Bibelvers der Woche 42/2021

Und setzten sich nieder, zu essen. Indes hoben sie ihre Augen auf und sahen einen Haufen Ismaeliter kommen von Gilead mit ihren Kamelen; die trugen Würze, Balsam und Myrrhe und zogen hinab nach Ägypten.
Gen 37,25

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Zweimal Knechtschaft und zurück

Der Vers markiert eine der Gabelungen, aus denen sich die biblische Geschichte aufbaut. Die Ausgänge dieser Wegscheiden, Wendungen, Entscheidungen sind oft überraschend und lassen sie insgesamt als von Gott geschrieben erscheinen.

Josef wird von seinen Brüdern gehasst und sie haben sich seiner gewaltsam bemächtigt. Er ist anders als sie, ein Träumer und Visionär, und von ihrem Vater wird er offenkundig bevorzugt. Ruben, der Älteste, will ihn dennoch retten. Auf seine Intervention hin töten ihn die Brüder nicht sofort, sondern werfen ihn erst einmal in ein leeres Wasserloch. Ruben verlässt die Szene, wir erfahren nicht, warum. An dieser Stelle wird die Handlung gänzlich unbestimmt. Wird er sterben, wird er leben? Josef ist unten im Wasserloch, oben sind die Brüder und essen. Die Zeit steht still. 

Da heben sie ihre Augen auf — in der Bibel ist dies der Code für eine unmittelbar folgende schicksalhafte Wendung. Sie sehen ismaelitische Händler, eine Kamelkarawane, die von Gilead im Norden nach Ägypten im Süden zieht. „Warum Josef töten und an ihm schuldig werden? Wir verkaufen ihn!“ Sie ziehen ihn aus der Grube und geben ihn den Händlern für einen ordentlichen Preis, zwanzig Silberstücke. Sie mögen der Karawane noch eine Weile nachgesehen haben: Josef würde nie zurückkommen, und wie lange er in der Sklaverei zu leben hätte, war eigentlich gleichgültig… 

Aber an dieser Stelle beginnt eine ganz andere, eine ganz große Geschichte: Josef wird nach Ägypten gebracht, der Träumer macht dort eine unglaubliche Karriere, die ihn zum Manager macht, ins Gefängnis bringt und endlich ins Amt eines Vizekönigs von Ägypten führt. In vielen Wirrungen holt er seine Brüder nach, sie ziehen fort aus Palästina. Ihre Nachkommenschaft wächst und wird in Ägypten zu einem ganzen Volk, dem Volk Israel. 

Obwohl wir Entscheidungen treffen, schreibt Gott die Geschichte, sagt uns die Bibel hier, weil wir die Konsequenzen unserer Entscheidungen nicht überblicken. Die Erzählung von Josef in Ägypten mag völlig aus der Luft gegriffen erscheinen. Und doch kenne ich eine ähnliche Begebenheit, die sich in der Vergangenheit unserer Familie wirklich zugetragen hat. Ich will Ihnen das erzählen. 

Unsere Familiengeschichte berichtet von Caspar von Kalckreuter, Gutsherr in der Niederlausitz und Soldat — letzteres, wie es scheint, aus freiem Willen. Nach dem Dreissigjährigen Krieg kämpfte Schweden mit dem Vereinigten Königreich von Polen und Litauen um die Vorherrschaft im Nordosten. Die Preußen hatten sich unter dem Großen Kurfürsten aus dem polnischen Verband gelöst und waren mit den Schweden verbündet, die Polen hatten ihrerseits ein großes Tatarenheer als Unterstützung. Der große Kurfürst war auch Markgraf der Lausitz. Caspar zog also 1656 im Alter von 30 Jahren mit den Preußen gegen Polen und Tataren.

Am Michaelistag, Anfang Oktober, kam es zu einer katastrophalen Niederlage. Caspar wurde von den Tataren gefangengenommen, nackt ausgezogen und mit den anderen Gefangenen misshandelt. Den Gefangenen wurde nachts die Füße zwischen zwei Bretter gebunden und an der Erde befestigt, und gelegentlich legten sich die Tataren quer über die Gefangenen. Mit dem Hauptheer der Tataren gelangte er an den Dnjepr. Im strengem Winter hütete er Schafe und putzte die Pferde. 

Mit dem schweifenden Heer kam er schließlich ins Donaudelta, wo er einem türkischen Sklavenhändler verkauft wurde. Dieser brachte ihn nach Konstantinopel und verkaufte ihn auf dem Sklavenmarkt weiter. Caspar gab sich seinem neuen Herrn, einem Kaufmann, als Schotte aus und mußte zunächst einfache und harte Arbeit verrichten. Mit der Zeit wurde er des Kaufmanns Gehilfe. Sein Herr gab ihm die Erlaubnis, sich freizukaufen und setzte den Preis erst auf 1000, dann auf 500 Taler fest. Im Auftrag seines Herrn führte Caspar mehrere Seereisen durch. Eine davon ging nach Ägypten (!), den Nil hinauf. Erst nach abenteuerlichen Wegen und Umwegen gelangten sie zurück nach Konstantinopel, sein Herr hatte das Schiff verlorengeglaubt. Es gelang Caspar, Kontakt mit dem Gesandten des Deutschen Reichs aufzunehmen, der half, das fehlende Geld von Caspars Bruder zu besorgen. Sein Herr bat ihn sehr, zu bleiben und Muslim zu werden, und auch der Kadi, der ihm am Kai den Freibrief überreichte, wollte ihn halten. Aber er machte sich auf den weiten Weg zurück.

Zu Pfingsten 1660 schließlich, dreieinhalb Jahren nach seiner Gefangennahme, gelangte er in seine Heimat in der Niederlausitz. Er war gesundheitlich angeschlagen und die Familiengeschichte gibt das Bild einer posttraumatischen Belastungsstörung wieder: 

Es ist aber der von Kalckreuter nach seiner Wiederkunft nicht mehr so gesund, so schön und so fröhlich als vorher gewesen. Er konnte sich die harte, unvermuthete Dienstbarkeit nicht gänzlich aus dem Gemüte schlagen. Auch litt er öfter unter bösen Vorstellungen, weshalb er einst im Winter bei tiefem Schnee ohne Kleider aus dem Bette gesprungen und sich eine halbe Meile entfernt an einem anderen Orte versteckt hat, worüber er in eine gefährliche Krankheit gefallen. — Endlich hatte er fast alles vergessen, wo er gewesen war.
(Aus dem Bericht von Johann Magnussen, ev. Prediger zu Albrechtsdorf, 1679)

Vizekönig ist Caspar nicht geworden bei den Tataren und in der Türkei, nein. Aber er besaß die Kraft, weiterzuleben und durchzuhalten, als die Lage ausweglos war, und die Klugheit, seine Möglichkeiten zu nutzen, als sie sich ihm, nach langer Zeit, endlich zeigten. Mit Gott blieb er stets verbunden: als einziges Besitztum war ihm ein Gebet- und Gesangbuch geblieben, das „Lüneburger Handbüchlein“, mit dem Neuen Testament, dem Katechismus und den Psalmen — eine Kostbarkeit im 17. Jahrhundert! Die Türken ließen ihn ungehindert darin lesen. 

