Ein Auge, das den Vater verspottet, und verachtet der Mutter zu gehorchen, das müssen die Raben am Bach aushacken und die jungen Adler fressen. Spr 30,17
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Licht und Schatten
Oh! Wer seine Eltern nicht achtet, den fressen die Raben! Was ist hier gemeint? Wessen Auge die Vögel aushacken, der ist vorher gestorben. Vielleicht wurde er gesteinigt? Dtn 20,18-21 legt die Todesstrafe für mißratene Söhne fest, und im Bundesbuch, Ex 21,15+17, wird der Tod für erwachsene Kinder gefordert, die ihre Eltern schlagen oder verfluchen.
Aber das Buch der Sprüche ist nicht die Torah, es ist ein Lehrbuch der Weisheit — oder besser: ein Übungsbuch, es sind Vorlagen zum Auswendiglernen. Der Vers sagt, dass die Raben das frevelnde Auge aushacken müssen (=werden), nicht, dass sie es tun sollen. Die Verachtung der Eltern trägt ihre Strafe in sich.
Den Schatten des Urteils im Vers nämlich wirft ein blendend helles Licht. Der familiäre Zusammenhalt ist in der Welt der Bibel elementar wie das Leben selbst. Die Familie erfüllt alle Funktionen der Daseinsvorsorge. Sie ist Alters-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Sie ist Schule und Ausbildungsstätte in einem. In und von seiner Familie erhält ein junger Mensch alles: die Sprache, Kenntnisse und Fertigkeiten, Beziehungen, seinen Patz im Leben, siehe BdW 34/2023, Die Familie stiftet die Ehe und übernimmt die immensen Kosten der Hochzeit. Und sie ist es auch, die das Wissen über die Welt und den Glauben an Gott weitergibt — beides gehört ununterscheidbar zusammen, In den zehn Geboten findet sich kein Aufruf, gesetzestreu zu sein und die Obrigkeit zu achten, sondern das Gebot, die Eltern zu ehren.
Das wirkt wie ferne Vergangenheit. Aber auch heute ist die Familie für die Chancen eines jungen Menschen von unschätzbarer Bedeutung. Ohne ihren Schutz und Hintergrund ist man schnell bei den Raben…
Wer seine Eltern nicht achtet, aus gutem Grund oder nicht, der steht vor einem schwierigen Leben. Und weil das so ist — was können Eltern tun, damit das nicht geschieht? Darüber denke ich immer wieder mal nach. Gestern gab mir meine Tochter eine Antwort. Als eine Auseinandersetzung fast aussichtslos wurde, hat sie mir geappt: „Heute habe ich gelernt, dass Liebe geduldig ist.“
Unser Vers oben steht in der Sammlung von Sprüchen eines Weisheitslehrers namens Agur. Zu Beginn des Kapitels gesteht er, dass er mit leeren Händen dasteht. Lesen Sie selbst, sein Bekenntnis rührt mich an:
Ich habe mich gemüht, o Gott, ich habe mich gemüht, o Gott, und muss davon lassen. Denn ich bin der Allertörichtste, und Menschenverstand habe ich nicht. Weisheit hab ich nicht gelernt, und Erkenntnis des Heiligen habe ich nicht. Wer ist hinaufgefahren zum Himmel und wieder herab? Wer hat den Wind in seine Hände gefasst? Wer hat die Wasser in ein Kleid gebunden? Wer hat alle Enden der Welt bestimmt? Wie heißt er? Und wie heißt sein Sohn? Weißt du das?
Das schreibt er etwa zeitgleich mit Sokrates. Unser Vers gehört zu dem wenigen, das er der Nachwelt dennoch hinterlassen will.
So gehorchet mir nun, meine Kinder. Wohl denen, die meine Wege halten! Spr 8,32
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Weisheit suchen und finden!
Schauen Sie sich erst einmal den wundervollen Abschnitt an, dem unser Vers entstammt. Hier spricht die Weisheit selbst:
Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als die Meere noch nicht waren, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens. Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über den Fluten der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als erdem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich als sein Lieblingbei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.
So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten! Hört die Mahnung und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind! Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore! Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom HERRN. Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod. (Sprüche 8, 22-36, Lutherbibel 1984)
Das Buch der Sprüche ist ein Lehrbuch der Weisheit — im wortwörtlichen Sinne. In seinem Kern ist es eine Sammlung von Merksätzen zum Auwendiglernen, die den Lehrstoff begreif- und erinnerbar machen sollen. Ich freue mich jedesmal, wenn ich auf einen Vers aus dem Buch der Sprüche ziehe. Was dabei zum Vorschein kommt, ist neu und vertraut zugleich. Und es ist 2300 Jahre alt, gut abgehangen, nicht immer garantiert tagesaktuell. Aber wenn ich das brauche, kann ich den Deutschlandfunk einschalten.
Die morgenländische Weisheit ist mit der griechischen Philosophie verwandt. Es geht um Regeln für gelungenes Leben. Diese Regeln stehen in Zusammenhang mit Gott. Sie sind aber nicht Theologie, sondern Kunst der Lebenspraxis. Man findet im Buch der Sprüche kaum Verweise auf die Torah oder die Schriften.
