Bibelvers der Woche 35/2022

Und am andern Tage, da Agrippa und Bernice kamen mit großem Gepränge und gingen in das Richthaus mit den Hauptleuten und vornehmsten Männern der Stadt, und da es Festus hieß, ward Paulus gebracht.
Apg 25,23

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

In der Schwebe — dauerhaft!

Der Vers beschreibt den Moment, wo vier Menschen zusammentreffen, um das Vorgefallene zu verstehen. Er steht in einer langen, verwickelten Geschichte. Wie einen literarischen Text kann man sie aufdröseln. Vielleicht stelle ich zunächst kurz die vier Menschen vor, die dramatis personae, mit Wikipedia-Links

Paulus: Chefmissionar ohne Kirche. Christ und Pharisäer, Jude von Geburt, Römer per Staatsbürgerschaft, und Grieche per Herkunft und Sprache. Als Missionar hat er gelernt, allen alles zu sein (1. Kor. 9, 19-23). Nun, da er in Gefangenschaft geraten ist, setzt er seine vielen Identitäten wie Reisepässe an der richtigen Stelle ein. 

Agrippa (Herodes Agrippa II), Klientelkönig der Römer, Enkel von Herodes des Großen, und nominell Herrscher über wechselnde Teile der römischen Provinz Syria. Wie andere Kolonialherren versuchen die Römer, ihre Macht möglichst über lokale Vertraute auszüben, deren Herrschaft in den Augen der Bevölkerung eine gewisse Legitimität besitzt. Agrippa steht auch die Oberaufsicht über den Tempel in Jerusalem zu, mit dem Recht, den Hohenpriester einzusetzen — damit kommt ihm eine Führungsposition in religiösen Fragen zu. 

Berenike: Schwester von Agrippa mit buntem und skandalträchtigem Leben, ist Vorlage vieler literarischer Darstellungen. Zur Zeit der Handlung lebt sie mit ihrem Bruder in einem auf Dauer angelegten Verhältnis. Sie wird später Geliebte von Titus, bevor dieser römischer Kaiser wird. Theodor Mommsen nannte sie „Kleopatra im Kleinen“.

Porcius Festus, Prokurator und Inhaber der römischen Befehlsgewalt in Cäsarea, ist als Nachfolger des Marcus Antonius Felix gerade in sein Amt gekommen. Er kennt sich in den jüdischen Interna nicht aus und ist besorgt, unnötige Konflikte zu vermeiden.

Was bringt die vier zusammen?

Paulus ist in Jerusalem von den Römern vor wütenden religiösen Juden in Sicherheit gebracht worden, die ihn im Tempel entdeckt hatten. Beinahe hätte ihn dort das Schicksal seines Meisters ereilt. Er kommt in eine Art Schutzhaft. Dies ist der Beginn eines schier unendlichen Zugs durch die Instanzen der römischen juridischen Maschine. Ein Oberst lässt ihn schlagen und bekommt es mit der Angst zu tun, als dieser sich auf sein römisches Bürgerrecht beruft. Paulus wird nach der Provinzhauptsatdt Cäsarea überstellt. Dort sollte der römische Statthalter Felix entscheiden, was mit dem sonderbaren Gefangenen geschehen mag, gegen den schwer greifbare, aber hochemotionale Beschuldigungen gerichtet werden. Felix überlässt diese Entscheidung seinem Nachfolger Festus und lässt Paulus derweil jahrelang in leichter Haft. 

Festus, der neue Prokurator, will gute Beziehungen zu den religiösen Juden und schlägt vor, man könne die Sache in Jerusalem entscheiden. Paulus lehnt ab — das Recht dazu hat er als römischer Staatsbürger offenbar — und verlangt, dass seine Sache vor einem kaiserlichen Gericht entschieden werden solle, in Rom also. Auch in diesem Fall würde sich das Problem für Festus erledigen, er hat daher nichts dagegen.  Aber von den Dingen der Juden und Christen weiß er so wenig, dass er nicht einmal eine Anklageschrift formulieren kann.

Und weil Agrippa, als Oberherr des Tempels mit seiner Schwester Berenike seinen Antrittsbesuch macht, lädt Festus das königliche Paar ein, den rätselhaften Gefangenen gemeinsam zu betrachten. Der gezogene Vers bringt die vier Menschen endlich zusammen.  

Agrippa kennt die christliche Lehre einigermaßen und versteht die Hintergründe des Konflikts. Er gibt Paulus Gelegenheit zu einer langen Verteidigungsrede, die dieser nutzt, um sich als frommer Jude mit einer besonderen Einsicht vorzustellen. Agrippa und die anderen Teilnehmer des Verhörs können keine Schuld erkennen. An diesem Punkt könnten der römische Prokurator und das königliche Paar ihn mühelos lossprechen. Statt dessen aber tritt Paulus seinen Weg nach Rom an — ohne Anklageschrift.  Dort wird sich die Geschichte von ungerichteter Haft und der Suche nach klaren Konturen noch viele Jahre lang fortsetzen, bis zu seinem Tod im Zuge einer Christenverfolgung unter Nero.

Wahrheit kann ungreifbar sein, mit den Begriffen, die uns zur Verfügung stehen.

Ich denke, das ist der Kern dieser sonderbaren Geschichte und unseres Verses. Niemand auf dem langen Instanzenweg vermag eine Schuld zu erkennen. Anders als bei Jesus von Nazareth, der in Jerusalem in fast der gleichen Lage recht schnell zu Tode kam, bleibt Paulus‘ Schicksal dauerhaft in der Schwebe. Er lebt eine Zwischenexistenz als Gefangener erster Klasse mit vielen Sonderrechten. Mit den Kategorien des römischen Rechts lässt sich das, wofür er steht, nicht fassen. Paulus vermag sich überall adäquat zu verteidigen. Die kolonialen Instanzen bleiben eigentümlich wirkungslos.

Aber sie geben ihn auch nicht frei. Es ist gleichzeitig offensichtlich und nicht justiziabel: Der Apostel ist eine Herausforderung, nicht nur für religiöse Juden, sondern auch für das römische Reich. So, wie niemand ihn schuldig sprechen kann, will auch niemand verantwortlich sein, ihn losgegeben zu haben. Er wird immer weitergereicht. Paulus hat keine Schuld, sondern ein Schicksal, eine Bestimmung. Gefangen, und doch frei. Er erreicht Rom nach vielen Monaten und einem Schiffbruch — und es wirkt nicht, als brächte ihn die römische Gerichtsbarkeit dorthin, eher so, als zöge seine Bestimmung ihn wie ein Magnetberg an… 

Ich kann es leider nicht besser sagen. Albert Camus hätte vielleicht eine großartige Erzählung daraus gemacht. Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche auf dem Weg zu unserer Bestimmung, was auch immer sie sei, 
Ulf von Kalckreuth

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