Der gezogene Vers handelt von der Unbestimmtheit, die in vielen persönlichen Katastrophen steckt. Unversehens habe ich nun darüber geschrieben, wie man damit umgehen kann. Ich glaube, es ist eine mächtige Überlebensstrategie. Weiterleben und durchhalten, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, und warten. Mit Gott im Gespräch bleiben. Und dann die Chancen begrüßen, wenn sie kommen — falls sie kommen. Wie Josef. Wie Caspar. 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 41/2021

Freuet euch in dem Herrn allewege! Und abermals sage ich: Freuet euch!
Phi 4,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Freude!

Vor etwas mehr als einem Jahr zogen wir einen Vers, der diesem hier unmittelbar folgt: Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen! der Herr ist nahe! (Phi 4,5), und damals betrachtete ich beide gemeinsam. Hier ist ein Link zum BdW 34/2020. Das ist nicht lange her, es stimmt noch alles, einschließlich leider auch der Probleme mit dem Rücken und der Erziehung. Der Vers zeigt einfach und unmißverständlich, ob jemand auf dem richtigen Weg ist. Dann nämlich geht Freude von ihm aus — sichtbar, spürbar — dann kann er ein Segen für die Welt sein. Wir dürfen uns freuen, wir sollen es sogar, Gott will es so, will uns so. Die Frohe Botschaft trägt ihren Namen aus gutem Grund. Und umgekehrt: wenn man unfroh ist, läuft etwas, läuft man falsch. 

Da es die Betrachtung zum Bibelvers dieser Woche also schon gibt, darf ich aufschauen und den Blick weiten. Und da sehe ich, dass wir in den vergangenen Wochen Verse gezogen habe, die jeweils eine Essenz des Glaubens auf einen einfachen und lebenspraktischen Nenner bringen — zum Anfassen gewissermaßen:

  • Vor zwei Wochen wurden wir aufgefordert, unseren Nächsten, gar unseren Feind zu lieben. Ihn in seiner Mitgeschöpflichkeit zu sehen und die eigenen Interessen nicht automatisch höher zu bewerten als die Bedürfnisse des Anderen.
  • Vor einer Woche gab es einen Vers, der uns den Schatten der Flügel Gottes als Zufluchtsort bot, in persönlicher Not, bei Verzweiflung, Lebens- und Todesangst.
  • Und der Vers dieser Woche sagt uns, dass der Weg mit Gott in Freude mündet: Freude aus Gott, die wir nicht nur empfangen dürfen, sondern aktiv weitergeben können. 

Mir scheint, die drei Verse und die damit verbundene Haltung charakterisieren den christlichen Glauben, und zwar im Ergebnis. Ein Menschen, der so lebt, folgt Jesus, auch wenn er ihn nicht kennt. Immer wieder habe ich mich in dieser Woche gefragt, welcher dieser drei Verse der richtige sei, wenn ich traurig war oder in Schwierigkeiten steckte. Die Antwort war stets einfach. 

Dabei sind die Verse selbst sehr anspruchsvoll, jeder für sich. Über Nächsten- und Feindesliebe brauche ich nichts zu sagen. Dann aber: wer von uns weiß sich unter den Schatten der Flügel Gottes jederzeit geborgen? Auch das sagt uns Jesus immer wieder: sorgt euch nicht, der Vater sorgt für euch! Aber die Sorge ist ziemlich fest verdrahtet in uns. Und Freude ist wahrhaftig nicht immer leicht — ich will es hier nicht ausbuchstabieren, das würde die Freude verderben, aber gelegentlich grenzt Freude durchaus an Realitätsverweigerung. Das ist mit allen drei Versen so: sie enthalten ein lautes „Trotzdem!“

Was macht den Kern des Glaubens aus? Kanonische Versuche, das Unsagbare in Worte zu fassen, sind die Glaubensbekenntnisse. Sie sind nicht leicht zu lesen und zu verstehen. Wichtiger als Aussagen und ihre logischen Beziehungen zueinander ist das, was daraus folgt, für unser Leben, das der anderen und unser Verhältnis zu Gott. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Wahrheit unerkennbar ist. Paulus fand dafür das Wort vom dunklen Spiegel, durch den wir blicken. Für die eine, unerkennbare Wahrheit können wir Bilder, Vorstellungen und begriffliche Konstrukte suchen. Sie sind dann gut, wenn sie zu richtigem Sein, zu richtigem Handeln führen. Sie sind Stützen, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Was zählt, ist die Haltung, die innere Verfasstheit, die mit diesen Vorstellungen einhergeht und wechselwirkt. Der Rest ist Theologie.

Mein Credo könnte also lauten: In Jesus Christus will ich ein Mensch sein, der das Mitgeschöpf im Anderen sieht, auch wenn er ihm fern steht, der sich geborgen weiß unterm Schatten der Flügel Gottes, und der dem Leben, seinen Mitmenschen und seinem Gott — und schließlich auch seinem Tod — mit Freude begegnet, innerlich und äußerlich. 

Wenn Sie Zeit und Ruhe haben, gehen Sie in sich und versuchen Sie, sie zu spüren, die Freude. Sie ist da, in Ihnen, sie will gefunden werden!

Ich wünsche uns Freude, und die Fähigkeit dazu, in der kommenden Woche und immer!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 28/2021

Dies ist das Geschlecht des Perez: Perez zeugte Hezron;
Ruth 4,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Mikroschicksal und Makrokosmos

Im Februar 1945 floh meine Großmutter mit ihren drei Kindern vor den Russen aus Niederschlesien und zog über Monate im Treck durch ein zerstörtes und eisig kaltes Deutschland, bis sie mit den Kindern in Laupheim ankam, einer kleinen Stadt in Südwestdeutschland. Dort lebten jüdische Verwandte, verschwägert über die Schwester ihres Mannes, meines Großvaters. Über dessen Schicksal wusste sie zu diesem Zeitpunkt nichts. Sie befand sich in einer Lage, die der von Naomi und Rut sehr glich.

