentlich ein Spalt auf.

Der Abschnitt, in dem unser Vers steht, berichtet von der Entstehung der samaritanischen Gemeinschaft. In der letzten Woche war schon die Rede davon: das Nordreich Israel war im Jahr 720 v. Chr. vom assyrischen König Sargon II im Rahmen einer Strafaktion erobert und als selbständiger Staat zerschlagen worden. Teile der Bevölkerung wurden deportiert und andere Bevölkerungsgruppen auf dem Land um die frühere Hauptstadt Samaria angesiedelt. Im 2. Buch der Könige wird berichtet, dass alle Einwohner des Nordreichs deportiert wurden und die Bevölkerung vollständig ausgetauscht wurde. Das ist schwer vorstellbar, aber es hat klare Konsequenzen: ihre Nachfahren waren nicht Volk Gottes, sie gehörten nicht ‚dazu‘. Die zehn der zwölf Stämme Israels, aus denen sich das große Nordreich zusammensetzte, gelten in der Tradition als ‚verschwunden‘. Aber viele Jahrhunderte später, zu Jesu Zeiten, selbst heute noch, leben im Norden Palästinas „Samariter“, oder Samaritaner, die den Gott Israels verehren und eine hebräische Torah haben — die fünf Bücher Mose, mit einigen Unterschieden zur jüdischen Fassung. Sie sind Nachfahren der Bevölkerung, die sich nach dem Untergang des Nordreichs herausbildete. Die Samaritaner haben einen Tempel auf dem Berg Garizim, in dem der traditionelle Opferbetrieb während der letzten zweieinhalb Tausend Jahre nie ganz eingestellt wurde, und sie sehen sich als Träger einer Tradition, die unverfälscht ist von späteren Zusätzen. 

Später brach auch das Südreich Juda zusammen, auch dort mussten viele Menschen die Heimat verlassen. Das Exil und dann die Rückkehr bedeutete eine schwierige Zeit der Identitätsfindung, der Wiedergeburt und des Neubeginns. In dieser Zeit entstanden die Bücher der Könige. Die Samaritaner waren für das sich neu formierende Judentum eine Herausforderung. Sie hatten eine Tradition und einen Anspruch, der ebenso weit zurück reichte wie der eigene. Und sie vertraten das größere der Brudervölker.

Der Abschnitt aus 2. Kö weist diesen Anspruch schlicht von der Hand. Die Samaritaner seien gar keine Nachfahren Abrahams, Isaaks und Jakobs. Dass sie dennoch Gott den Herrn verehren, erklärt der Text so: die neuen Siedler aus fremden Völkern wurden ständig von bösartigen Löwen angegriffen. Die Assyrer führten die ungewöhnlichen Attacken darauf zurück, dass der Herr des Landes, der Gott Israels, nicht ordnungsgemäß verehrt werde, und der assyrische König befahl daher seine kultische Verehrung. Ein Priester des früheren Nordreichs sei entsandt worden, eine Priesterkaste auszubilden. Daneben aber führten die neuen Einwohner ihre eigenen, spezifischen Kulte fort. „So fürchteten diese Völker den Herrn und dienten zugleich ihren Götzen. Auch ihre Kinder und Kindeskinder tun, wie ihre Väter getan haben, bis auf diesen Tag“ (2.Kö.17,41). Der Text delegitimiert die Samaritaner, und er ist Grundlage für fortwährende Aus- und Abgrenzung, in biblischer Zeit und weiter bis heute.

In der vergangenen Woche hatten wir einen Vers gezogen, in dem Gott nach seinen Kindern im untergegangenen Nordreich ruft. Und ich schrieb, dass der Ruf ohne Antwort blieb. War das richtig? Kam nicht die Antwort von den Samaritanern? 

Die Fortexistenz dieser uralten Gemeinschaft über die Jahrtausende hat in meinen Augen Zeugnischarakter. Ihre Anzahl ist heute auf 800 Menschen geschrumpft. Aber geschichtlich sind sie — beständig über die Zeit — Kinder einer uralten Katastrophe, des Untergangs des Nordreichs im Jahr 720 v. Chr. Das Judentum in seiner heutigen Form ist Ergebnis einer anderen Katastrophe, des Untergangs des Südreichs 586 v. Chr. und des Exils. Und ist das Christentum, als eigenständige Religion jedenfalls, nicht teilweise Ausfluss einer dritten Katastrophe: der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Römer im Jahr 70, gepaart mit massenhafter Vertreibung? 

