Das Buch der Bücher: eine Fahrt ins Blaue

Ich begrüße Sie! Es ist wieder Buchmesse in Frankfurt. Eine große Industrie feiert sich — das organisierte Wissen der Welt, Kultur, Meinung, aber auch Unterhaltung, Selbstdarstellung, Show. Und wie begann alles?

Ein revolutionäres Werk trifft auf eine revolutionäre Technik. Martin Luther hatte die Bibel, das spirituelle Herz der westlichen Welt, sprachlich für jedermann verfügbar gemacht. Und mit einer genialen Erfindung ermöglichte es Johannes Gutenberg, dass dieses Werk zu einem Bruchteil seines früheren Preises den Massen auch ökonomisch zugänglich wurde. Damit änderten die beiden — alles.

Die Welt des Buchs allemal. Nach Angaben des Deutschen Bibelwerks ist die Bibel heute vollständig in 733 Sprachen übersetzt, Teile davon gar in 3610 Sprachen. Die Gesamtauflage liegt laut Statista bei bis zu drei Milliarden Exemplaren. Damit ist sie das mit Abstand meistverkaufte Buch der Welt. Und Mutter einer ganzen Industrie: vieler Tausend religiöser Verlage, christlich und jüdisch, mit Hunderttausenden von Titeln, die sich alle auf dieses Werk beziehen.

Dieser Blog wählt einen Zugang, der nicht makroskopisch ist, sondern mikroskopisch. Jede Woche wird ein einzelner Vers gezogen, in seinen Zusammenhang gestellt, beleuchtet und darauf abgeklopft, was er heute sagen kann. Nach und nach, Woche für Woche, Ziehung für Ziehung, entsteht hierbei ein im Wortsinne empirisches Bild, das man sich durch ein geschlossenes Werk nicht holen kann. Es ist eine echte Fahrt ins Blaue.

Fahren Sie mit!

Bibelvers der Woche 44/2021

Die waren alle Kinder Jediaels, Häupter ihrer Vaterhäuser, gewaltige Männer, siebzehntausend zweihundert, die ins Heer auszogen, zu streiten.
1.Ch 7,11

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Jediaël — Botschaft Gottes

In den ersten Kapiteln von 1.Ch werden die dramatis personae vorgestellt, die Völker der Staaten Israel und Juda und ihre Führer, und dies geschieht über ihre Stammtafeln, siehe dazu den BdW 18/2020. Wir haben einen Vers aus dem Abschnitt über den Stamm Benjamin gezogen. Benjamin, so heisst es da, hatte drei Söhne, Bela, Becher und Jediaël. Dann werden die Kinder dieser Söhne genannt. Zu Jediaël wird geschrieben (Luther 2017): Der Sohn Jediaëls aber war: Bilhan. Bilhans Söhne aber waren: Jëusch, Benjamin, Ehud, Kenaana, Setan, Tarsis und Ahischahar. Die waren alle Söhne Jediaëls, Häupter der Sippen, gewaltige Männer, 17200, die als Heer ausziehen konnten zum Kampf. 

So weit, so gut. Ich stelle mir gern die Söhne Jediaëls vor, „Häupter der Sippen, gewaltige Männer“. In meinem Kopf ist das Patriarchat durchaus noch nicht verschwunden. Aber eine Frage tut sich auf, wenn man ein wenig weiterliest. Gleich am Anfang des nächsten Kapitels gibt es eine andere Stammtafel Benjamins, und zwar im Kontext der Ahnenreihe Sauls. Dort steht (8,1+2): Benjamin aber zeugte Bela, seinen Erstgeborenen, Aschbel als zweiten Sohn, Achrach als dritten, Noha als vierten, Rafa als fünften. Von Jediaël ist nicht die Rede, nur Bela taucht in beiden Ahnreihen auf. Gab es Jediaël überhaupt? 

Es wird noch unangenehmer. Ahnreihen Benjamins gibt es bereits in der Thora. Gen 46,21 lautet: Die Söhne Benjamins: Bela, Becher, Aschbel, Gera, Naaman, Ehi, Rosch, Muppim, Huppim und Ard. Bela und Becher kennen wir aus 1.Ch 7 bereits. Huppim und Mumim tauchen als Nachkommen von Ir, einem Sohn von Bela auf. Aschbel kennen wir aus der Ahnenreihe in Kapitel 8. Gera und Naaman tauchen dort unter den vielen Söhnen von Bela auf. Was ist mit Ehi, Rosch und Ard? Und Jediaël?