Das Buch Ruth spielt in der mythischen, vorstaatlichen Zeit Israels. Rut ist Vorfahrin Davids. Sie ist keine Israelitin, sie gehört dem verachteten Volk der Moabiter südöstlich der Kernlande Israels an — im ‚Bibelvers‘ der letzten Woche waren wir ihnen begegnet. Das Buch erzählt, erdig und herb, ein Flüchtlingsschicksal zweier Frauen. Elimelech, ein Mann aus Bethlehem, flieht vor einer Dürre in das Nachbarland Moab. Die Wanderung mißlingt: er und seine beiden Söhne sterben. Seine Frau Naomi zieht gemeinsam mit Rut, einer der beiden moabitischen Schwiegertöchter, zurück ins israelitische Heimatland. Sie hofft, dort Nahrung und Hilfe zu finden. Ruth begleitet Naomi, obwohl sie Moabiterin ist und sie zu ihrer eigenen Familie zurückkehren könnte. 

In Bethlehem sind die beiden gänzlich auf das Wohlwollen ihrer Umgebung angewiesen. Es gibt eine unklare Pflicht der nächsten Verwandten Elimelechs, als ‚Löser‘ zu fungieren, sonst haben sie keine Ansprüche. Es ist Erntezeit, sie haben Hunger, und Rut beginnt, das Korn aufzulesen, das bei der Ernte liegengeblieben war — das Recht der ganz Armen, siehe BdW 48/2019. So lernt die junge Frau den reichen Bauern Boas kennen und gerät in völlige Abhängigkeit von ihm. Sie schlafen miteinander. Einen langen Moment bleibt die Geschichte in der Schwebe und scheint in sexuelle Ausbeutung münden zu wollen. Aber Boas entscheidet sich, die Rolle des ‚Lösers‘ anzunehmen und füllt sie aus, indem er Rut heiratet. Das Kind der beiden wird Großvater Davids. Der gezogene Vers berichtet die Ahnreihe Davids als makrokosmischer Nachtrag zur mikrokosmischen Geschichte Ruths. Der Nachtrag bindet die Geschichte der beiden Flüchtlingsfrauen an die große Welt der biblischen Erzählung an. 

In der Torah und den Geschichtsbüchern des Alten Testaments durchdringen sich Makrokosmos und Mikrokosmos auf eigentümliche Weise: es werden Einzelschicksale berichtet, diese aber haben zugleich Bedeutung für große Gruppen in der Zukunft. Die Personen sind Teil einer Ahnreihe, oder sind gar Stammväter oder -mütter ganzer Völkerschaften. Was sie tun, hat Bedeutung für alle diese Nachkommen, auch Könige oder Völker.

Unsere jüdischen Verwandten in Laupheim hatten den Naziterror wie durch ein Wunder überlebt, und es ging ihnen den Umständen entsprechend sehr gut. Als meine Großmutter mit den Kindern  bettelarm in Laupheim ankam, nahmen sie die kleine Familie herzlich auf und ermöglichten ihr einen neuen Start. Unbewusst mag dabei neben vielem anderen auch die Erinnerung an das Buch Rut mitgeschwungen haben. Und auch hier: was geschah, hat Folgen bis heute. 

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 23/2021

Ich will euch von aller Unreinigkeit losmachen und will dem Korn rufen und will es mehren und will euch keine Teuerung kommen lassen.
Hes 36,29

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Aspekte des Heils

Auch bei zufälliger Ziehung bilden sich Cluster — manche Ergebnisse liegen so nahe beieinander, dass sie systematisch wirken. Es gibt ein eigenes Wort dafür: Clustering-Illusion. Im Zweiten Weltkrieg versuchten die Menschen in London die Regel zu verstehen, nach der deutsche V2-Raketen in Londoner Stadtgebieten einschlugen, oder eben auch nicht einschlugen. Man beobachtete Häufungspunkte und diskutierte sie. Die Kenntnis einer Regel, eines Systems, wäre sehr wertvoll gewesen. Aber noch während des Kriegs konnte ein Statistiker zeigen, dass das Muster der Einschläge nicht von dem abwich, was eine rein zufällige Streuung erwarten ließ. Für Interessierte ist hier ein Link, die Veröffentlichung aus dem Jahr 1946 umfasst nur eine einzige Seite. 

Diese Geschichte fiel mir ein, als ich den neuen Vers sah. Er steht unmittelbar neben dem Bibelvers der Woche 42/2020, die Betrachtung dazu führt in den Kontext ein und ist hier unmittelbar relevant. Jerusalem ist gefallen und zerstört und der Prophet Hesekiel, weit entfernt im babylonischen Exil, erhält davon Kenntnis. Die Tonlage seiner Prophetie ändert sich drastisch — vor das drohende Unheil tritt nun dominierend die Vision vom künftigen Heil. Jenseits aller Cluster-Illusion ist das übrigens ein echtes Muster in der Bibel: in guten Tagen scheint Verhängnis auf, im Abgrund aber, im Dunklen, das Heil. Die Bibel ist beides, Mahnung und Versprechen, sie ist nicht nur frohe Botschaft. 

Unser Vers oben greift zwei Aspekte des Heils heraus, die unverbunden scheinen, aber ich denke, sie gehören zusammen. Wir werden rein sein, spricht der Herr, und wir werden frei sein von dringender materieller Not. Der Herr wird das Korn rufen. Statt „Teuerung“ steht im hebräischen Original „Hunger“. Für Luther war es ein und dasselbe: In Hungerzeiten waren Nahrungsmittel knapp und daher teuer und für viele Menschen unerschwinglich. In der vorvergangenen Woche stießen wir auf eine Geschichte, in der Menschen weite Wege gingen in der Hungersnot. 

Ich will euch von aller Unreinheit losmachen…

Wir werden rein sein, sagt der erste Teil des Verses. Da kann einem „Heiligung“ in den Sinn kommen, aber vielleicht ist es auch sehr konkret, sehr physisch gemeint. Nachdem ich den Vers gezogen hatte, am vergangenen Sonntagmorgen, überlegte ich mir, was „Reinheit“ bedeutet, woran ich sie bemerken könnte, wenn sie plötzlich da wäre. Ich wäre diese unerträglichen Schmerzen im Ischias los, fiel mir sofort ein, mein Rücken wäre frei! Das war das erste. Gleich darauf noch eine andere Vorstellung: ich könnte jeden Ton in mir bilden, als freie Luftsäule, die meinen Leib mit der Aussenwelt verbindet, Aussenwelt und Innenwelt eins macht. Die Konkretheit dieser Bilder überraschte mich, aber man muß die Bedingtheit sehen: ich war zu Fuß unterwegs mit einem Bandscheibenschaden, um den Gottesdienst vorzubereiten, und auf dem Weg versuchte ich, mich einzusingen. Am frühen Morgen ist das schwierig, entsprechend gab es erstaunte Blicke. 