Die Regeln der Weisheit tragen sich selbst — wer sie befolgt, hat Erfolg, wer sie mißachtet, trägt den Schaden selbst. Wohl denen, die meine Wege halten! Jeder Lebensratgeber behauptet das von sich. Entscheidend aber ist, dass das Buch der Sprüche (auch) von Ethik handelt. Das „Wie soll ich leben“ bemißt sich nicht nur am individuellen Wohlergehen, sondern gleichermaßen am Wohlergehen der Gemeinschaft. Wir sehen hier üblicherweise einen Konflikt. Die Bonbons, die ein Kind sich vom Tisch nimmt, stehen für die anderen nicht mehr zur Verfügung. Die Weisheitsliteratur besteht darauf, dass es, wenn wir richtig leben, zwischen diesen Forderungen keinen Widerspruch gibt. Wer das für die Gemeinschaft richtige tut, bringt und hält sein eigenes Leben in Ordnung. Und umgekehrt: Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.
Wie soll man das verstehen? Als Ökonom fühle ich mich an Adam Smith erinnert. Er war Moralphilosoph und wurde zum Gründungsvater der Nationalökonomie. Er steht für die durchaus erstaunliche Botschaft, dass man längerfristig keinen Wohlstand erzielen kann, ohne dabei das Richtige für die Gemeinschaft zu tun. Wer reich werden oder auch nur am Markt bestehen will, reagiert auf Preissignale und kann gar nicht anders, er muß bestehende Knappheiten lindern. Er wird zum Beispiel Arzt — nicht um der Menscheit zu helfen, sondern weil Ärzte knapp und Behandlungen teuer sind. Der Porsche, den die Medizinstudentin während ihrer Vorlesungen vor Augen hat, lenkt sie und ihre Möglichkeiten sehr gezielt auf den rechten Weg. Auf ihren Altruismus müssen wir uns nicht verlassen… Andererseits: wen Preissignale nicht interessieren, muss dies teuer bezahlen — und zwar selbst.
Jeder weiss, dass es viele Situationen gibt, in denen der Markt nicht das Wohl aller garantiert. Aber das Preissystem als grundlegende soziale Institution ist erstaunlich robust, und es wäre schön, lebensnotwendig gar, wenn mehr Felder sich so entwickeln ließen, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen unserem Eigeninteresse und dem Wohl aller. Solche Wege sind dauerhaft und belastbar. Das Buch der Weisheit steht für die Überzeugung, dass es sie gibt.
Und so verstehe ich den Vers dieser Woche: Lasst uns diese Wege suchen und sie gehen! Es ist das Beste, das wir für uns selbst tun können. Ich selbst denke an die Klimakrise, es ist das, was mich zunehmend beruflich beschäftigt. Widersprüche zwischen Eigeninteresse und dem Interesse der Menschheit sind hier der Kern des Problems.
Jesus sagt uns, dass dieser Widerspruch Illusion ist, dass wir ihn überwinden müssen, dass wir bei Gott sind, wenn wir den Nächsten lieben wie uns selbst.
Der Herr gebe uns Weisheit, in der kommenden Woche und in unserem Leben. Ulf von Kalckreuth
Ein zänkisches Weib und stetiges Triefen, wenn’s sehr regnet, werden wohl miteinander verglichen. Spr 27,15
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.
Abperlen lassen!
Es gibt für mich wenig schlimmeres als diese Streitereien, die aus dem blauen Nichts entstehen, ins blaue Nichts führen und in der Zeit dazwischen alle Beteiligten regelrecht aufreiben. Das Buch der Sprüche ist ein Schulbuch, und zwar ein besonderes. Es enthält Lehr- und Merksätze der Weisheitslehre zum Auswendiglernen, als Teil eines Curriculums, siehe den BdW 50/2020. Die Weisheitslehre war die Lehre der Lebenskunst. Die dazugehörigen Lektionen gab es mündlich, sie stehen uns nicht mehr zur Verfügung. Wir können aber versuchen, sie uns anhand der Merksätze zu erschließen. Hier ist zunächst die ganze Sinneinheit, zitiert aus der Lutherbibel 2017:
Ein zänkisches Weib und ein stetig tropfendes Dach, wenn’s sehr regnet, lassen sich miteinander vergleichen: Wer sie aufhalten will, der will den Wind aufhalten und will Öl mit der Hand fassen.
Der Vergleich mit dem tropfenden Dach findet sich auch in Sprüche 19,13: Ein törichter Sohn ist seines Vaters Herzeleid, und eine zänkische Frau wie ein stetig tropfendes Dach. Das Bild vom „Haschen nach Wind“ für vergebliches Tun kennen viele aus Prediger, einem eng verwandten und sehr eindrücklichen Text der Weisheitsliteratur.
Der Duden gibt ‚zänkisch‘ mit rechthaberisch, streitsüchtig und unverträglich wieder. Darüber hinaus hat das Wort im Deutschen eine Konnotation mit dem weiblichen Geschlecht. Als Anwendungsbeispiel gibt der Duden „zänkisches altes Weib“ an. Rechthaberische, streitsüchtige und unverträgliche alte Männer gibt es auch, aber einen zänkischen alten Mann würde man sich irgendwie weiblich vorstellen. So weit kann ich folgen, es gibt wohl wirklich eine weibliche Variante der Streitsucht. Aber die männliche ist nicht schöner, und auf sie würde der Vergleich mit dem Dach ebenso gut passen. Die geschlechtliche Konnotation ist somit überflüssig.