Hier liegt ein Geheimnis, eine Art geistliche Dialektik. In der Konsequenz sind diese drei gleichartigen Katastrophen identitätsstiftend, werden Grund für neues geistliches Leben, auf je verschiedene Art. Neue Welten auf den Trümmern der alten. Gottes Treue zeigt sich darin auf sehr eigene Art. Verweist dieses Muster etwa auch auf die Auferstehung? 

Frohe Ostern!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 13/2021

So kehret nun wieder, ihr abtrünnigen Kinder, so will ich euch heilen von eurem Ungehorsam. Siehe wir kommen zu dir; denn du bist der HErr, unser Gott.
Jer 3,22

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Ruf ohne Antwort

Früh im Buch Jeremia spricht Gott zu seinen beiden Völkern, Israel und Juda. Israel, das Nordreich mit Hauptstadt Samaria, war reichlich 100 Jahre zuvor von den Assyrern in seiner staatlichen Existenz ausgelöscht worden. Viele Menschen waren deportiert worden, umgekehrt hatten die Assyrer auf dem Gebiet des Nordreichs fremde Völker angesiedelt, deren Nachkommen nun neben den Nachkommen der Hebräer lebten. Juda, dem Südreich mit Hauptstadt Jerusalem, steht ein ähnliches Schicksal durch die Babylonier kurz bevor. Das ganze Buch handelt davon, die ersten Kapitel stehen im Zeichen einer Warnung.

Gott will Israel verzeihen und ruft sein Volk. Die Abschnitte enthalten eine vorweggenommene Vision von der Rückkehr aus dem Exil. Wo sie auch sind, sollen sie kommen und sich in Jerusalem versammeln und dort gemeinsam mit Juda Leuchtturm aller Völker sein. Wer eine frohe Botschaft sucht, kann sie hier finden — noch 100 Jahre nach dem Untergang gedenkt der Herr seines Bundes und seines Volks. 

Im ersten Satz ruft Gott sein Volk, es möge zurückkommen. Im zweiten Satz imaginiert er die Antwort: ein freudiges Ja, verbunden mit tiefer Reue. In der Übersetzung von 2017 lautet der Text im Zusammenhang der folgenden beiden Verse:

Kehrt zurück, ihr abtrünnigen Kinder, so will ich euch heilen von eurem Ungehorsam. »Siehe, wir kommen zu dir; denn du bist der Herr, unser Gott. Wahrlich, es ist ja nichts als Betrug mit den Hügeln und mit dem Lärm auf den Bergen. Wahrlich, es hat Israel keine andere Hilfe als am Herrn, unserm Gott. Der schändliche Baal hat gefressen, was unsere Väter erworben hatten, von unsrer Jugend an, ihre Schafe und Rinder, Söhne und Töchter. So müssen wir uns betten in unsere Schande, und unsre Schmach soll uns bedecken. Den wir haben gesündigt wider den Herrn, unsern Gott, wir und unsere Väter, von unsrer Jugend an bis auf den heutigen Tag, und haben nicht gehorcht der Stimme des Herrn, unseres Gottes.«

Die in der neuen Übersetzung hinzugefügten Anführungszeichen erhellen den Text und verdunkeln ihn zugleich. Sie trennen sauber zwei Ebenen: das Rufen Gottes und die imaginierte Antwort seines Volks. Eigentlich ist beides eines: Gott ruft, weil er diese Antwort erhofft. Wie ein Vater, der nach seinem Kind ruft. 

Der Vers ist tragisch. Die Antwort kommt nicht. Es kommt gar keine Antwort. Vielleicht ist auch niemand mehr da, der antworten könnte. Gott, der Herr der Welt, zeigt sich hier hilflos und verletzlich. Er, dessen Wort die Wirklichkeit schöpft, spricht, und was er sagt, kommt leer zurück. Ich muß an König Lear denken, wie er auf der Heide im Sturm seine Töchter ruft — und Jeremia ist Zeuge, als hilfloser Narr.

Der Herr geleite uns durch diese Karwoche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 38/2020

Da aber Saneballat und Tobia und die Araber und Ammoniter und Asdoditer hörten, daß die Mauern zu Jerusalem zugemacht wurden und daß sie die Lücken hatten angefangen zu verschließen, wurden sie sehr zornig.
Neh 4,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die Stadtmauer Jerusalems — Jerusalem Museum, Januar 2020

Tobe, Welt und springe…!

