Bibelvers der Woche 09/2023

Er hat um das Wasser ein Ziel gesetzt, bis wo Licht und Finsternis sich scheiden
Hiob, 26,10

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Licht und Finsternis

Wir haben aus einer der Stellen gezogen, in denen Hiob in Lobpreis Gottes ausbricht, trotz seines beklagenswerten Zustands und trotz seiner Überzeugung, von Gott schuldlos gemartert zu werden. Die Sprache des Verses ist nicht leicht zu verstehen. Das Wort Ziel konnte früher auch „Begrenzung“oder „Ende“ meinen. In dieser Bedeutung ist es erhalten geblieben in den Wendungen „ohne Maß und Ziel“ oder „Zahlungsziel“. Die anderen großen Übersetzungen aus dem Hebräischen sind leichter verständlich, weichen aber voneinander ab. Mit Unterstützung von Gesenius und der Interlinearübersetzung von Steurer würde ich wörtlich so übersetzen: 

Er zieht auf dem Wasser eine Grenze, bis dort, wo Licht in Finsternis endet. 

So versteht man es besser. Es ist der erste Schöpfungstag, von dem die Rede ist. Der Vers ist eine Momentaufnahme darin. Himmel und Erde sind geschaffen und Gottes Geist schwebt über den Wassern. Die ganze Erde ist vom Wasser bedeckt, Land und Wasser sind noch nicht voneinander geschieden. Das Urchaos herrscht, tohu wabohu. Da spricht Gott: Es werde Licht! Und er scheidet das Licht von der Finsternis und nennt das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Diese Scheidung von Licht und Finsternis findet auf dem Wasser statt, denn Land gibt es noch keines.

Gott ist unbegrenzt, aber er schöpft und schafft, indem er Grenzen zieht. Zwischen Licht und Finsternis, zwischen Wasser und Land, zwischen Leben und Tod, zwischen Zukunft und Vergangenheit, Heiligem und Nichtheiligem, Frau und Mann. Er selbst steht über diesen Grenzen. Dass wir etwas sind, bedeutet auch, dass wir etwas anderes nicht sind. Das ist Schöpfung. Unsere Welt ist endlich, und ihr Wesen liegt in den Strukturen. Ohne Strukturen wäre sie — tohu wabohu.

Hiob ist ein echter Fachmann für Hell und Dunkel, er hat beides ausgiebig kennengelernt. Die Grenze dazwischen kommt von Gott, sagt er. Das ist Lobpreis. Es weist aber kaum sichtbar auch auf die große Anklage Hiobs voraus, die folgt. Und letztlich auch auf den Frieden mit dem Allmächtigen, mit dem das Buch schließt. 

Ich wünsche uns Gottes Segen!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 39/2022

Und wenn sie durch die Tore des innern Vorhofs gehen wollen, sollen sie leinene Kleider anziehen und nichts Wollenes anhaben, wenn sie in den Toren im innern Vorhofe und im Hause dienen.
Hes 44,17

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Reinheit und Verschiedenheit

Es geht in unserem Vers um Reinheit. Reinheit in der Verschiedenheit ist für Juden sehr wichtig. Gott erschafft die Welt, indem er verlässliche Grenzen dort einzieht, wo Chaos herrscht — er trennt Licht von Finsternis, das Land vom Wasser, den Himmel von der Erde. Schöpfung ist Trennung. Juden feiern die Verschiedenheit: des Heiligen vom Weltlichen, der Juden von den Nichtjuden, der Männer von den Frauen. Ein zentrales Gebet, die Havdalah, dankt dem Herrn so: 

Gelobt seist Du, Herr, unser Gott, König der Welt, 
der du unterscheidest und trennst
zwischen Heiligem und Nichtheiligem,
zwischen Licht und Finsternis,
zwischen Israel und den Völkern,
zwischen dem siebten Tag und den sechs anderen.

Gelobt seist Du, Herr, 
der du unterscheidest und trennst
zwischen Heiligem und Nichtheiligem.