Im hebräischen Original steht ein Wort, das ‚zanken‘, ’sich streiten‘ bedeutet, aber auf eine Wurzel zurückgeht, die ‚richten‘, ‚Recht schaffen‘ bedeutet. Es geht also um Menschen, die sich zwanghaft im Recht wähnen, bzw. ihr Recht ständig durch andere verletzt sehen. Eigentlich sehr deutsch. Nicht einmalige Ausbrüche sind gemeint, sondern eine Verhaltenstendenz, die autonom und unveränderlich ist, eben wie ein stetig tropfendes Dach. Sichtbar wird das Tropfen nur bei Regen, undicht aber ist das Dach auch, wenn die Sonne scheint. Die Unfähigkeit, etwas ab- und von sich wegzuhalten ist gemeint. Und die Auseinandersetzung mit solchen Menschen, so der Vers, ist sinnlos und Zeitverschwendung
Aggressive Negativität hat etwas Sündhaftes. Sie trägt innere Unruhe und Unfrieden nach aussen und überträgt sie wie einen Virus auf Menschen der Umgebung. Diese sollten sich davon so frei wie nur möglich machen, die Ansteckung vermeiden — auch aus epidemiologischen Gründen: das Beziehungsgeflecht muß geschützt werden. Die Auseinandersetzung führt zu nichts.
Ich wünsche uns ein gesegnetes Pfingstfest, eine Woche in innerer Ruhe und Frieden, mit Gottes Hilfe, Ulf von Kalckreuth
Züchtige deinen Sohn, solange Hoffnung da ist; aber lass deine Seele nicht bewegt werden, ihn zu töten. Spr 19,18
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.
Dein Stecken und Stab…
Ein schwieriger Vers, um es vorsichtig zu sagen. Ich habe zwei Kinder, die mich nicht selten an den Rand meiner Möglichkeiten bringen, und die ersten Assoziationen, die ich hatte, waren politisch nicht korrekt — von wegen „Vielleicht hätte ich die Bibel früher lesen sollen…“
Aber was steht hier? Ist es die Aufforderung, Gewalt einzusetzen? Der Text, den wir vor uns haben, ist rund 2300 Jahre alt. Das Verb jasar (יסר) im Althebräischen bedeutet sowohl züchtigen als auch erziehen. Eine klare Unterscheidung zwischen diesen beiden Konzepten gab es nicht. Sein Kind zu erziehen, bedeutete damals, es zu züchtigen. Für die Liebhaber unten ein Foto aus Wilhelm Gesenius‘ hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Neudruck der 17. Auflage 1915, mit den Facetten dieses Wortes.
Züchtigung / Erziehung bedeutete für denjenigen, der sie leistete, einen großen Aufwand — nur wenn (oder nur weil) Hoffnung auf Erfolg besteht, soll man sich die Mühe machen. Im Urtext steht hier כי, das würde man eher mit „weil“ als mit „solange“ übersetzen. Der zweite Teil des Verses bedeutet dem Erziehenden, maßvoll zu bleiben, sich nicht zu (massiven) Gewaltakten hinreissen zu lassen. Mit anderen Worten: Tu was, aber tu es maßvoll.
Unser Vers hat keinen direkten Kontext, er steht unverbunden in einer Reihe von Merksätzen zu verschiedenen Bereichen des Lebens. Aber es gibt im Buch der Sprüche eine Anzahl paralleler Stellen. Im Internet habe ich eine kleine Sammlung gefunden:
13,24: Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn, wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.
22,15: Torheit steckt dem Knaben im Herzen, aber die Rute der Zucht treibt sie ihm aus.
22,13+14: Lass nicht ab, den Knaben zu züchtigen; denn wenn du ihn mit der Rute schlägst, so wird er nicht sterben; du schlägst ihn mit der Rute, aber du errettest ihn vom Tode.
29,15: Rute und Tadel gibt Weisheit; aber ein Knabe, sich selbst überlassen, macht seiner Mutter Schande.
Das ist herbe Sprache. Wiederum muß man bedenken, dass zwischen erziehen und züchtigen nicht unterschieden wird. Gewaltfreie Erziehung gab es nicht, das Gegenstück zu autoritärer Erziehung war nicht antiautoritär, sondern Vernachlässigung. Die gab es durchaus, das klingt durch. Erziehen bedeutet, Verhaltenstendenzen in einer Weise zu formen, dass sie dem Leben dienlich sind, dem Leben des Einzelnen und auch der ihn umgebenden Gemeinschaft. Das ist eine lebenswichtige Bringschuld der Eltern! Der homo oeconomicus, der stets in der Lagte ist, situationsadäquat rationale Entscheidungen zu treffen, braucht keine Erziehung. Aber er ist eine Fiktion. In Wahrheit sind wir für die vielen kleinen Entscheidungen und auch für die meisten großen auf unsere Verhaltenstendenzen angewiesen, auf dasjenige also, was wir ‚aus dem Bauch heraus‘ tun, weil wir es so gelernt haben, so gewohnt sind.
Unser Vers und die anderen sagen den Eltern — in der Sprache des ersten Jahrtausends v. Chr. — dass sie sich die nötige Mühe geben müssen, dem Verhalten ihres Kindes eine Richtung zu geben, die dem zukünftigen Erwachsenen helfen, die richtigen Gewohnheiten anzunehmen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das Kind benötigt diese Weisung in grundlegender Weise (13,14 und 22,13f).
Eltern haben ihren Erziehungsauftrag von Gott. Und man glaubte, dass Gott seinerseits mit uns so verfährt, wie Eltern es mit ihren Kindern tun sollen. Dein Stecken und Stab trösten mich… In den Psalmen ist diese Idee fest verankert und auch bei den Propheten. Es wäre schön, nicht wahr? Unser Leiden hätte einen sehr konkreten, erzieherischen Sinn und Zweck. Wenn mir Unglück widerfährt, frage ich mich tatsächlich früher oder später, was ich daraus lernen kann. Und dann fällt mir oft einiges dazu ein. Aber nicht immer.