Die Geschichte einer Heilung. Jerusalem, die entvölkerte und unter den Babyloniern ihrer Elite beraubte Stadt, deren Mauern zerstört waren, füllt sich wieder mit Leben. Unter dem persischen Herrscher Kyros durften die Nachkommen der Exilierten wieder in die einstige Hauptstadt des judäischen Reichs zurückkehren. Mit dem Hohepriester Esra und dem Statthalter Nehemia begann, nach geraumer Zeit, die Konsolidierung und das nation building — aus den Nachkommen der Judäer wurden Juden. Nach diesen Männern sind zwei Bücher der Bibel benannt, die ursprünglich Teile einer einzigen Schrift waren. 

Das große Thema bei Nehemia ist die Stadtmauer. Im Altertum war eine Stadt ohne Mauer schlicht keine Stadt — jeder, der eine Anzahl Bewaffneter aufbrachte, konnte sie berauben und zu Zahlungen pressen. Die Mauer war die Haut der Stadt, ihre Identität, sie unterschied und trennte Innen von Aussen. Hundertvierzig Jahre nach der Eroberung durch die Babylonier war die alte Mauer ein vielfach durchlöcherter, schründiger Trümmerhaufen ohne alle Tore. Eine ergreifende Szene am Anfang des Buchs beschreibt, wie Nehemia nachts heimlich, ohne Begleitung, die Mauer entlang reitet, um sich ein Bild von seiner Aufgabe zu machen. 

Und er stellt sich dieser Aufgabe, unbeirrbar, Schritt für Schritt. Und immer dabei — als Kommentatoren, Spötter, Intriganten und schließlich militärische Gegner sind drei Gegenspieler: Sanbalat, der Horoniter, Tobija, der Ammoniter und Geschem, der Araber. Sie stehen für Fremdvölker, die sich in in den letzten hundertvierzig Jahren im judäischen Land festgesetzt hatten und der Befestigung der Stadt naturgemäß feindlich gesinnt waren. 

Die Mauer heilt und die drei Feindfiguren spiegeln das Geschehen. Die Bewertung der Vorgänge wird im Text nicht durch jubelnde Einwohner Jerusalems verankert, sondern durch die mit dem Fortschreiten des Projekts immer schärfere, ja schließlich panische Reaktion der drei Gegner. Wie bei einem fotografischen Negativ. Das verschafft dem Text Authentizität. Schließlich soll die langsam sich schließende Mauer gegen Feinde schützen, und es wäre kein gutes Zeichen, wenn der Bau sie gleichgültig ließe. 

Im Anschluß an den gezogenen Vers beschließen die drei Feindgestalten, militärisch einzugreifen. Nehemia und die Seinen werden gewarnt und füllen die vielfach noch bestehenden Lücken der Mauer mit Kämpfern aus Fleisch und Blut. Die Fortsetzung des Mauerbaus geschieht dann mit der Waffe in der Hand — die Arbeiter sind bereit, sich umstandslos in eine Armee zu verwandeln. Es fällt schwer, dabei nicht an die ersten Jahrzehnte des modernen Israel zu denken. 

Die drei Feindfiguren als kontrastierende Perspektive in der Ich-Erzählung Nehemias sind sehr wirkungsvoll. Ähnliches findet sich auch in den Psalmen. In der christlichen Kirche werden von alters her Hölle und Teufel so eingesetzt. Ihre Macht, ihre Abwehr und die mit ihnen verbundene Bedrohung erweisen im Umkehrschluss die Größe des Erlösungswerks Jesu Christi. Die Strophen 2 und 3 des Chorals „Jesus meine Freude“ lauten:

Unter deinem Schirmen
Bin ich vor den Stürmen
Aller Feinde frei.
Laß den Satan wittern,
Laß den Feind erbittern,
Mir steht Jesus bei.
Ob es itzt gleich kracht und blitzt,
Ob gleich Sünd und Hölle schrecken:
Jesus will mich decken.

Trotz dem alten Drachen,
Trotz des Todes Rachen,
Trotz der Furcht darzu!
Tobe, Welt, und springe,
Ich steh hier und singe
In gar sichrer Ruh.
Gottes Macht hält mich in acht;
Erd und Abgrund muss verstummen,
Ob sie noch so brummen.