Anderen Menschen hätten andere spontane Assoziationen: eine peinvolle Regelblutung vielleicht, Pornokonsum, Esstörungen, Rauchen, Alkohol. Reinheit bedeutet letztlich Unversehrtheit: geistig, seelisch und spirituell. Tatsächlich aber hat sie in der Bibel eine wichtige körperliche Dimension, das zeigen auch die Betrachtungen zu den Bibelversen der Wochen 42/2019 und 43/2019, ein anderes Cluster. Sünde und Krankheit sind in der Bibel eng verwandt, eigentlich zwei Seiten ein und derselben Sache.

…und will dem Korn rufen und will es mehren…

Wie schön ist das gesagt! Der Herr schafft, indem er spricht. Hier geht es um die physischen Voraussetzungen. Reinheit kann es nur geben, wo die dringendsten Bedürfnisse gestillt sind. Not kennt kein Gebot, lautet das Sprichwort, und in der Not frisst der Teufel Fliegen. Wenn Reinheit Unversehrtheit ist, dann hat sie viel mit Sicherheit vor materieller Not zu tun. Die katholische Soziallehre weiss das. Caritas und Seelsorge ist nicht dasselbe, aber sie sind eng verwandt. 

In meiner kleinen Selbsterfahrung am vergangenen Sonntagmorgen habe ich dann versucht, Reinheit einzuatmen, in mich aufzunehmen, in und durch meine blockierte Wirbelsäule. Und wirklich wurde das Gehen leichter und der Ton freier, und es wurde ein schöner Gottesdienst. Unten ein Bild vom Wege. 

Was würde es bedeuten, von aller Unreinheit losgemacht zu sein? Am Ende mag Reinheit in Unschuld münden, wie bei einem Kind, Unschuld vor Gott als Geschenk Gottes, das wir uns selbst nicht zu schaffen vermögen.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche. 
Ulf von Kalckreuth 

Bild vom Weg, 30. Mai 2021, Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 22/2021

…was zu meiner Haustür heraus mir entgegengeht, wenn ich mit Frieden wiederkomme von den Kindern Ammon, das soll des HErrn sein, und ich will’s zum Brandopfer opfern.
Ri 11,31

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Abgründe und Trauer

Unser Vers ist der zweite Teil eines Gelübdes, er sagt, was geschehen soll, wenn die im ersten Teil genannte Bedingung eintritt. Jeftah (oder Jiftach) ist regionaler Führer und will den Widerstand gegen einen Einfall der Ammoniter in die Landschaft Gilead in Gad organisieren. Er ist Sohn des Fürsten von Gilead, gezeugt allerdings mit einer Hure und daher von der Familie verstoßen. In der Verbannung lebt er als Freibeuter, ähnlich wie David nach seiner Flucht vor Saul.

In der Not nun rufen ihn die Ältesten von Gilead und bieten ihm Herrschaft an: militärische Herrschaft jetzt und politische Herrschaft später. Jeftah hat wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Vor den Schlachten wendet er sich an den Herrn, hier ist das ganze Gelübde im Zusammenhang (in der Übersetzung von 2017): 

Und Jeftah gelobte dem Herrn ein Gelübde und sprach: Gibst du die Ammoniter in meine Hand, so soll, was mir aus meiner Haustür entgegengeht, wenn ich von den Ammonitern heil zurückkomme, dem Herrn gehören, und ich will’s als Brandopfer darbringen. (Ri 11, 30+31)

Er gewinnt die Schlachten und demütigt die Ammoniter, er kehrt siegreich heim. Und es kommt ihm seine Tochter entgegen, sein einziges Kind, eine junge Frau in heiratsfähigem Alter, tanzend, mit der Handpauke, dem Musikinstrument der jungen Mädchen!

Jeftah muß mit einem solchen Ausgang gerechnet haben — der hebräische Text wäre besser mit „wer mir entgegenkommt“ übersetzt. Sonderbar genug aber macht er seiner Tochter Vorwürfe. Sie weist seine Klage zurück und erinnert ihn, dass er es war, der das Gelübde getan hatte. Sie akzeptiert ihr Schicksal, bittet aber, zwei Monate lang in die Berge gehen zu können, um mit ihren Freundinnen zu trauern. Danach könne das Opfer gebracht werden. Und so geschah es.  Wenn ich richtig lese, starb sie von des Vaters eigener Hand.

Der Vers und die Geschichte treffen auf eine Tiefenschicht unseres kollektiven Unterbewusstseins. Ganz ähnliche Begebenheiten werden aus sehr unterschiedlichen Quellen berichtet. Das singende springende Löweneckerchen ist ein Märchen der Gebrüder Grimm, und Idomeneus eine griechische Sagengestalt. 

Ein Führer im vorstaatlichen Israel, ein Richter, opfert dem Herrn sein Kind. Es gibt in der Bibel einige Parallelen. In 2. Kö 3 ist es ein moabitischer König, der in höchster Not seinem Gott Kemosch den ersten Sohn opfert, um die Israeliten zurückzuschlagen — gleichfalls mit Erfolg. Ahas und Manasse, Könige von Juda, opfern ihre Söhne fremden Göttern. Auf Gottes Geheiß soll Abraham seinen Sohn opfern und er ist bereit dazu, nur Gottes Eingreifen rettet Isaak. In Sam 21 liefert David sieben Söhne Sauls den Gibeonitern aus, einem nichtisraelitischen Sassenvolk, damit diese ihre Feinde Gott zum Opfer bringen können. Und die Schilderung des furchtbaren Feldzugs der Israeliten gegen die Midianiter in Num 31 ist an einer wichtigen Stelle ambivalent, siehe den BdW 19/2019.

Menschenopfer sind in der hebräischen Bibel streng untersagt, und sie werden als Greueltaten dargestellt. Es ist jedoch möglich, dass dies nicht immer so gesehen wurde. Im kulturellen Umfeld Israels waren Menschenopfer etwas Natürliches: Opfer ist Kommunikation mit der Gottheit und die höchste Opfergabe war ein Mensch. Wie Baal erhebt der Gott der Israeliten an vielen Stellen des Tanach Anspruch auf den erstgeborenen Sohn, anders als für Baal muss dieser Anspruch allerdings durch ein Tieropfer ausgelöst werden. 