Eine vierte Ahnenreihe finden wir in Num 26, 38-41: Die Söhne Benjamins nach ihren Geschlechtern waren: Bela, daher kommt das Geschlecht der Belaiter; Aschbel, daher kommt das Geschlecht der Aschbeliter; Ahiram, daher kommt das Geschlecht der Ahiramiter; Schufam, daher kommt das Geschlecht der Schufamiter; Hufam, daher kommt das Geschlecht der Hufamiter. Die Söhne Belas aber waren: Ard und Naaman, daher kommt das Geschlecht der Arditer und Naamaniter. Das sind die Söhne Benjamins nach ihren Geschlechtern, an Zahl 45600.

Bela wird wieder als erstes genannt, Aschbel kennen wir aus der Ahnreihe Sauls in 1.Ch 8, Ard und Naaman kennen wir aus Gen 46, dort allerdings als Söhne Benjamins, nicht als Enkel. Die Namen Ahiram, Schufam und Hufam finden sich in keiner der anderen Stammtafeln. Becher wird in Num 26 als Sohn Ephraims, nicht Benjamins genannt. Von Jediaël keine Spur.

Mmmh…. Als gesichert könnte man mitnehmen, dass Benjamins ältester Sohn Bela hieß, und dass er darüber hinaus weitere Söhne hatte. Jediaël, von dem unser Vers handelt, taucht in keiner der anderen Stammtafeln auf. Ist er ein Gespenst?

Das gibt es öfter in der Bibel. Gleich ganz am Anfang, in Gen 1 und 2, finden wir hintereinander zwei Schöpfungsberichte, die sich gegenseitig ausschließen. Wie gehen wir damit um? Die überlieferten Schriften sind durch Kompilation und Redaktion unterschiedlicher Quellen entstanden. In ältere Überlieferungen werden dabei fremde Texte integriert, denen Autorität zukommt. Oft aber bleiben die originalen Versionen daneben bestehen. Jüdische Redaktoren löschen nichts, aus Ehrfurcht vor der Schrift. Christliche (evangelische) Theologen versuchen dann, durch Abschichtung der Textebenen die ursprünglichen Texte zurückzugewinnen. Manchmal gelingt das überzeugend. Man steht dann vor zwei oder mehreren verschiedenen Texten und kann Hypothesen über ihre Herkunft bilden. Aber was machen wir damit? 

Der Anspruch, Wahrheit zu repräsentieren, gehört zum Wesenskern der Bibel. Sie hört auf, Bibel zu sein, wenn wir sie als fiktionalen Text oder als geronnenen Zeitgeist der Jahrtausende lesen. Jüdische Interpreten bilden daher in solchen Fällen Konjekturen und Interpretationen, die es erlauben, alle sich scheinbar widersprechenden Darstellungen gleichermaßen wahr sein zu lassen. Solche Konjekturen können sehr kunstvoll sein, so kunstvoll, dass es nicht leicht fällt, eine Wahrheit zu akzeptieren, die davon getragen wird, davon abhängig ist.

Ich selbst mache ein wenig von beidem und doch etwas anderes. Die Wahrheit, die die Bibel abbildet, ist göttlicher Natur. Dies Abbild muß nicht notwendigerweise ein logisch konsistentes, widerspruchsfreies System von Aussagen bilden. Wir können in der Bibel nach der ihren Textteilen je innewohnenden Wahrheit suchen. Diese Wahrheit ist in der ersten Schöpfungsgeschichte eine andere als in der zweiten, und in der Genealogie von Chr. 7, die auf Heerformationen fokussiert, eine andere als im Stammbaum Sauls. Ich kann und muss Bibelstellen zusammen lesen, um sie zu verstehen. Dazu suche ich solche, welche die Stelle erleuchten, die ich zu verstehen suche, nicht diejenigen, die zu ihr im Widerspruch stehen. Je nachdem, wo ich anfange, betrachte ich manche Textstücke und andere nicht. Ich bleibe mir dabei der Existenz jener anderen aber stets bewusst. Es sind andere Wahrheiten, nicht die, um die es jetzt gerade geht. Jediaël ist kein Gespenst, es gibt ihn! Der Name, hebräisch ידיעאל, bedeutet: „Kunde / Botschaft Gottes“.