Wer das liest und singt, kann Sanbalat, Tobija und Geschem vor sich stehen sehen… machtlos!

Eine gesegnete Woche wünsche ich uns, ohne alle bösen Feinde,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 32/2020

… und sprach zu ihnen: So spricht der HErr, der Gott Israels, zu dem ihr mich gesandt habt, dass ich euer Gebet vor ihn sollte bringen:…
Jer 42,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Entscheidung

Vor zwei Wochen hatten wir einen Vers zu einem erfolgreichen Neubeginn. Heute geht es um einen Neubeginn, der nicht stattfand. Judäa hat den Krieg gegen Babylon verloren. Das Land ist besetzt, die Hauptstadt zerstört, der Tempel vernichtet. Ein großer Teil der Elite wurde in das Innere des babylonischen Reichs deportiert. Doch im Umland gibt es noch Judäer, und auch einige Familien aus der Oberschicht sind da, die den Nukleus für eine Selbstverwaltung bilden könnten. Die Babylonier setzen Gedalja als Statthalter ein. 

Es gelingt Gedalja, das zivile Leben wieder in Gang zu bringen und mit Erfolg organisiert er die Ernte. Aus den Nachbarländer kehren geflohene Judäer ins Land zurück. Der Beginn einer ganz anderen biblischen Geschichte beginnt sich abzuzeichnen — als Jischmael, ein Verwandter des letzten Königs, Gedalja tötet und ein Massaker an seinen Leuten und an Pilgern anrichtet. Siehe hierzu den BdW 2019 Woche 39

Jischmael wird schließlich von Jochanan überwunden und vertrieben. Aber nun weiß die Gruppe der Überlebenden nicht, was tun. Warten, bleiben, und den Zorn der Babylonier auf sich nehmen? Oder nach Ägypten fliehen, dem Verbündeten im verlorenen Krieg? Sie beschließen, Jeremia zu fragen — was immer dieser auch vom Herrn erfahre, werden sie tun, sagen sie.  

Warten und dem Übel ins Auge sehen oder fliehen? Jeremia nimmt sich viel Zeit. Nach zehn Tagen kennt er die Antwort des Herrn. Unser Vers ist die Einleitung. Im Lauf der späteren Geschichte taten Juden oft gut daran, rechtzeitig zu fliehen. Hier nicht: Der durch Jeremia verkündete Wille des Herrn ist es, dass sie bleiben und das Land wieder aufbauen. Gott sagt ihnen seinen Schutz zu.

Die Männer weigern sich und fliehen, in offener Auflehnung gegen Gottes Wort. Verständlich ist das durchaus. Im Buch Jeremia ist es jedoch eine Art Todesurteil: den Flüchtlingen wird die Vernichtung vorhergesagt. Jeremia geht mit ihnen, und seine Spur verliert sich in Ägypten. 

In Elephantine gab es dort seit der Zeit des Exils über mehrere Jahrhunderte eine bedeutende jüdische Kolonie. Jüdische Religion wurde dort in heterodoxer Welse gepflegt, es gab sogar einen Tempel. mit Opferdienst. Vielleicht hat die Gruppe um Jochanan individuell das richtige getan. Jeremia aber und das nach ihm benannte Buch verurteilen die Flucht. Aus Sicht des Volks war es die falsche Wahl. Der durch Gedalja vorgezeichntete Weg der Erneuerung hätte jetzt gegangen werden können, nicht erst lange Zeit später durch Männer wie Nehemia und Esra, unter ganz anderen Vorzeichen. Mit der Flucht retten die Männer und ihre Familien sich. Das judäische Volk aber gibt sich an dieser Stelle auf.

Was hätten wir getan? Ich bin heute südlich der Elbe am Rand der Altmark mit dem Fahrrad den früheren Todesstreifen abgefahren. In der Zeit dieses Streifens gab es viele Entscheidungen, die individuell richtig waren und kollektiv falsch. Wie zur Zeit Jeremias hatte man vorher in einem langen Krieg den Menschen im Namen des Volks Dinge abverlangt, die das Volk in den Ruin geführt hatten. Druck und Zwang von oben verstärken einen Zwiespalt, dem wir uns ohnehin täglich stellen müssen. Ein Erfolg kann dann auch darin bestehen, dass wir beim Rasieren noch ruhig in den Spiegel gucken können, auch wenn Gott dabei zuguckt.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, die uns Entscheidungen dieser Art nicht abverlangt!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 30/2020

…und drei Reihen von behauenen Steinen und eine Reihe von Holz; und die Kosten sollen vom Hause des Königs gegeben werden;
Esr 6,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Drei Reihen von behauenen Steinen und eine Reihe von Holz

Nach einigen Versen aus den letzten Wochen zum Bau des ersten Tempels und dessen Zerstörung: hier ist einer zum Neubeginn! 