Es fällt mir nicht leicht, darüber zu schreiben, und ich kann für mich nicht klären, ob und mit welcher Regelmäßigkeit in frühester Zeit auch Menschen für Gott geopfert wurden — ganz sicher aber spielten menschliche Opfer eine Rolle in den vielfältigen Vorstellungen, aus denen sich erst die jüdische und dann die christliche Religion herausbildete. Ohne diese uralten Muster im spirituellen Genom könnten Christen nicht in einem Opfer die höchste Erlösungstat erkennen, dem Tod eines eingeborenen Sohns.

Wenn man nun die Geschichte von Jeftah und seiner Tochter noch einmal liest, mag man diese vielgestalte Vorstellungswelt erfühlen, und dann verschwimmen plötzlich die Grenzen zwischen „unserem“ Gott, dem Gott der Israeliten, und den anderen Göttern dieser Zeit. Und da ist sie, die schöne Tochter Jeftahs, wir kennen ihren Namen nicht, wie sie ihrem Vater lachend mit der Handpauke entgegentanzt und sich damit um ihr junges Leben bringt. Ich kann sehen, wie sie mit ihren Freundinnen in die kargen Berge Gileads zieht, um Abschied zu nehmen vom Leben — unendlich kostbar, mit dunklen Augen und schmalem Gesicht unter der Sonne Palästinas, auf einem Esel, angetan mit dem Goldschmuck ihres Vaters und begleitet von seinen bewaffneten Knechten, sie zu schützen und zu bewachen.

Am Ende des biblischen Berichts ist die Rede von alljährlichen Trauertagen für die namenlose Tochter Jeftahs, ausgerichtet von den jungen Mädchen Israels. Ja, manchmal ist es gut zu trauern. Gerade auch über das, was auf dem Weg liegt, der dorthin führt, wo wir stehen. Jetzt und hier.  

Der Herr behüte diesen Weg,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 34/2020

Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen! der Herr ist nahe!
Phi 4,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Good Vibrations

Das schöne, aber nur selten noch gebrauchte Wort „lind“ steht im Duden für sanft, zart, angenehm, mild, nicht rauh oder kalt. „Lindigkeit“ kennt das Wörterbuch nicht. Das ist kein Wunder: Martin Luther hat das Wort eigens für diesen Vers erfunden. Nirgends sonst in seiner Übersetzung taucht es auf, so wie in der Bibel das griechische Wort Epikeinä (Nachsicht, Milde, Sanftmut, Huld) in dieser Form auch nur hier nachgewiesen ist. Dieser Solitär war Luther wichtig genug für eine eigene Wortschöpfung. In der neuen Übersetzung von 2017 steht jetzt „Güte“. Das ist weniger sperrig, aber ein Teil der Bedeutung, vielleicht der wichtigere, geht verloren. Phi 4, 4+5 lauten gemeinsam: 

Freuet euch in dem HERRN allewege! Und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen! der HERR ist nahe!

Als Volk Gottes sind wir zum Herrn befreit, und eine abweisende, lebensverneinende Grundhaltung ist uns NICHT auferlegt, anderslautenden Gerüchten zum Trotz. Sie verdunkelt das Zeugnis — Sieht so Gottes Liebe aus? müssten Außenstehende sich fragen. Paulus fordert uns also ausdrücklich zu Freude auf, wie auch im Vers der Woche 9/2020.

Und diese Freude soll überspringen, soll sichtbar werden, als augenfälliger Zeichen für Gottes Gnade. Es soll also nicht „Güte“ zur Schau gestellt werden, als Erweis für ein gottgefälliges Leben. Dann ginge es am Ende ja um die eigene Person, nicht den anderen, und solche Erweise können für die Umwelt durchaus deprimierend sein. Nein: vom Glück in uns selbst soll beim anderen etwas ankommen — Lindigkeit eben. Good Vibrations könnte man es heute nennen — die Energie der Erlösung, des Geistes Gottes in uns schafft eine Resonanz, die andere wahrnehmen und erfahren können. Ein klein wenig so, wie die Wunderheilungen Jesu in den Evangelien Evidenz für seine Vollmacht sind!

Ganz einfach und ganz klar, nicht wahr? Wie konnte dann das Christentum in den Ruf einer lust- und lebensfeindlichen Religion kommen? Wer von uns verströmt Lindigkeit, die sich wie Balsam auf die Wunden legt, die die Wirklichkeit anderen schlägt? Einige Menschen fallen mir ein, ich selbst gehöre nicht dazu. Wenn Lindigkeit fehlt — ist dies vielleicht umgekehrt ein Indiz, dass auch Gottes Gegenwart fehlt? 

Ich bin Teil einer nicht immer einfachen Familie. Vergangene Woche wollte ich es mit Lindigkeit probieren. Um sie aus dem Bett zu kriegen, lade ich die jüngste Tochter ein, mit mir Brötchen zu holen. Es ist schon fast Mittag, aber sie braucht Ewigkeiten, besteht dann aber doch lauthals darauf, dabei zu sein. So lange muss ich eben warten. Auf dem Weg hat sie eine Idee nach der anderen, was ich heute für sie tun könnte. Argumente bürstet sie rigoros ab. Plötzlich ist irgendwie der Streit von gestern wieder präsent, der Ton wird gereizter, auf beiden Seiten. Eine Weile versuche ich, mich zu beherrschen. Es ist schon brütend heiss. Mein Rücken und das linke Bein schmerzen beim Gehen, erst leicht, dann immer stärker. Irgendwann beginne ich, ihr Vorwürfe zu machen, die sie prompt zurückgibt. Die Kunden in der Schlange draussen vor dem Bäcker bekommen es mit. Als wir beim Bäcker wieder herauskommen, muss ich pausieren, um den Schmerz wieder loszuwerden, und sie bittet um Erlaubnis, mit ihrem Roller allein nach Hause fahren zu können — immerhin.

Ich glaube nicht, dass irgendwelche Lindigkeit bei ihr angekommen ist… Ich habe falsch begonnen. Nicht mit einem Glücksgefühl, das ich mit ihr hätte teilen können, sondern mit dem Wunsch, dass heute alles friedlich bleiben möge. Ich hätte nicht mit einem Wollen anfangen dürfen, sondern mit einem Sein. 