In den kommenden drei Wochen muss ich mich um meine beiden halbwüchsigen Töchter allein kümmern, neben der Arbeit. Wer uns kennt, weiss, das dies schwierig werden könnte. Wie leicht wäre es da, sie einfach tun zu lassen, was sie wollen, mir zum Nutzen, ihnen zum Schaden. Ich werde der Versuchung widerstehen, so gut es geht.
Ich wünsche uns allen, und diesmal besonders uns dreien, eine gesegnete Woche, Ulf von Kalckreuth
Wie man einen Knaben gewöhnt, so lässt er nicht davon, wenn er alt wird. Spr 22,6
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.
Wann werden wir, was wir sind?
Ja, so ist. Das meiste dessen, was wir sind, sind wir von Jugend auf. Die Kinder übergewichtiger Eltern sind öfter als andere selbst übergewichtig. Wenn in einem Haus viel Musik gemacht wird und Kinder ein Instrument spielen lernen, bleibt ihnen Musik oft ins Alter hinein erhalten. So steht es auch mit Bewegungsgewohnheiten und Sport und dem Gebrauch der Sprache, aber auch grundlegenden Persönlichkeitsmerkmalen wie Leistungsmotivation oder Frustrationstoleranz.
Wieviel von dem, was Sie heute ausmacht, waren Sie schon mit 15 oder 18 Jahren? Wir kommen zur Welt und alles an uns ist Potential, ist offen, im genetisch gegebenen Rahmen jedenfalls. In der Jugend erhält dieses Potential seine Ausprägung, koaguliert und gerinnt der fast unendliche Raum von Möglichkeiten zu dem, was wir Persönlichkeit nennen. Man mag dies als Verlust bedauern, aber die Persönlichkeit ist das Chassis für die Fahrt durchs Leben. Ohne ihre Strukturen, ihre Gewohnheiten geht es nicht.
Der 2500 Jahre alte Merksatz trifft also den Nagel auf den Kopf. Aber führen wir wirklich nur das Skript aus, das unsere Jugend für uns geschrieben hat? Schimpansen sind uns sehr ähnlich. Bei ihnen aber schliesst sich mit der Pubertät das Fenster, in dem sie lernen können. Sie sind dann „fertig“. Der Mensch ist offener. Wir können uns aktiv mit den Problemen auseinanderzusetzen, in die unsere Gewohnheiten uns bringen, auch als Erwachsene noch. Bei manchen mögen zum Beispiel die erworbenen Essgewohnheiten zu einer Krise und zu einer bewussten Neubesinnung führen. Hier ist die Verantwortung für das eigene Leben verortet. Die Jugend ist der Aufschlag für das Spiel, aber der Punkt ergibt sich aus dem Ballwechsel.
Zum Buch der Sprüche und seinen Eigenarten habe ich vor einigen Wochen geschrieben, und auch davon, dass seine Einsichten nicht im engeren Sinne theologisch sind, siehe den BdW 50/2020. Es geht um Weisheit für das Leben als Ganzes. Der Vers mag uns in zweifacher Weise an unsere Verantwortung erinnern. Zum einen ist es gleichermaßen schwierig und notwendig, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Nie können wir uns einfach wünschen, jemand anders zu sein — wir müssen uns mit unserer Bedingtheit auseinandersetzen. Aber tun wir es nicht, bleiben wir in unseren Routinen gefangen.
Zum anderen tragen wir mit unserem Leben in der Familie eine Verantwortung für unsere Kinder. Die Machtkämpfe, das Geschrei, sind am Ende unwichtig — unter dem Strich bleibt, was die Kinder in ihrem Leben „danach“ stark macht oder schwach, glücklich oder unglücklich. Das kann eine wichtige Anregung sein, wenn man monatelang zu viert eingesperrt ist.
Zuletzt mag man sich fragen, was eigentlich unsere Seele ausmacht — ist es der unendliche Möglichkeitenraum des Kindes oder die geronnene Persönlichkeit des Erwachsenen? Worin sind wir Gott näher? „Ihr sollt werden wie die Kinder“, sagt Jesus, „denn ihrer ist das Himmelreich.“ Vielleicht schließt sich da ein Kreis.
Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche! Ulf von Kalckreuth
Sie ist edler denn Perlen; und alles, was du wünschen magst, ist ihr nicht zu vergleichen. Spr 3,15
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Vom Wert der Weisheit
Oh, das wird nicht einfach. Der Vers stammt aus dem Buch der Sprüche, einem Stück der Weisheitsliteratur. Er hat die Weisheit selbst zum Thema und benennt ihren Wert. Ein Vater spricht zu seinem Sohn (3,13-18):
Wohl dem Menschen, der Weisheit erlangt, und dem Menschen, der Einsicht gewinnt! Denn es ist besser, sie zu erwerben, als Silber, und ihr Ertrag ist besser als Gold. Sie ist edler als Perlen, und alles, was du wünschen magst, ist ihr nicht zu vergleichen. Langes Leben ist in ihrer rechten Hand, in ihrer Linken ist Reichtum und Ehre. Ihre Wege sind liebliche Wege, und alle ihre Steige sind Frieden. Sie ist ein Baum des Lebens allen, die sie ergreifen, und glücklich sind, die sie festhalten.
Diese Sätze sind zentral. In 8,10f. werden sie fast wörtlich wiederholt, und dort spricht die Weisheit selbst. Der Vergleich mit Silber und Gold taucht darüber hinaus noch zwei weitere Male auf.