Es geht um die Anlage des zweiten Tempels nach dem Exil. Er wuchs in den folgenden Jahrhunderten zu einer riesigen Kultstätte. Der Anfang aber war klein und bescheiden: drei Reihen von behauenen Steinen und eine Reihe von Holz, lesen wir im Vers.

Was war geschehen? Der persische König Kyros hatte der von den Babyloniern verschleppten judäischen Elite die Rückkehr erlaubt. Die Nachkommen der Verschleppten hatten in Babylon eine neue Heimat gefunden; sie nahmen sogar gesellschaftliche Schlüsselstellungen ein, siehe den BdW 8/2020. Synagogen waren entstanden und Zentren der Gelehrsamkeit. Man muss sich die „Rückkehr“ als einen lange währenden Vorgang vorstellen, der nie ganz abgeschlossen war, wie einen Strom, eine lebendige Verbindung zwischen den Siedlungen jüdischer Intellektueller in Babylon und dem Stammland in Kanaan. Babylon blieb noch mehr als tausend Jahre geistiges Zentrum des Judentums.

Bald nach dem Edikt des Kyros im Jahr 539 v. Chr. wurde von den ersten Rückkehrern dem Gott Israels in Jerusalem ein Altar errichtet, so dass wieder Opfer gebracht werden konnten. Doch dabei blieb es zunächst. Der gezogene Vers beleuchtet den Versuch, auch einen Tempel zu errichten. Es gab spannende administrative Auseinandersetzungen darüber, ob den Juden dies eigentlich erlaubt sein solle oder nicht — hierzu siehe die Betrachtung zum BdW 38/2018. Nach Konsultation der Archive entschied König Darius, dass ein neuer Tempel gebaut werden solle. Wenn es sich um Darius II handelt, dem Nachfolger von Artaxexes, der den Bau des Tempels zunächst untersagt hatte, so geschah dies 423-404 v. Chr. — also mehr als hundert Jahre nach dem Beginn der Rückkehr! 

Aber was haben uns die Geschichten von Errichtung, Zerstörung und neuerlicher Errichtung der Tempelgebäude in Jerusalem eigentlich zu sagen? 

Der Tempel ist Ort der Gegenwart Gottes unter den Menschen. Tempel in diesem Sinne sind die beiden Völker Gottes. Für Johannes ist Jesus Christus der Tempel Gottes. Paulus spricht davon, dass die Gemeinden der Tempel Gottes seien. Und für die Mystiker des Mittelalters ist die Seele selbst, jedes einzelnen Menschen, Wohnsitz Gottes!

Wir lesen also nicht nur von einem Bau aus längst vergangener Zeit, sondern auch vom immer wieder erneuten Willen Gottes, mit seinem Volk zu leben, und dem Versuch der Menschen, ihrem Gott Raum zu geben. Und wir lesen, dass diese Versuche bescheiden und trotzdem erfolgreich sein können. Das ist ermutigend.

Das religiöse Leben in unserem Land unterliegt einem mächtigen Wandel, der durch Corona beschleunigt und aktualisiert wird. Viele Gemeinden werden an den Rand des Untergangs geführt, manche wohl auch darüber hinaus. Aber es wird Neubeginn geben. Und vielleicht ist das der Weg: Drei Reihen von behauenen Steinen und eine Reihe von Holz

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 25/2020

… und ließ Schnitzwerk darauf machen von Cherubim, Palmen und Blumenwerk und überzog sie mit goldenen Blechen.
1 Kö 6,32

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Last night I dreamt I went to Manderley again. It seemed to me I stood by the iron gate leading to the drive, and for a while I could not enter, for the way was barred to me. There was a padlock and a chain upon the gate. I called in my dream to the lodge-keeper, and had no answer, and peering closer through the rusted spokes of the gate I saw that the lodge was uninhabited. No smoke came from the chimney, and the little lattice windows gaped forlorn. Then, like all dreamers, I was possessed of a sudden with supernatural powers and passed like a spirit through the barrier before me. 
Daphne du Maurier, Rebecca. London, Gollancz 1938, p. 1

Last night I dreamt I went to Manderley again.