In rauschhaft-extremer Weise hat Schiller das in seiner „Ode an die Freude“ aufgefangen — Freude an der Schöpfung und aneinander transzendiert die Welt! Als meine erste Tochter zur Welt kam, lief ich tagelang wie betrunken mit diesem Schlusssatz im Kopf und auf den Lippen herum. Damals war meine Lindigkeit wohl nicht zu übersehen. Hier ist der Text in der Fassung, die Beethoven dem Schlusssatz der 9. Sinfonie unterlegt hat, und hier ist ein Video zu einer Aufnahme der Berliner Philharmoniker unter Claudio Abbado.

Ich habe Zeit, es weiter zu probieren, diese Woche und noch viel länger, wenn ich will. Was für ein Vers! Brauchen wir eine Anleitung zum Glücklichsein? Kann man Lindigkeit üben, mit Gottes Hilfe? Vielleicht hilft das Lied? 

Eine gesegnete Woche mit soviel Lindigkeit wie eben möglich wünsche ich uns allen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 33/2020

Des andern Tages geriet der böse Geist von Gott über Saul, und er raste daheim in seinem Hause; David aber spielte auf den Saiten mit seiner Hand, wie er täglich pflegte. Und Saul hatte einen Spieß in der Hand…
1 Sa 18,10 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Spieß und Harfe

Ein perfektes Standbild: Der eine hält ein Saiteninstrument in der Hand, der andere eine schwere Kriegswaffe. Der eine ruht in sich, der andere ist außer sich. Die Spannung entlädt sich im nächsten Augenblick:

und zückte den Spieß und dachte: Ich will David an die Wand spießen. David aber wich ihm zweimal aus.

Der Antagonismus von Saul und David bestimmt die beiden Bücher Samuel, siehe den Vers in Woche 35/2019. Hier liegt er vor uns in seinem Kern. Die beiden Männer sind allein miteinander. Saul hat die Gnade des Herrn verloren, der „böse Geist Gottes“ liegt über ihm. Er pendelt zwischen Traurigkeit und extremer Reizbarkeit, wir würden es heute manische Depression nennen. David ist derjenige, auf dem die Gnade des Herrn nun ruht. Wovon Saul nichts weiss: Samuel hat David schon als künftigen König gesalbt. 

Saul hatte den jungen Mann als Harfenspieler an seinen Hof geholt, er sollte ihm helfen, die Traurigkeit zu überwinden — und das gelang zunächst gut. Nach Davids Kampf mit Goliath hatte er ihm militärische Aufgaben und Verantwortlichkeiten übertragen. David Ruhm wuchs sehr schnell mit seinen Erfolgen, und Saul erlebte ihn nun nicht mehr als emotionale Stütze, sondern als Bedrohung. 

David ist Sauls Gegenstück. Wo dieser von Zweifeln zernagt wird, sich vom Volk dazu treiben lässt, Gottes Anordnungen zu mißachten und Samuel gegenüber Ausflüchte sucht, wo dieser sich selbst als Spielball krasser Gemütsschwankungen erlebt, da ist David einfach nur er selbst. Seine Hände gleiten über die Saiten, wie jeden Tag seit der Zeit als Hirte. David ist eine Art Naturkraft. Samuel hat ihn so charakterisiert: 

Da sprach Samuel zu ihm: Der HERR hat das Königtum Israels heute von dir gerissen und einem andern gegeben, der besser ist als du. Auch lügt der nicht, der Israels Ruhm ist, und es gereut ihn nicht; denn er ist nicht ein Mensch, dass ihn etwas gereuen könnte. (1 Sam 15, 28+29)

David hat unglaubliche Dynamik und Gottes Segen. Saul die Macht und größtmöglichen Status, aber seine Mitte und seine Kraft hat er verloren. Er wirft, aber sein Spieß fehlt. David weicht zweimal aus, mit einer geschickten Wendung seines Körpers, ohne den Angriff auf der Stelle zu beantworten. Jahre später wird Saul mit seinem Spieß sich selbst töten.

Ich kann Saul verstehen. Mir scheint, als sei David auch das Gegenteil von mir selbst: mit seiner Einfachheit und Geradlinigkeit bleibt er noch in extremen Umständen Herr seiner Mitte, wie ein Radfahrer oder ein Reiter — in der Bewegung unsterblich auf Zeit. Er fürchtet Gott und sonst nichts auf der Welt, und die Herzen der Menschen fliegen ihm zu. Die Frauen Judas singen ihm Lieder: seiner Jugend, seiner Kraft, seiner Schönheit und seiner Musik.

Ja, einmal David sein…

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 18/2020

Die Kinder des Weibes Hodijas, der Schwester Nahams, waren: der Vater Kegilas, der Garmiter, und Esthemoa, der Maachathiter.
1 Chr 4,19

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte

Das Buch Chronik gibt den Inhalt von Teilen Samuels und der beiden Königsbücher aus einer alternativen, stark auf den Tempel und das Südreich bezogenen Sicht wieder. Am Anfang des ersten Chronikbuchs steht die „genealogische Vorhalle“. Hier werden, Stamm für Stamm, die Beziehungen zwischen den wichtigen Sippen, Siedlungsgebieten und Städten erörtert. Dabei werden Städte und Landschaften wie Menschen behandelt: sie werden mit ihren Gründern identifiziert und sind in nachvollziehbar Weise verwandt miteinander; es lassen sich Verhältnisse von Über- und Unterordnung feststellen und begründen. Das gleiche Prinzip finden wir im Buch Genesis. Israel ist der Name eines Mannes, nicht nur eines Volks, Juda ebenso. Reihenweise werden Völker, Stämme, Städte auf einzelne lebende Menschen zurückgeführt.

Der gezogene Vers stammt aus einem von mehreren Abschnitten, in denen die Familien, Städte und Landschaften Judas behandelt werden. Den genauen Wortlaut des gezogenen Verses verstehe ich leider im einzelnen nicht, trotz großer Mühewaltung. Hodija wird vorher und nachher nirgends sonst erwähnt, auch Naham nicht, es ist nicht klar, wie die beiden Männer im Stamm Juda überhaupt verankert sind. Und bei Kegila (Keïla) und Esthemoa kann es sich um Menschen handeln oder auch um die Städte gleichen Namens: das alte Hebräisch gebraucht für Stammvater / Gründer nämlich das Wort für einen biologischen Vater, אב. Die Zuschreibungen „Garmiter“ und „Maachatiter“ können sich auf die Herkunft eines Menschen beziehen oder auf die Zuordnung zu einer Sippe oder einem Volk. 