Bei mir haben die Sätze nicht sofort verfangen. Ich war sogar erst ein wenig enttäuscht. Was sollte ich dazu schreiben? Man soll klug sein, ja, das habe ich schon als Schüler gelernt. Um den Wert des Wissens wusste ich stets, und immer wieder im Leben war ich bereit, dafür auch Verzicht zu leisten. Nicht nur um den Ertrag von Studien geht es: wem die Übersicht fehlt, wer die Vorgänge in seiner Umgebung nicht einordnen kann, ist schnell verloren. Ökonomen bezeichnen den Wert der Kenntnisse und Fähigkeiten eines Menschen als sein „Humankapital“: es sind Mittel zur Erzielung von Einkommen. Die Schule, eine Ausbildung, Lernen, Üben werden als Investition betrachtet: Heute auf Silber und Gold verzichten, um morgen erweiterte Möglichkeiten zu haben. So ist die Welt tatsächlich, und die einfache Idee hat gewaltige Implikationen für das Verständnis der Verteilung der Einkommen und der Lebenschancen. Nicht jedem gefällt die Vorstellung. Im Jahr 2004 wurde „Humankapital“ gar zum Unwort des Jahres gekürt. Eine Schwundstufe der Idee habe ich vergangenen Mittwoch in einer S-Bahn gefunden: eine Personalwerbung der hessischen Finanzverwaltung. Hier ist ein Bild:
Nun IST aber Humankapital Gold und Silber, es will gerade NICHT etwas anderes sein. Hier und an anderen Stellen spricht der Bibeltext — bzw. ein Mensch dahinter — wahrhaft euphorisch, beinahe trunken über den Wert der Weisheit. Sie ist Emanation Gottes, wie sonst die Torah, und kein Superlativ genügt — alles, das du dir wünschen magst, ist ihr nicht zu vergleichen. Es geht also um mehr. Was hat es auf sich mit der Weisheit? Lassen Sie uns nachdenken.
„Ich, die Weisheit, wohne bei der Klugheit und finde Einsicht und guten Rat“ heisst es in 8,12. Weisheit und Klugheit sind verwandt, aber nicht dasselbe. Das Buch der Sprüche ist ein Lehr- und Lernbuch, die Spruchsammlungen sind Vorlage fürs Auswendiglernen. Der Lehrer und die Lehre dazu fehlt uns, und so wirkt die in Sprüchen geronnene Weisheit manchmal dröge. Man sollte nicht viele davon schnell hintereinander lesen. Überwiegend folgen die Merksätze einem gemeinsamen Schema: für eine Eigenschaft, Gewohnheit, Einsicht oder Maxime wird in einem Doppelvers festgestellt, wie es dem geht, der ihnen folgt, und andererseits demjenigen, der dies nicht tut. Dabei sind oft Dinge angesprochen, die ich der Lebensklugheit zuordnen würde — wir sollen nicht bürgen, nicht offen schlecht über Mächtige reden, Prahlerei vermeiden, Streit aus dem Weg gehen, wir sollen Fleiß und Zielstrebigkeit entfalten. Manches klingt wie der Rat, sich regelmäßig die Zähne zu putzen. Anderes betrifft Gegenstände, die wir der Ethik zuordnen würden. Immer wieder wird vor den verderblichen Folgen des Ehebruchs gewarnt. Ehrlichkeit und Authentizität wird groß geschrieben, das Ränkeschmieden verdammt. Die überragende Bedeutung der Eltern für das Leben wird betont, und Neid und Missgunst in allen Facetten angeprangert. Dabei fällt die Nähe zu den zehn Gebote auf.
In der undifferenzierten Mischung steckt die wichtigste Botschaft. Zwischen Lebensklugheit und Ethik besteht kein Widerspruch — sie sind gar ein und dasselbe, wenn man das Leben versteht. Wir sollen klug und umsichtig sein, die Zeichen der Zeit erkennen, ja. Aber wer seine Eltern verachtet, lügt oder die eigene Ehe mißachtet, wird sein Leben nachhaltig beschädigen, gerade so, wie wenn er faul in den Tag hinein lebt oder leichtfertig Bürgschaften übernimmt. Gottes Gebote sind Rezepte für ein gelingendes Leben. Wir nehmen uns nicht nur unserem Nächsten zuliebe zurück, wir tun es in erster Linie für uns selbst. Gott wird im Buch nur sehr gelegentlich als strafende Instanz angesprochen, meist ist er Beobachter oder Zeuge der Vorgänge. Ethik und Lebensklugheit gehören zusammen und sind gemeinsam Voraussetzung für ein gelungenes Leben.
Wer sie als Gegensätze sieht, ist schnell bei einer Ethik nach Kassenlage und hält Prinzipien hoch, wenn und solange er sie sich leisten kann. Wir sollen stattdessen das Netz weiter werfen, über den scheinbaren Gegensatz hinaus Wege finden, auf denen der Zusammenklang gelingt. Solche Wege zu kennen und zu finden ist in der Tat mehr wert als Gold, Silber und Perlen.