Der Eröffnungssatz von Daphne du Mauriers „Rebecca“ ist einer der berühmtesten in der ganzen Literaturgeschichte. Der Leser weiss noch nichts und wird von der Träumenden an den Ort des Geschehens geführt. Der Weg wird gezeigt, der zu dem Anwesen in Cornwall führt — alles ist überwuchert und dem Verfall preisgegeben — bis das Haus erreicht ist, der Schauplatz einer schicksalhaften Katastrophe. Der Leser bekommt ein intuitives Wissen um die Katastrophe, lang bevor der Verstand die ersten soliden Anhaltspunkte hat. Hier ist ein Link zu Hitchcock’s Verfilmung aus dem Jahr 1940.

Fast die gleiche Technik verwendet zweieinhalbtausend Jahre zuvor der unbekannte Autor der Königsbücher. Der Tempel ist zerstört, das Allerheiligste geschändet, die Elite der Judäer in Ketten als Sklaven nach Babylon deportiert. Weit von Jerusalem entfernt sitzt er und schreibt, wie alles früher war, wie alles begann. Den Tempel Salomons hat er selbst vielleicht nie gesehen, doch er erzählt, wie das Zentrum der Anbetung gebaut wurde, in einer längst vergangenen Zeit, die in allem so sehr das Gegenteil ist seiner eigenen Gegenwart. Die „Kamera“ seiner Erzählung fährt vom Vorhof des Tempels hinein ins Allerheiligste, den Raum der Einwohnung Gottes, beschreibt die Einrichtung, die Cherubinen darin, fährt wieder hinaus und kann sich doch noch nicht gleich lösen — sie verweilt liebevoll bei der hohen Tür des Allerheiligsten, ihrem Schmuck und der Vergoldung. Dann erst wendet sich die Erzählkamera zur Tempelhalle und zum Vorhof, bevor sie den Tempel verlässt.

Die Königsbücher sind eine Auseinandersetzung mit der großen Katastrophe, dem Untergang des judäischen Reichs, seiner Könige und des Tempels, der einzig rechtmäßigen Stätte für die Anbetung des allmächtigen Gottes, mit dem das Reich doch im Bund war. Wie „um Gottes Willen“ konnte das geschehen? 

Der gezogene Vers ist anrührend: In der Verzweiflung über den unermesslichen Verlust vergegenwärtigt der Erzähler sich das Verlorene, ein Akt, der so schmerzhaft ist wie schön. Er ist Voraussetzung für eine gelingende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und auch der Zukunft. Kannte Daphne du Maurier diesen Abschnitt, als sie die ersten Sätze zu ihrem Buch fand? 

Ich wünsche uns eine Woche im Schutz des Ewigen, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 23/2020

… des Sohnes Abisuas, des Sohnes Pinehas, des Sohnes Eleasars, des Sohnes Aarons, des obersten Priesters.
Esr 7,5

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017

Auf den Trümmern des Alten — Neues beginnen!

Resilienz unterscheidet den, der wieder aufsteht, von dem, der liegenbleibt. Es ist die Fähigkeit, sich von persönlichen oder kollektiven Katastrophen zu erholen und dabei die neuen Gegebenheiten in konstruktiver Weise aufzunehmen.  

Jeremia und Hesekiel erzählen vom Untergang Jerusalems und des judäischen Staats, Esra und Nehemia von Rückkehr, Neubesiedlung und Wiederaufbau, viele Jahre später. Vor rund drei Monaten hatten wir einen Vers aus Esra in unmittelbarer Nachbarschaft des BdW für diese Woche, siehe BdW 08/2020. Persien übernimmt das babylonische Reich und in einer radikalen Abkehr von der Politik der alten Großmacht erlaubt Kyros die Rückkehr exilierter Nationen und gibt religiöse Autonomie. Oben ist der Kyros-Zylinder abgebildet, eine allererste Charta der Freiheit, 2500 Jahre alt. Sie ist nicht das Ende, sondern der Beginn eines langen nation building. Nach Rückkehr einer Anzahl von Familien und Sippen in das zerstörte Jerusalem beginnen Aufbauarbeiten, auch für einen neuen Tempel, und nach vielen Windungen kann der Tempel eingeweiht werden. Es kann losgehen. Aber was kann losgehen? Und wie?