Mit diesen Ambivalenzen im Originaltext sind die mir zugänglichen Bibelübersetzungen sehr unterschiedlich umgegangen. Ich will hier nur die Lösung der katholischen Einheitsübersetzung erwähnen. Dort geht man davon aus, dass das Wort Hodija gar nicht der Name eines Mannes ist, sondern das Resultat eines Übertragungsfehlers: am Anfang des Worts ist der Buchstabe Jod verloren gegangen. Dann nämlich heißt es jehudiah — von Juda –, und man erhält als Konjektur eine Lösung, die zum Text vorher gut passt: ein Mann namens Mered hatte zwei Frauen, eine ägyptische Frau, die Tochter des Pharao, und eine Frau aus Juda. Die judäische Frau war Schwester von Naham, des Gründers der Städte Kegila und Esthemoa.  

Vielleicht ist die Ambivalenz gerade der Schlüssel zu dem, was der sonderbare Vers uns heute sagen kann. Menschen leben in Landschaften und Städten, und die Landschaften und Städte sind durch Menschen geprägt, und sind in der Geschichte miteinander und mit ihren Bewohnern untrennbar verbunden. Die Bibel behandelt in einer heute politisch inkorrekt wirkenden Weise geographische Einheiten konsequent wie Menschen. 

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte. Die Kalckreuths pflegen eine Familiengeschichte. Sie wird auf der Grundlage einer großen Arbeit aus dem Ende des neunzehnten Jahrhundert fortgeführt. Vor einigen Wochen erreichte mich eine Anfrage eines Mannes aus den Niederlanden, der seine Familie erforscht und dabei auf eine geborene Kalckreuth gestoßen ist. Ihr Name, Barbara Dorothea, taucht in unserer Familiengeschichte nicht weniger als viermal auf, immer im Umfeld desselben Guts. Zwei der Einträge beziehen sich vermutlich auf dieselbe Person, die anderen beiden aber lebten nicht zur gleichen Zeit. Hier gibt es eine überzeitliche Beziehung zwischen einem Ort und mehreren Menschen gleichen Namens. Es wäre schön, mehr über das Gut und die Familien zu wissen, deren Leben um den Ort kreiste. Der holländische Ahnenforscher war jedenfalls sehr erfreut über das, was er aus unserer Familiengeschichte erfuhr, und gemeinsam konnten wir die Gesuchte identifizieren.

Menschen, ihre Großfamilien und ihre Orte sind die grundlegenden Einheiten, aus denen die biblische Welt sich zusammensetzt. In der siebenten Woche der Kontaktbeschränkungen sind Bildschirme das wichtigste, beinahe einziges Interface zur Wirklichkeit geworden. Über Bildschirme haben wir Kontakt zu anderen Menschen, die ihre Welt ihrerseits ganz genauso erleben, und es gilt gleich, ob sie in Frankfurt, Jerusalem, London oder Paris leben. Das wird Folgen haben. Es tut gut, sich daran zu erinnern: Die Welt setzt sich aus Menschen zusammen, aus ihren Familien und aus Orten, in denen sie interagieren — miteinander und gegeneinander. Corona löst diesen Zusammenhang in unseren Köpfen nachhaltig auf. Vielleicht ist dies die eigentliche Krankheit.

Ich wünsche uns eine Woche mit so viel Realität in den Köpfen wie möglich: Menschen, ihre Familien und ihre Orte. Gott sei mit uns,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 02/2020

Also auch, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.
Lk 15,10

Der Vers ist uneingeschränkt zufällig gezogen aus der Lutherbibel 1912. Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Lost and found

Jeder, der regelmäßig zur Bibel schreibt, wird irgendwann über etwas schreiben wollen, zu dem er eine frühere Ausarbeitung bereits besitzt. In der Wahrscheinlichkeitstheorie gibt es sogar einen Satz dazu. Bei mir ist es heute soweit. Die Vorlage ist allerdings kein „Bibelvers der Woche“, sondern eine Lesung für den Gottesdienst vom November 2018, also vor etwas mehr als einem Jahr. Ich habe mich damals sehr intensiv mit dem Abschnitt auseinandergesetzt, und sie hat meinen Blick auf Gott und mein Leben verändert. Ich kann heute nichts Substanzielles hinzufügen. Ich will den Text aber auch nicht anpassen, glätten oder als Steinbruch verwenden. Daher gebe ich ihn hier ungekürzt wieder. Dem Anlass entsprechend ist er etwas länger und die Sprache bekenntnishafter als gewohnt. Wenn Sie möchten, können Sie ihn als Dokumentation betrachten.


Schriftlesung 11. November 2018, Kirche des Nazareners, Frankfurt Hügelstr.

Wir alle gehören zu Gott. Das ist unser Geburtsrecht. Aber was geschieht, wenn wir verloren gehen? Was geschieht mit uns, was geschieht bei Gott? 

Ich habe eine sehr alte Erinnerung. Ich war jünger als Mathilde jetzt, noch vor der Scheidung meiner Eltern, in der alten Wohnung, als mein Vater mir eines Abends erklärte, dass Eltern und Kinder immer Eltern und Kinder bleiben, und dass er stets für mich da sein werde, auch wenn ich jemanden umgebracht hätte. Ein sonderbares Bild für einen Sieben- oder Achtjährigen, vor fünfzig Jahren zumal, aber ich habe es nie vergessen! 

Jesus hat dazu drei Gleichnisse, sie stehen in Lukas 15. Die ersten beiden will ich hier lesen, das dritte steht nachher im Mittelpunkt von Lars’ Predigt. Ich lese Lukas 15, 1-10:

Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.

Vom verlorenen Schaf
Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Vom verlorenen Groschen
Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

Jesus spricht hier über die besondere Zuwendung, die er für die Verlorenen hat, die Zöllner und Prostituierten, die Gottesfernen. Er setzt voraus, dass jeder normal denkende Mensch die 99 Schafe verlässt, um nach dem einen verlorenen Schaf zu suchen. Nur dann funktioniert das Gleichnis. Es ist sein Bild, um plausibel zu machen, dass Gott es genauso hält. Also: Da ist auf der anderen Seite jemand, der sucht! Dem nichts wichtiger ist als diese Suche! Das ist die erste frohe Botschaft der Gleichnisse.

Aber da gibt es noch, etwas versteckt, eine zweite Botschaft. Das verlorene Schaf ist wichtiger als die Herde, der gefundene Groschen Grund für ein Fest, Grund zur Freude im Himmel und auf Erden. Wie kann das sein? Was ist mit den anderen Schafen? Warum diese besondere Freude? 

Geschieht vielleicht in Scheitern und Umkehr etwas Besonderes und Unersetzliches, das mehr ist als eine bloße Wiederherstellung?  