Ich lebe in einer Familie mit zwei Kindern, die nun in der dunklen Jahreszeit weitgehend auf sich selbst gestellt ist. Den Kindern fehlen Bewegungsmöglichkeiten und Ablenkung. Der Stresspegel ist hoch. Vier Monate Corona-Winter mit langen Ferien liegen vor uns. Da liegt es nahe, die Warnungen zu ignorieren und Winterurlaub in den Alpen zu machen. Die Schweiz lädt herzlich ein, und Geld ist gottlob da. Hier steht Ethik gegen Lebensklugheit, nicht wahr? Aber vielleicht verwirklichen wir stattdessen einen alten Traum und nehmen einen Hund aus dem Tierheim zu uns. Wir werden täglich stundenlang draussen sein, das Tier wird viel der Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die wir sonst mißvergnügt gegeneinander richten würden. Dem Hund mag es Einstieg sein in ein besseres Leben, und uns können die einfachen, aber unabweisbaren Forderungen der Tierpflege helfen, mehr Struktur ins virtuell gewordene Leben zu bringen. Und ins Skihotel können wir mit dem Tier gar nicht…
Was würde das Buch der Sprüche dazu sagen? Vielleicht, dass wir als Skiurlauber bei der Wiedereinreise sicher einen Corona-Test machen müssen und dann in Quarantäne kommen. Aber meinen würde es damit, dass wir Platz machen sollten in unserem kleinen Haus für einen Hund…
An manchen Stellen transzendiert das Buch der Sprüche die eigentlich empirisch gemeinte Identität von gottgefälligem Verhalten und Lebensklugheit. Hier ist ein Vers, der mir am Herzen liegt. Vielleicht ist das so etwas wie ein Kondensat des Buchs. Es ist mein Konfirmationsspruch:.
Befiel dem Herrn deine Werke, so wird dein Vorhaben gelingen. (8,19)
Eine Erinnerung an den Wert der Weisheit kommt stets zur rechten Zeit. Ich wünsche uns eine gesegnete zweite Adventswoche. Ulf von Kalckreuth
Sie streckt ihre Hand nach dem Rocken, und ihre Finger fassen die Spindel. Spr 31,19
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
Manifest der Weiblichkeit
Das Lob der tüchtigen Frau. Eine Schrift aus dem Orient, 2500 Jahre alt, geschrieben vermutlich von einem Mann… Das erzeugt Erwartungen, und gegen unsere Erwartungen muss der Text sich selbst verteidigen. Bitte lesen Sie ihn, und vielleicht merken Sie sich die Stellen, die Sie überraschen:
Wem ein tugendsam Weib beschert ist, die ist viel edler denn die köstlichsten Perlen. Ihres Mannes Herz darf sich auf sie verlassen, und Nahrung wird ihm nicht mangeln. Sie tut ihm Liebes und kein Leides ihr Leben lang. Sie geht mit Wolle und Flachs um und arbeitet gern mit ihren Händen. Sie ist wie ein Kaufmannsschiff, das seine Nahrung von ferne bringt. Sie steht vor Tages auf und gibt Speise ihrem Hause und Essen ihren Dirnen. Sie denkt nach einem Acker und kauft ihn und pflanzt einen Weinberg von den Früchten ihrer Hände. Sie gürtet ihre Lenden mit Kraft und stärkt ihre Arme. Sie merkt, wie ihr Handel Frommen bringt; ihre Leuchte verlischt des Nachts nicht. Sie streckt ihre Hand nach dem Rocken, und ihre Finger fassen die Spindel. Sie breitet ihre Hände aus zu dem Armen und reicht ihre Hand dem Dürftigen. Sie fürchtet für ihr Haus nicht den Schnee; denn ihr ganzes Haus hat zwiefache Kleider. Sie macht sich selbst Decken; feine Leinwand und Purpur ist ihr Kleid. Ihr Mann ist bekannt in den Toren, wenn er sitzt bei den Ältesten des Landes. Sie macht einen Rock und verkauft ihn; einen Gürtel gibt sie dem Krämer. Kraft und Schöne sind ihr Gewand, und sie lacht des kommenden Tages. Sie tut ihren Mund auf mit Weisheit, und auf ihrer Zunge ist holdselige Lehre. Sie schaut, wie es in ihrem Hause zugeht, und ißt ihr Brot nicht mit Faulheit. Ihre Söhne stehen auf und preisen sie selig; ihr Mann lobt sie: „Viele Töchter halten sich tugendsam; du aber übertriffst sie alle.“ Lieblich und schön sein ist nichts; ein Weib, das den HERRN fürchtet, soll man loben. Sie wird gerühmt werden von den Früchten ihrer Hände, und ihre Werke werden sie loben in den Toren.
Der Abschnitt schließt das Buch der Sprüche ab. Dort geht es um Wege „richtigen“ Lebens, die gottgefällig sind und sich empirisch bewährt haben. Und er hat sein Spotlight: Juden rezitieren das ‚Lob der tüchtigen Frau‘ an jedem Schabbat vor dem Mittagessen.
Wer in der Bibel liest, mag sich oft wundern. Hier ist ein Manifest der Weiblichkeit, ein Lebensentwurf aus der orientalischen Antike, so breit, dass er für zwei oder drei Menschen reichen würde… Ich lese den Abschnitt nochmals und ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich selbst — alter weisser Mann, der ich bin — gern tauschen wollte mit dieser Frau. Ihr Leben ist im Gleichgewicht. Sie wirkt nach außen, sie wirkt in die Familie, sie wirkt nach innen, in die eigene Person, und sie ist in Verbindung mit ihrem Schöpfer. Vier Anker. Ja, sie streckt ihre Hand aus nach dem Rocken und ihre Finger fassen die Spindel, aber das ist Teil eines weit gespannten, großzügigen und ganzheitlichen Lebens. Sie weiß, was sie will und lässt wachsen, was nötig ist dafür. Wie wäre es, wenn man von uns sagen könnte, dass Kraft und Schöne unser Gewand seien und wir des kommenden Tags lachten?
