Bibvelvers der Woche 51/2024

…und sah Ephraims Kinder bis ins dritte Glied. Auch wurden dem Machir, Manasses Sohn, Kinder geboren auf den Schoß Josephs.
Gen 50,23

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Pluribus ex unum

Ich muß Sie heute um etwas Geduld bitten — von den Vätergeschichten geht es über die Stämme zu einer Wahrheit, die uns alle angeht. 

Wir haben hier einen der letzten Verse des Buchs Genesis. Josef wird in Ägypten hundertzehn Jahre alt, reich und mächtig. Seine Familie ist wiedervereint. Unser Vers folgt unmittelbar auf die Segenswünsche und Schutzzusagen an seine Brüder. Joseph hat zwei Söhne, Ephraim und Manasse. Im Vers wird außerdem Machir genannt, ein Sohn Manasses. 

Der Bibel ist sehr wichtig, dass sich die Stämme Israels auf einen gemeinsamen Vater zurückführen lassen — Jakob. Ihm wurde von Gott der Beiname Israel verliehen. Die Zahl zwölf steht für Vollkommenheit. Zwölf Söhne, zwölf Stämme, im Grunde aber eins. Pluribus ex unum — viele aus einem.

In der editorischen Durchführung ist das gar nicht so einfach. Es gab zwölf Stammesterritorien, ja. Aber es gab auch die landlosen Leviten, eine Kaste von Tempeldienern, die sich als eigenen Stamm verstanden und ebenfalls auf Jakob zurückführten. Also führt man zwei der Territorien — Manasse und Ephraim — auf Joseph zurück, einen der Söhne Jakobs. Also: zwölf Territorien, zwölf Söhne, davon einer auf ewige Zeiten landlos, und ein anderer mit zwei Söhnen begabt, die ihrerseits  Stammväter eigener Stämme wurden.  

Stimmt jetzt alles? Nein, da ist noch Machir. Machir wird in dem sehr alten Deborahlied (Ri 5) als eigenständiger Stamm genannt. In unserem Vers ist Machir als Person Sohn Manasses. Er ist „auf dem Schoß Josephs“ geboren, wird also als Kind Josephs angesehen. Betrachtet man die Siedlungskarte Israels, so sieht man, dass der Stamm Manasse ungefähr zu gleichen Teilen östlich und westlich des Jordan siedelt. Die östliche Hälfte wird auch Machir genannt. In den Erzählungen zur Landnahme wird diese östliche Hälfte früher erobert als die westliche, nämlich noch von Mose selbst, vor Josuas Invasion im Kernland Kanaans. Der „halbe Stamm Manasse“ ließ, so wird erzählt, Frauen und Kinder im eroberten Land, während die Männer sich dem übrigen Heerhaufen Israels anschlossen und den Stammesbrüdern bei der weiteren Landnahme halfen. 

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Es gibt in der Forschung die Vorstellung, dass Machir und Manasse in alter Zeit zwei separate Stämme waren und Manasse den östlichen Nachbarn mit Expansion und Durchdringung in sich aufnahm. Unser Vers reflektiert dies in recht eigentümlicher und bezeichnender Weise. Machir ist Sohn Manasses, aber doch irgendwie auch sein Bruder. 

Vor genau vier Jahren, zum dritten Advent, hatten wir einen Vers, der an Simeon erinnert. In der Karte oben ist er als Enklave zu sehen. Auch dieser Stamm verschwand mit der Zeit, er ging in Juda auf, siehe Vers 51/2020.

Aber immer blieben es zwölf. Wir sehen hier etwas Bedeutungsvolles, wie ich finde. Es gibt eine Wirklichkeit, die ständig neue Formen annimmt, und daneben und darüber die Vorstellung, dass hinter diesem Wandel unveränderliche Urgründe stehen — ewig gleich, projiziert in eine Zeit, als die Territorien mit ihren vielen Menschen einzelnen Personen entsprachen. Das hat etwas mit dem Wesen von Glauben an sich zu tun. Ist die Botschaft falsch, wenn die Geschichte, mit der sie transportiert wird, nicht den geschichtlichen Realitäten entspricht? 

Pluribus ex unum — in unserer Vielfalt sind wir eins!

Ich wünsche uns allen einen gesegneten dritten Advent, 
Ulf von Kalckreuth

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