Ja, ich glaube, genauso ist es. Wer scheitert und versteht, dass er aus eigener Kraft nichts mehr vermag, der hat die Chance sich zu öffnen für die grenzenlose Kraft Gottes, in seinem Leben und durch sein Leben Veränderungen zu bewirken. Der Heilige Geist, Gottes heilige Kraft zu Veränderung, ist dort, wo jemand verloren geht und zurückfindet. 

Der Psalmist hat dafür ein sehr starkes, beinahe krasses Bild. David hat sich mit Batseba und dem Mord an Urja schwer versündigt und wird von Nathan zur Rede gestellt. David ist moralisch am Ende. Psalm 51 gibt sein Bußgebet wieder. Im zweiten Teil heißt es: 

12 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz
und gib mir einen neuen, beständigen Geist.
16 Errette mich von Blutschuld, / Gott, der du mein Gott und Heiland bist,
dass meine Zunge deine Gerechtigkeit rühme.
18 Denn Schlachtopfer willst du nicht, / ich wollte sie dir sonst geben,
und Brandopfer gefallen dir nicht.
19 Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist,
ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten.

David spricht hier von geistlicher Wiedergeburt. Wiedergeburt geschieht nicht dadurch, dass man eine Pille schluckt und plötzlich alles rosa ist. Wiedergeboren werden kann mit Gottes Hilfe jemand, der verloren gegangen ist und dies auch weiß:

Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist, 
ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten…

Geängsteter Geist, zerschlagenes Herz — vielleicht wissen Sie, was das bedeutet? Das ist überhaupt nicht attraktiv, nicht hip, auch nicht nach den Maßstäben des Alten Testaments. Ist denn das frohe Botschaft? 

Ja!  Das ist frohe Botschaft, gerade das! Am Tor zum Reich Gottes stehen die, die wissen, dass sie vor Gott nichts vorweisen können und daher alles von ihm erwarten. Vielleicht vor allem sie! Und so kann am Ende gar die Sünde selbst, die Gottesferne, in Gott einen Sinn erhalten. Hier ist Gottes Gnade, das ist ihr Kern!

Für mich hat das sogar eine ganz bestimmte Melodie. Ich kenne diese Melodie seit meiner frühesten Kindheit, die Botschaft verstehe ich erst heute. John Newton hat vor seiner geistlichen Wiedergeburt ein Sklavenschiff als Kapitän befehligt. Er geriet in einen Sturm, und die Lage war aussichtslos. Er betete und das Schiff wurde gerettet. Das hat sein Leben völlig verändert, vom Sklavenhändler wurde er zum Kämpfer gegen die Sklaverei. Hier ist sein Lied, Sie kennen es:

Amazing grace, how sweet the sound,
That saved a wretch like me!
I once was lost, but now I am found,
Was blind, but now I see.

‚Twas grace that taught my heart to fear,
And grace my fears relieved;
How precious did that grace appear,
The hour I first believed!

Hallelujah! Amen!

Ende Ansprache 11. November 2018

Wie damals könnte ich das heute nicht schreiben… Mich erinnert der BdW an eine wichtige Erfahrung. Ich wünsche uns eine Woche, in der wir nicht nur suchen, sondern wissen, dass wir selbst Gesuchte sind!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 01/2020

In der Gegend des Jordans ließ sie der König gießen in dicker Erde, zwischen Sukkoth und Zaredatha.
2.Ch 4,17

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Den Tempel bauen

Die Abschnitte rund um den Vers handeln davon, wie König Salomo den Tempel baut. Er macht es natürlich nicht selbst. Hunderttausende arbeiten zeitweilig daran, wie berichtet wird. Unter anderem werden alle „Fremden“ herangezogen, von mehr als hundertfünfzigtausend wird berichtet, um im Gebirge die Steine für den Tempel zu hauen und nach Jerusalem zu bringen. 

Die Einrichtung des Tempels, Bronzegefäße, Leuchter, der Altar, das „Meer“, in dem die Priester sich wuschen, die Cherubim im Allerheiligsten, und so viel anderes mehr, stand unter der Aufsicht von Hiram aus Tyrus. Diesen Baumeister, Kunsthandwerker und Berater schickte der König von Tyrus seinem Verbündeten Salomo für das große Werk. Der König, gleichfalls Hiram mit Namen, machte das Werk auch durch umfangreiche Lieferungen von kostbaren Hölzern aus dem Libanon möglich. Seine Stellung in der biblischen Erzählung kontrastiert sonderbar stark mit dem, was Jesaja über einen späteren König von Tyrus schreiben wird, siehe den BdW 50/2019. 

Hiram, der Baumeister war nur mütterlicherseits Hebräer, sein Vater kam aus Tyrus. Für die Freimaurer ist Hiram eine Art Heiliger, der besondere Einsichten hatte, und ein besonderer Mensch muss er in der Tat gewesen sein. Das Opfer war Gemeinschaft mit Gott, der Ort dafür war der Jerusalemer Tempel, und um diesen Tempel kreisen die Schriften des Alten Testaments in fast schon obsessiver Weise. Und die Geräte, immer wieder einzeln aufgezählt, wurden geschaffen von einem Ausländer. 

Ich selbst befinde mich gerade laut Google Maps rund 1600 Meter Luftlinie von der goldenen Kuppel des Felsendoms entfernt. Dort stand vermutlich das Allerheiligste des Tempels, mit den zwei großen Cherubim, die Hiram schuf. Der Tempel ist Vergangenheit und doch auch nicht — irgendwie kreist diese Stadt weiter um das Areal. Für Juden ist er als geistiges Objekt höchst präsent, und für Muslime ist der Felsen unter dem Dom der Ort, auf dem die Welt gegründet ist. 

Es ist dies ein schöner Vers für den Beginn des neuen Jahres. Ich habe trotz Internetrecherche nicht verstanden, wozu beim Bronzeguss „dicke Erde“ oder „fester Lehm“ nötig ist. Manche Bibelübersetzungen, so auch die neue Lutherbibel, halten „dicke Erde“ (‚avi ha’adama) gar für einen Ortsnamen. Wie dem auch sei, wer einen Tempel einrichten will, braucht nicht nur Genie und fast unbegrenzte Ressourcen, sondern er muss sein Werk auch gut gründen, in dicker Erde eben. So ungefähr verstehe ich die Wendung.

Ich wünsche uns allen für das kommende Jahr dicke Erde genug, dass wir unsere Aufgaben und unseren Auftrag erfüllen können, was immer diese auch seien, und darin glücklich sind!
Jerusalem, 29. Dezember 2019, Ulf von Kalckreuth

Jerusalem Altstadt, Jahreswende 2019/2920
Jerusalem, Altstadt, Jahreswende 2019/2020