So kann ich auch mit Widersprüchen zur historischen Evidenz und zur Naturwissenschaft umgehen. Ich sehe sie — und versuche den Text zu verstehen. Auch wenn Archäologen zeigen, dass Jericho nie eine Mauer hatte und es historisch eine kriegerische Landnahme Palästinas durch einen Verband hebräischer Stämme nicht gegeben haben kann. Gelernt habe ich das bei der Arbeit am Bibelvers der Woche. Das Verfahren wirkt ein wenig unwissenschaftlich. Man muss zulassen, dass es mehrere Wahrheiten gibt, die im Widerspruch zueinander stehen, aber dennoch — wahr sind. Und ich denke, dass es genau so ist. Man muß es aushalten. Hinter den sich widersprechenden Wahrheiten mag eine übergeordnete Wahrheit liegen, die wir nicht erkennen können. 

ידיעאל — Botschaft Gottes. Was für ein Name!

Genug der Philosophie. Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 42/2021

Und setzten sich nieder, zu essen. Indes hoben sie ihre Augen auf und sahen einen Haufen Ismaeliter kommen von Gilead mit ihren Kamelen; die trugen Würze, Balsam und Myrrhe und zogen hinab nach Ägypten.
Gen 37,25

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Zweimal Knechtschaft und zurück

Der Vers markiert eine der Gabelungen, aus denen sich die biblische Geschichte aufbaut. Die Ausgänge dieser Wegscheiden, Wendungen, Entscheidungen sind oft überraschend und lassen sie insgesamt als von Gott geschrieben erscheinen.

Josef wird von seinen Brüdern gehasst und sie haben sich seiner gewaltsam bemächtigt. Er ist anders als sie, ein Träumer und Visionär, und von ihrem Vater wird er offenkundig bevorzugt. Ruben, der Älteste, will ihn dennoch retten. Auf seine Intervention hin töten ihn die Brüder nicht sofort, sondern werfen ihn erst einmal in ein leeres Wasserloch. Ruben verlässt die Szene, wir erfahren nicht, warum. An dieser Stelle wird die Handlung gänzlich unbestimmt. Wird er sterben, wird er leben? Josef ist unten im Wasserloch, oben sind die Brüder und essen. Die Zeit steht still. 

Da heben sie ihre Augen auf — in der Bibel ist dies der Code für eine unmittelbar folgende schicksalhafte Wendung. Sie sehen ismaelitische Händler, eine Kamelkarawane, die von Gilead im Norden nach Ägypten im Süden zieht. „Warum Josef töten und an ihm schuldig werden? Wir verkaufen ihn!“ Sie ziehen ihn aus der Grube und geben ihn den Händlern für einen ordentlichen Preis, zwanzig Silberstücke. Sie mögen der Karawane noch eine Weile nachgesehen haben: Josef würde nie zurückkommen, und wie lange er in der Sklaverei zu leben hätte, war eigentlich gleichgültig… 

Aber an dieser Stelle beginnt eine ganz andere, eine ganz große Geschichte: Josef wird nach Ägypten gebracht, der Träumer macht dort eine unglaubliche Karriere, die ihn zum Manager macht, ins Gefängnis bringt und endlich ins Amt eines Vizekönigs von Ägypten führt. In vielen Wirrungen holt er seine Brüder nach, sie ziehen fort aus Palästina. Ihre Nachkommenschaft wächst und wird in Ägypten zu einem ganzen Volk, dem Volk Israel. 

Obwohl wir Entscheidungen treffen, schreibt Gott die Geschichte, sagt uns die Bibel hier, weil wir die Konsequenzen unserer Entscheidungen nicht überblicken. Die Erzählung von Josef in Ägypten mag völlig aus der Luft gegriffen erscheinen. Und doch kenne ich eine ähnliche Begebenheit, die sich in der Vergangenheit unserer Familie wirklich zugetragen hat. Ich will Ihnen das erzählen. 

Unsere Familiengeschichte berichtet von Caspar von Kalckreuter, Gutsherr in der Niederlausitz und Soldat — letzteres, wie es scheint, aus freiem Willen. Nach dem Dreissigjährigen Krieg kämpfte Schweden mit dem Vereinigten Königreich von Polen und Litauen um die Vorherrschaft im Nordosten. Die Preußen hatten sich unter dem Großen Kurfürsten aus dem polnischen Verband gelöst und waren mit den Schweden verbündet, die Polen hatten ihrerseits ein großes Tatarenheer als Unterstützung. Der große Kurfürst war auch Markgraf der Lausitz. Caspar zog also 1656 im Alter von 30 Jahren mit den Preußen gegen Polen und Tataren.