Darf ich uns allen eine solche Woche wünschen? Ich tu’s einfach! Ulf von Kalckreuth
Nachtrag: Wie der Zufall wollte, besuchte ich heute nachmittag eine Sonderausstellung des Museums im Römerkastell Saalburg. Und da waren Rocken und Spindel zu sehen, und eine Frau, die beides hält. Der Rocken ist ein Stab, an dem die noch unversponnenen Fasern befestigt sind und die Spindel wird gedreht, verwandelt die Faser in einen Faden und nimmt ihn auf. Dies zu koordinieren verlangt viel Übung und eine hervorragende Feinmotorik. Die Handspindel ist uralt: sie stammt aus der Jungsteinzeit und kam erst nach dem Aufkommen des Spinnrads im Spätmittelalter allmählich außer Gebrauch.
Ein Kluger sieht das Unglück und verbirgt sich; aber die Unverständigen gehen hindurch und leiden Schaden. Spr 27,12
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.
Was ist Weisheit?
Das könnte in jedem Karriereratgeber stehen und es ist ganz sicher „richtig“: Steht man vor unabwendbarem Unheil, dann sind keine Kämpfertugenden mehr gefragt — überleben wird, wer sich klein macht, niedriges Profil zeigt und und es versteht, besseren Zeiten abzuwarten. In unserer eigenen Geschichte war diese Regel im Jahr 1933 ebenso einschlägig wie im Jahr 1945.
Dennoch ist der Spruch in mehrerer Hinsicht interessant. Das Buch der Sprüche gehört zur sog. Weisheitsliteratur, ebenso wie das Buch Kohelet (Prediger). In Letzterem aber wird sehr nachdrücklich die These vertreten, dass man dem guten Rat aus Spr 27,12 gar nicht folgen kann. Denn dazu müsste ja die Zeichen der Zeit erkennen. Der Prediger vertritt die Auffassung, dass es für alles Konjunkturen gibt, Zeiten, in denen etwas gelingt oder misslingt: allein von diesen Konjunkturen hängt es ab, ob unser Bestreben Erfolg hat:
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit,… (Pr 3,1ff.)
Die Tragik liegt für den Prediger nun darin, dass es dem Menschen nicht gegeben ist, die relevante Konjunktur zu erkennen, und dass deswegen all sein Streben notwendig vergeblich bleibt: „Alles ist eitel…“
Seit einigen Tagen schon lese ich das Buch Jeremia. Es handelt vom Untergang des hebräischen Südreichs, Juda, und es ist gut möglich, das beide, der Prediger und der unbekannte Verfasser unseres Bibelverses oben, konkret an diese traumatische Zeit zurückdachten.
Es geht um ein Politikspiel mit blutigem Ausgang. Zedekia, der letzte König von Juda, war stark geschwächt. Juda musste zuvor schon vor Nebukadnezar kapitulieren, viele Einwohner, darunter der größte Teil der Elite waren aus Jerusalem nach Babylon weggeführt. Zedekia selbst war von Nebukadnezar als Vasall eingesetzt und hatte dem babylonischen Großkönig bei Gott dem Herrn die Treue geschworen. Aber die Befestigungen Jerusalems waren intakt und Zedekia verfügte über eine funktionierende Armee, denn Juda sollte für Babylon eine strategische Stütze gegen das feindliche Ägypten sein. In den Jahren danach geriet der babylonische König in Schwierigkeiten. Ein Feldzug gegen Ägypten misslang, und er musste Kriege gegen abhängige Königreiche im Norden führen. Nun machte der ägyptische Pharao Jerusalem Avancen und versprach Zedekja, ihm den Rücken freizuhalten, wenn er sich von Babylon lossagte. Würde Nebukdadnezar die Kraft haben, darauf nochmals zu reagieren? Und würde er es überhaupt wollen? Babylon war 1600 km entfernt und es gab eine Anzahl anderer rebellischer Provinzen und Vasallenreiche.
Was waren hier die Zeichen der Zeit? Zedekia wusste es lange nicht. Auch die Berater waren gespalten. Jeremia sah genau, was die Konsequenzen der beiden Optionen sein würden, aber das half dem König nichts, es gab mehrere Propheten, die eine ganz andere Botschaft hatten. Jeremia nannte sie „Lügenpropheten“, und so nannten diese ihrerseits Jeremia. Zedekia sah die Chance, die Schwäche des Imperiums im Norden auszunutzen und Juda zu alter Größe zurückzuführen, ganz wie sein Vater Josia es einst mit den Assyrern getan hatte. Konnte er diese Gelegenheit verstreichen lassen?
Schließlich stellt Zedekia die Tributzahlungen an Nebukadnezar ein und sagt sich vom Großkönig los. Die erste Hoffnung wird enttäuscht: Nebukadnezar gelingt es, rasch eine Armee nach Syrien / Palästina zu führen. Auch die zweite Hoffnung trügt: Vor die Wahl gestellt, nach Jerusalem oder gegen das benachbarte, gleichfalls aufständische Ammon zu ziehen, entscheidet sich Nebukadezar für Jerusalem. Er fällt in das Land ein. Zunächst schließt er keinen Belagerungsring um die Stadt. Er bleibt mobil: erst müssen die anderen Festungen Judas niedergekämpft werden, und da sind auch noch die Ägypter. Diese erfüllen ihr Versprechen und starten einen Entlastungsangriff. Die Babylonier ziehen tatsächlich ab, den Ägyptern entgegen. Aber dann erweist sich auch die letzte Hoffnung als leer: der Angriff der Ägypter wird abgewehrt und die Verbündeten ziehen sich zurück. Nun ist die Stadt eingeschlossen, niemand kann sie verlassen, Wasser und Vorräte gehen zu Ende, Seuchen brechen aus — am Ende fällt sie fast widerstandslos und wird zerstört, viele der überlebenden Bewohnern werden weggeführt. Das Reich geht unter.