Jetzt erst betritt Esra die Bühne. Er ist mandatiert vom persischen König, der gezogene Vers verleiht ihm aber eine eigenständige Autorität. Der Vers ist Zielpunkt einer Genealogie, die Esra als direkten Nachkommen von Aaron ausweist, des ersten Hohepriesters, von Gott selbst eingesetzt. Ein wenig wie der Papst als Nachfolger Petri. Anders als der Papst teilt Esra seine Stellung mit allen Angehörigen der Priesterkaste. Dennoch wird die Rückbindung an die Fundamente im Text aufwendig durchdekliniert: sie ist für seine Rolle als Erneuerer von großer Bedeutung. 

Es gibt keinen unabhängigen jüdischen Staat mehr. Um so wichtiger ist die religiöse Identität, die auch rechtliche, soziale und kulturelle Identität umfasst. Esra kehrt zu den Wurzeln zurück, und schafft dabei radikal Neues. Bis zum Exil war der Gott der Herr einer unter mehreren im Land der Hebräer: daneben wurden Gottheiten wie Baal und Astarte verehrt und ihre Feste gefeiert, nicht nur vom Volk, sondern ganz offiziell auch am Königshof. Es gab gar die Vorstellung, Jahwe sei der Gefährte Astartes. Die kanaanäischen Gottheiten hatten Altäre im Jerusalemer Tempel. Und dieser Tempel war nur einer unter mehreren, geopfert wurde zudem an vielen heiligen Stätten ausserhalb der Ortschaften. 

Esra knüpft an die Vergangenheit an und macht gleichzeitig nachhaltig Schluss mit ihr. Unter ihm erhält das Judentum in groben Umrissen die Gestalt, die es zur Zeit Jesu hatte. Ein Gott und sein eines Volk, ein Tempel, eine Opferstätte! Nach der Zerstörung des zweiten Tempels wiederholt sich die Geschichte auf merkwürdige Weise unter anderen Vorzeichen. Die Juden werden zerstreut, sammeln sich aber geistig und schaffen mit dem Talmud die Grundlagen für ein neues Judentum: dasjenige, welches wir heute kennen. Eine scheinbar konservativ ausgerichtete Identität, die aber ohne Tempel auskommt, ohne Opfer, körperlos beinahe, ohne feste Orte. Diese Identität ist auf ein Leben inmitten vieler Völker ausgerichtet ist und betont die Familie und den Zusammenhalt. 

Wenn wir nach einer Katastrophe verstehen, was unverzichtbar ist, wird gleichzeitig klar, was wir über Bord werfen können, damit Leben und Wachstum möglich bleiben. 

Corona bedroht die Gemeinden im Kern. Gemeinschaft ist für Gemeinde unverzichtbar, das sagt schon das Wort. Darin liegt die Herausforderung. Wie wir Gemeinschaft leben können, müssen wir jetzt neu finden, Schritt für Schritt. Viel von dem, was Gemeinde ausmacht, wird in der Diskontinuität untergehen: Chöre, Gruppen, Gebetskreise. Vielleicht geht der Gottesdienstbesuch nochmals radikal zurück. Wenn in einigen Monaten das ganze Ausmaß des Schadens offenbar wird, müssen wir bereits verstanden haben, was unverzichtbar ist und wie wir es in einer neuen Zeit leben. Resilienz eben! 

Heute ist Pfingsten, das Fest des Heiligen Geists, den der Herr uns schickt. Wie vor 2000 Jahren wird auch Schawuot gefeiert, das Fest der Gabe der Torah. Die Jünger Jesu trafen sich in Jerusalem, um dieses Fest zu feiern. Aber sie hatten ihren Rabbi und Messias verloren — die Grundlage ihrer Gemeinschaft. Erfüllt vom Geist blieben sie zusammen und konnten ihre Kräfte auf die neue Zeit ausrichten. Meine Gemeinde hat heute Gottesdienst gefeiert. Nicht viele, dreiundzwanzig Menschen mit Gesichtsmasken. Großer Abstand, kein Gemeindegesang, keine Gespräche mit Kaffee und Kuchen. Eine Predigt gab es, ein Gebet, ein Interview und den Segen. Ein ganz kleines Musikteam war da, und ich sang „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ — der Geist möge uns leiten auf der Rückkehr zum Vater. Es war ein schöner, ein intimer Gottesdienst. Anders, an die neuen Umstände angepasst: Gut.