Am Michaelistag, Anfang Oktober, kam es zu einer katastrophalen Niederlage. Caspar wurde von den Tataren gefangengenommen, nackt ausgezogen und mit den anderen Gefangenen misshandelt. Den Gefangenen wurde nachts die Füße zwischen zwei Bretter gebunden und an der Erde befestigt, und gelegentlich legten sich die Tataren quer über die Gefangenen. Mit dem Hauptheer der Tataren gelangte er an den Dnjepr. Im strengem Winter hütete er Schafe und putzte die Pferde. 

Mit dem schweifenden Heer kam er schließlich ins Donaudelta, wo er einem türkischen Sklavenhändler verkauft wurde. Dieser brachte ihn nach Konstantinopel und verkaufte ihn auf dem Sklavenmarkt weiter. Caspar gab sich seinem neuen Herrn, einem Kaufmann, als Schotte aus und mußte zunächst einfache und harte Arbeit verrichten. Mit der Zeit wurde er des Kaufmanns Gehilfe. Sein Herr gab ihm die Erlaubnis, sich freizukaufen und setzte den Preis erst auf 1000, dann auf 500 Taler fest. Im Auftrag seines Herrn führte Caspar mehrere Seereisen durch. Eine davon ging nach Ägypten (!), den Nil hinauf. Erst nach abenteuerlichen Wegen und Umwegen gelangten sie zurück nach Konstantinopel, sein Herr hatte das Schiff verlorengeglaubt. Es gelang Caspar, Kontakt mit dem Gesandten des Deutschen Reichs aufzunehmen, der half, das fehlende Geld von Caspars Bruder zu besorgen. Sein Herr bat ihn sehr, zu bleiben und Muslim zu werden, und auch der Kadi, der ihm am Kai den Freibrief überreichte, wollte ihn halten. Aber er machte sich auf den weiten Weg zurück.

Zu Pfingsten 1660 schließlich, dreieinhalb Jahren nach seiner Gefangennahme, gelangte er in seine Heimat in der Niederlausitz. Er war gesundheitlich angeschlagen und die Familiengeschichte gibt das Bild einer posttraumatischen Belastungsstörung wieder: 

Es ist aber der von Kalckreuter nach seiner Wiederkunft nicht mehr so gesund, so schön und so fröhlich als vorher gewesen. Er konnte sich die harte, unvermuthete Dienstbarkeit nicht gänzlich aus dem Gemüte schlagen. Auch litt er öfter unter bösen Vorstellungen, weshalb er einst im Winter bei tiefem Schnee ohne Kleider aus dem Bette gesprungen und sich eine halbe Meile entfernt an einem anderen Orte versteckt hat, worüber er in eine gefährliche Krankheit gefallen. — Endlich hatte er fast alles vergessen, wo er gewesen war.
(Aus dem Bericht von Johann Magnussen, ev. Prediger zu Albrechtsdorf, 1679)

Vizekönig ist Caspar nicht geworden bei den Tataren und in der Türkei, nein. Aber er besaß die Kraft, weiterzuleben und durchzuhalten, als die Lage ausweglos war, und die Klugheit, seine Möglichkeiten zu nutzen, als sie sich ihm, nach langer Zeit, endlich zeigten. Mit Gott blieb er stets verbunden: als einziges Besitztum war ihm ein Gebet- und Gesangbuch geblieben, das „Lüneburger Handbüchlein“, mit dem Neuen Testament, dem Katechismus und den Psalmen — eine Kostbarkeit im 17. Jahrhundert! Die Türken ließen ihn ungehindert darin lesen. 