Wer hat hier recht — der Prediger oder der unbekannte Autor des BdW? Irgendwie beide, auf ihre je eigene Art. Der Prediger hätte von der Rebellion a priori abgeraten, weil Zedekja nicht in der Lage sein würde, die dafür erforderlichen Informationen zu sammeln und richtig zu deuten. Der Autor von Spr 27,12 hätte gesagt, der König die Vergeblichkeit des Unterfangens durchaus hätte sehen können, wenn er denn weise gewesen wäre. Im Licht des BdW war die Rebellion schlicht die Handlung eines Unverständigen. So sieht es natürlich auch Jeremia: bereits früh kommt für ihn das Unheil klar sichtbar und unaufhaltsam aus dem Norden. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass Zedekia — anders als Jeremia ohne Zugang zu Gottes Ratschluss ex machina — gar keine Möglichkeit hatte, die hoch ambivalente Lage abgesichert zu beurteilen. Dann hätte geholfen, wenn er mit dem Prediger seine fehlende Erkenntnis erkannt hätte.
Worin also liegt Weisheit? Die Umstände richtig zu deuten, oder um die Grenzen der eigenen Erkenntnismöglichkeiten zu wissen? Oder gar darin, zu unterscheiden, welche Art Weisheit jeweils angebracht ist? In allen drei Fällen gilt es, achtsam zu schauen und zu hören, auch nach innen — und vielleicht nehmen wir wahr, dass Gott doch zu uns spricht.
Ich wünsche uns Weisheit von der je richtigen Sorte, in dieser Woche und darüber hinaus, Ulf von Kalckreuth
…und meine Nieren sind froh, wenn deine Lippen reden, was recht ist. Spr 23,16
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.
Sprechhandlungen
Das Buch der Sprüche gehört zur Weisheitsliteratur, ebenso wie der Prediger (Kohelet), das Hohelied, Hiob und manche Psalmen. Es enthält Erfahrungssätze für gelingendes Leben. Dabei geht es davon aus, dass solche Grundsätze ihre Belohnung in sich selbst tragen: sie fördern das Glück und wehren dem Schaden, individuell wie kollektiv, weil ihre Befolgung das Leben verbessert, nicht in erster Linie, weil ein strafender Gott dahinter steht.
Das ist wichtig für unseren Vers. Wir sollen nicht reden was recht ist, weil es sich so gehört und Gott es von uns verlangt, sondern weil es das Beste für uns ist. Der ganze Satz lautet:
Mein Sohn, wenn dein Herz weise ist, so freut sich auch mein Herz; und meine Nieren sind froh, wenn deine Lippen reden, was recht ist.
Sprecherin ist die Weisheit, als Person. In Kapitel 8 sehen wir sie als Schöpfungsmittlerin, sie spielt zu den Füßen Gottes. Die Nieren galten den Hebräern als der Sitz von Empfindungen und Emotionen, nicht der Seele übrigens (die Übersetzung von 2017 will Reibung vermeiden und ist ungenau!) Rechtes Reden ist für die personifizierte Weisheit also von essentieller, quasi körperlicher Bedeutung. Die Forderung ist, anders als viele andere in Kap. 23, weder selbstevident noch wird sie begründet. Warum ist es für uns gut „zu reden, was recht ist“?
Im modernen Deutsch gibt es das Wort „Lippenbekenntnis“. Unterstellt wird dabei ein Auseinanderklaffen von Wort und Handlung. Aber Worte sind selbst Handlungen. Die Linguistik kennt den Begriff der Sprechhandlung: in der Tat „tun“ wir das meiste mit Worten. In der hebräischen Kultur war dies eine sehr grundlegende Vorstellung: Gott schafft die physische Welt mit Worten, und sein Wort, die Torah, konstituiert die geistige Welt. Wie Gott sind wir fähig, mit Worten Wirklichkeit zu schaffen: Durch Benennen, durch Segen und Fluch, durch Lob und Klage, Argumente, Gebet, Urteil, Preis, Verachtung und Zynismus erschaffen wir die Welt um uns herum. Und wenn in den Psalmen immer wieder ausführlich die bösen Taten der Feinde beschrieben und beklagt werden, so geht es dort zuallermeist um Reden: abwertendes, lügnerisches, betrügerisches, verleumderisches, meineidiges Reden. Vielleicht deshalb ist die Forderung nicht begründet — für den zeitgenössischen Leser war sie selbstevident!
Unsere Rede schafft unsere Haltung, und unsere Haltung schafft — langfristig, über die Jahre und vielleicht erst über die Generationen — unsere Welt.
Ich wünsche uns eine Woche, in der es uns gelingt, zu reden, was recht ist. Ulf von Kalckreuth
P.S. Hier ist eine Website, die Verse aus dem Buch der Sprüche per Zufallsgenerator zieht. Das ist natürlich kein Ersatz für den Bibelvers der Woche…!
Wie einem Krüppel das Tanzen, also steht den Narren an, von Weisheit zu reden. Spr 26, 7
Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.
Der Spruch handelt von Weisheit und Torheit und macht Aussagen über Menschen, die darüber zu reden wagen. Man kann diesen Spruch nicht kommentieren, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben… 🙂
Eine Woche in Weisheit wünscht uns Ulf von Kalckreuth