Ich wünsche uns ein frohes Pfingstfest – וחג שמח שבועות!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 16/2020

Und wenn ihr schon schlüget das ganze Heer der Chaldäer, so wider euch streiten, und blieben ihrer etliche verwundet übrig, so würden sie doch, ein jeglicher in seinem Gezelt, sich aufmachen und diese Stadt mit Feuer verbrennen.
Jer 37,10

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Ruhe vor dem Sturm

Die Auseinandersetzung des judäischen Reichs mit der babylonischen Supermacht nähert sich dem Höhepunkt. Nebukadnezar hatte zuvor den widerspenstigen Vasallen bereits einmal zur Raison gebracht — er war in Jerusalem einmarschiert, hatte viele Bewohner als Gefangene weggeführt, einen Teil des Tempelschatzes geplündert und einen neuen König eingesetzt, Zedekia. Zum Amtsantritt schwor er Nebukadnezar einen Treueeid. Aber nach einigen Jahren schon will sich Zedekia sich selbständig machen — er baut auf die Unterstützung Ägyptens, des strategischen Gegners von Babylon und stellt die Tributzahlungen an Babylon ein. Nebukadnezar reagiert schnell und eilt mit einem Heer nach Judäa, besetzt das Umland und belagert Jerusalem.

Der Prophet Jeremia warnt schon lange Zeit vor dem Ränkespiel Zedekias, mit Visionen, die immer dringlicher und katastrophaler werden. Er zieht damit den Hass des Königs und der politischen Elite auf sich. Immer stärker gerät er unter Druck. Am Ende muß er in einer mit Schlamm gefüllten Zisterne um sein Leben kämpfen, so wie im Großen die eingeschlossene, untergehende Stadt.

Aber vor diesem Endspiel gibt es eine eigenartige Entspannung, ein retardierendes Moment. Die Ägypter nämlich halten ihre Zusage ein und schicken dem babylonischen König ein großes Heer entgegen. Nebukadnezar vermeidet die offene Schlacht, zieht sich ins Umland zurück und wartet einfach ab. Jerusalem ist scheinbar wieder frei.

Zedekia schickt Emissäre zu Jeremia. Vielleicht haben sich die schrecklichen Visionen Jeremias der neuen Situation angepasst? Vielleicht lässt sich der Bruch mit dem wortmächtigen und bekannten Propheten nun heilen?

Nein, sagt Jeremia, nichts da, der Untergang ist beschlossen, das Schicksal Jerusalems steht fest. Selbst wenn es den Truppen Judäas gelänge, die Babylonier in der Feldschlacht zu schlagen — ein Ding der Unmöglichkeit angesichts der Kräfteverhältnisse –, so würden die verwundeten Feinde aus ihren Zelten sich erheben wie Zombies und die Stadt dennoch niederbrennen!

Das klingt endzeitlich, und so ist es auch gemeint. In Jer 32-38 lassen sich die Bilder, die Jeremia in sich trägt, in der Auseinandersetzung mit Gott nachvollziehen. Die Prophezeiungen zum Untergang der Stadt ist unbedingt geworden, nicht wie früher an das Verhalten der Bewohner geknüpft. Aber genauso unbedingt mischt sich nun ein zweiter Klang in den ersten: die Stadt wird neu gebaut, wird wieder aufstehen, man wird (Jer 33,11) darin wieder hören den Jubel der Freude und der Wonne, die Stimme des Bräutigams und der Braut und „Und ich will einen ewigen Bund schließen, dass ich nicht ablassen will, ihnen Gutes zu tun, und will ihnen Furcht vor mir ins Herz geben, dass sie nicht von mir weichen“ (Jer 32,40).

Dieser Zweiklang eigentlich unvereinbarer Töne ist die bleibende Botschaft Jeremias — beide Teile dieser Botschaft haben sich erfüllt und erfüllen sich immer wieder neu, auch in unserem persönlichen Leben. Sie sind wie Karfreitag und Ostern, unvereinbar und doch untrennbar.

Ich wünsche uns eine gesegnete Osterwoche in unserer belagerten Zeit, 
Ulf von Kalckreuth