Der gezogene Vers handelt von der Unbestimmtheit, die in vielen persönlichen Katastrophen steckt. Unversehens habe ich nun darüber geschrieben, wie man damit umgehen kann. Ich glaube, es ist eine mächtige Überlebensstrategie. Weiterleben und durchhalten, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, und warten. Mit Gott im Gespräch bleiben. Und dann die Chancen begrüßen, wenn sie kommen — falls sie kommen. Wie Josef. Wie Caspar. 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 31/2021

Und Esra, der Schriftgelehrte, stand auf einem hölzernen, hohen Stuhl, den sie gemacht hatten, zu predigen, und standen neben ihm Matthithja, Sema, Anaja, Uria, Hilkia und Maaseja, zu seiner Rechten, aber zu seiner Linken Pedaja, Misael, Malchia, Hasum, Hasbaddana, Sacharja und Mesullam.
Neh 8,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Re-Formation

Ein langer Vers, mit vierzehn Namen. Aber dennoch ist er spannend: hier erzählt uns die Bibel, wie in der Bibel gelesen wird.

Die Zeit des erzwungenen Exils war zu Ende. Juden durften aus Babylon in ihr Heimatland zurückkehren und Jerusalem konnte neu aufgebaut werden. Nachdem es wieder einen Tempel gab, kam Esra aus Babylon, um den Tempeldienst neu einzurichten. Zu den dürftigen ersten Anfängen und der Bedeutung des großen Reformators für das Judentum siehe die beiden BdW 30/2020 und 32/2020

Esra stand vor einer gewaltigen Aufgabe. Die Kontinuität der Religionsausübung war gebrochen und neue Formen waren entstanden, etwa der Gottesdienst in Synagogen. Die überlieferten Schriften wurden während und nach dem Exil redigiert, neu kompiliert und ergänzt. Das Neue und das Alte mußten zu einem Ganzen integriert werden. Der entstehenden Gemeinschaft fehlte eine Identität. 

Der religiöse Führer entschließt sich zu einem Schritt von großer symbolischer Kraft. Im neuen Tempel — einer Baustelle eigentlich — stellt er sich auf und liest laut, an alle gerichtet, das Gesetz. Er wiederholt damit eine Handlung Josias, des großen Reformkönigs vor dem Exil. Damals, in einer Zeit religiöser Ambivalenz und Gleichgültigkeit, war bei Reparaturarbeiten am Tempel das „Buch des Gesetzes“ gefunden worden. Josia ließ es verlesen und leitete damit eine Reinigungsbewegung ein, siehe den BdW 20/2021

Esra liest das Gesetz laut. Damit sagt er gleichzeitig, wie das Wort Gottes gelesen werden soll: wörtlich nämlich, nicht in termini von Abstraktionen und Interpretationen. Esra ist „Reformator“ im ältesten Sinn des Wortes. Er stellt in seiner Gegenwart eine idealisierte, in die Vergangenheit projizierte Struktur wieder her. Dabei tritt er nicht als Person auf, sondern als Repräsentant einer neuen geistlichen Elite. Sechs spirituelle Würdenträger stehen rechts von ihm und sieben links. Viele Stunden lang stehen sie und lesen laut das Gesetz Gottes. So wie Juden überall in der Welt es in der Synagoge heute noch tun. 

Was für ein Bild!

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Faksimile einer Megillat Esther. Bild: Ulf von Kalckreuth, Juli 2021
Faksimile einer Megillat Esther. Bild: Ulf von Kalckreuth, Juli 2021

Bibelvers der Woche 20/2021

Und er ließ in den Bund treten alle, die zu Jerusalem und in Benjamin vorhanden waren. Und die Einwohner zu Jerusalem taten nach dem Bund Gottes, des Gottes ihrer Väter.
2.Ch 34,32

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Fund und Bund und Kirchentag 

Als er von meinem Blog hörte, fragte mich ein Kollege leicht ironisch, was es denn neues gebe in der Bibel. Für uns ist die Bibel etwas Festes, im Wortsinne Gegebenes, Unverrückbares. Das war nicht immer so — der Kanon der Heiligen Schriften des Judentums und damit des christlichen Alten Testaments wurde erst gegen 100 n.Chr. festgelegt, und der Korpus des Neuen Testaments im 4. Jahrhundert. Vorher bestand die Heilige Schrift aus einzelnen, heilig gehaltenen Schriften, die selbständig kursierten und kopiert wurden, oft in verschiedenen Fassungen.  

Die Sammlung, Redaktion und Systematisierung der Heiligen Schriften begann aber bereits in Juda unter König Josia (640-609 v.Chr). Die 2. Chronik und das 2. Buch der Könige berichten von einem unglaublichen Ereignis. Der Tempel wurde renoviert, und als man Silbervorräte heraussuchte, um damit die Bauarbeiten zu bezahlen, fand man das „Gesetz“, eine Schrift mit den Bestimmungen Mose. im Hebräischen steht tatsächlich „Sefer HaTorah“, das Buch der Torah. Das Buch war in Vergessenheit geraten und nun durch einen Zufall wieder aufgefunden. Möglicherweise handelte es sich um eine frühe Fassung des Deuteronomiums. 

Wirklich wurden in jener Zeit Schriftrollen behandelt wie Schätze und sie hatten einen entsprechenden Wert. Und wie ein Schatzfund wächst die Schriftrolle dem Fundus der bekannten Schriften zu. Die Wirkung ist spektakulär. König Josia lässt sich die Rolle vorlesen, und er zerreißt seine Kleider, weil ihm klar ist, wie sehr Israel und Juda gefehlt haben und was die Konsequenz sein kann. Er versammelt das Volk, lässt die Rolle verlesen und gelobt stellvertretend für das Volk, dass man die Rechte des Herrn künftig genau halten werde. Darum geht es im gezogenen Vers: der König formuliert den Bund und die Einwohner Jerusalems und des umliegenden Landes Benjamin treten bei und halten ihn. Eine Art Kirchentag, nicht wahr?

Josia hat in den Königsbüchern und der Chronik den Rang einer Lichtgestalt. Er steht für Differenzierung und Zentralisierung. Die kultische Verehrung des Gott des Herrn wird exklusiv: Andere Götter dürfen nicht mehr angebetet werden. Die religiöse Aktivität fokussiert auf Jerusalem. Nur im dortigen Tempel kann noch legal geopfert werden, all die freiwilligen und mandatorischen Gaben gehen dorthin. Gleichzeitig beginnt, wie schon erwähnt, in dieser Zeit eine redaktionelle Arbeit, welche die heiligen Schriften in konsistente Beziehung zueinander setzt und zu Teilen einer einheitlichen Erzählung werden läßt. Die biblische Geschichte entsteht allmählich. Als Juden und als Christen gäbe es uns nicht ohne dieses Werk. 

Durchaus nicht alles gefällt nach heutigen Standards. Wer ist „im Bund“, wer nicht? Josia integriert, und gleichzeitig grenzt er ab und grenzt er aus, sehr harsch zuweilen. Recht betrachtet gehört beides zusammen. Wer sagt, was eine Gemeinschaft ausmacht und was in ihr gilt, sagt damit gleichzeitig, wer oder was nicht dazu gehört. Als ich den Vers las, mußte ich an den Kirchentag in Frankfurt denken, der am Donnerstag mit einem Gottesdienst begann und am Sonntag seinen Abschluss findet. Er war als ökumenisches Fest gedacht und ist zum virtuellen Ereignis geworden. Arg gerupft wirkt er, nicht nur wegen Corona. Im Vorfeld schien es, als sei auch der Mut zum Träumen verlorengegangen. Vielleicht, weil Integration voraussetzt, dass man gemeinsam formulieren kann, wofür man steht. Das fällt schwer, wenn das Haus des Herrn viele Wohnungen haben soll, alle mit Zentralheizung. Wer allen alles sein will, ist am Ende den meisten nichts.

Die Chronik berichtet weiter, wie Josia die heidnischen Anbetungsstätten in den ihm zugänglichen Gebieten des früheren Nordreichs entfernen lässt und am Ende in einem großen Staatsakt Pessach feiert, das Fest der Befreiung im Frühling, endlich so, wie das „Gesetz“ es vorsieht. Das Pessachmahl ist das Urbild der christlichen Abendmahlsfeier, auch daran mag man mit Blick auf den Frankfurter Kirchentag denken. 

Am Donnerstag feierte eine Handvoll Vertreter der großen Konfessionen auf dem Dach eines Frankfurter Parkhauses einen luftigen Eröffnungsgottesdienst mit Musik. Ein gemeinsames Abendmahl gab es nicht, wohl aber ein gemeinsames Bekenntnis des Glaubens. Heute (Samstag) Abend bin ich „live“ auf einer gemeinsamen Abendmahlsfeier im Rahmen des Kirchentags im Stadtteil. Ich weiss noch nicht genau, was mich erwartet, aber vielleicht wird es wirklich — neu!

Der Herr behüte uns in unsern Träumen und immer,
Ulf von Kalckreuth