Für Christen und auch Hindus oder Buddhisten ist dies eine gewöhnungsbedürftige Idee — sie tendieren dazu, die in der Verschiedenheit verborgene Einheit zu suchen. In diesem Sinne ist der Vers, den wir gezogen haben, zutiefst jüdisch. Der letzte Teil des Buchs Hesekiel ist eine großartige Vision vom neuen Jerusalem als der Ort der Herrschaft Gottes auf Erden. Der reale Tempel im realen Jerusalem ist vernichtet, da sieht Hesekiel am Ort seiner Verbannung den neuen Tempel im himmlischen Jerusalem. Ein Engel führt ihn, und er kann den Dienst im Tempel Gottes studieren. Hesekiel ist Fachmann, er entstammt einer Priesterfamilie und war vielleicht selbst Priester im Tempel, bevor er nach Babylonien verschleppt wurde. Im himmlischen Tempel sieht er nun Reinheit, wo sie früher nicht war. Hierfür steht unser Vers. Die Priester, die nun wirkliche Leviten sind und Gott wirklich dienen wollen, tragen leinene Kleidung, damit sie nicht schwitzen und mit ihrer Körperlichkeit den Tempel nicht verunreinigen. Diese Kleidung sollen sie nach dem Gottesdienst an einer besonderen Örtlichkeit verwahrt, „damit sie das Volk nicht durch ihre Kleidung mit dem Heiligen in Berührung bringen“ (44,19). 

Lehavdil bein chodesh lechol — das Heilige vom Nichtheiligen scheiden, wie es im Gebet heisst. Beides muss immerzu voreinander geschützt werden, das Heilige und das Nichtheilige. Das Heilige ist immer bedroht und braucht Reinheit. Für normale Sterbliche wiederum war es tödlich, mit der Heiligkeit Gottes in Berührung zu kommen oder sie auch nur zu sehen. 

Ja, auskristallisierte Verschiedenheit ist Schöpfung, und die Strukturen, die sie schafft, machen die Welt aus. Das ist richtig, logisch zwingend geradezu, und wenn wir uns über Unterschiede ärgern, hilft es oft sich zu fragen, ob es denn gut wäre, wenn sie fehlten. Gott aber ist es auch, der die Gegensätze eint und in der Einheit zur Vollkommenheit macht. 

In der vergangenen Woche war Tag- und Nachtgleiche, jetzt ist die Nacht länger als der Tag. In der Woche, die vor uns liegt, feiern Juden ihr Neujahrsfest, das Fest der Schöpfung, Sie gedenken des Tags der Erschaffung der ersten Menschen, als Mann und Frau, aber auch des Tags der ersten Sünde. In der Welt der Verschiedenheit sei der eine Gott uns gnädig und zugewandt!

שנה טובה ומתוקה 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 28/2022

…und sprach weiter: Gelobt sei der HErr, der Gott Sems; und Kanaan sei sein Knecht!
Gen 9,26

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Ex unum, pluribus!

Ein schwieriger Vers, Sie werden gleich sehen, warum. Nur vier Männer gab es noch auf der Welt: Noah, und seine Söhne Sem, Ham und Japhet. Von diesen drei Söhnen und ihren Frauen stammen wir alle ab, sagt die Bibel. Ham vergeht sich gegen seinen Vater Noah und wird in seinem Segen nicht berücksichtigt. Hams Sohn Kanaan, Stammvater der nichtisraelitischen Ureinwohner des gelobten Landes, wird verflucht und zum Sklaven Sems erklärt, dem Stammvater Abrahams und der Israeliten! Dabei wird Gott der Herr explizit als „Gott Sems“ bezeichnet. Aber auch der Sklave Japhets soll Kanaan sein.

In der Bibel wird die Identität von Völkern und ihre Verwandtschaften untereinander konsequent auf die Identität von Gründervätern und ihre Verwandtschaften zurückgeführt. Völker werden mit den Namen ihrer Stammväter belegt, z.B. Israel, Edom, Ammon, ganz so, als handele es sich um Personen. Gelegentlich wird der Unterschied von Person und Volk durch die Beifügung des Worts „Kinder“ bezeichnet — Kinder Israel, Kinder Edom, Kinder Ammon. Konsequent werden in Gen 9 und 10 Völker und Völkergruppen als Nachkommen dieser drei Söhne Noahs identifiziert. Diesen Zusammenhang bezeichnet man als „Völkertafel“, hier ist ein Link zum Wikipedia-Artikel.

Bis heute hat dieser Wurf als Anregung zur Bildung großer Kategorien gebildet. Im Mittelalter gruppierte man so die Bewohner der drei klassischen Kontinente: die Asiaten als Nachkommen Sems, die Europäer als Nachkommen Japhets und die Afrikaner als Nachkommen Hams. So habe ich es selbst von meiner Großmutter gelernt, und auch im Religionsunterricht der katholischen Konfessionsschule, die ich als Kind besuchte. Mit der Völkertafel in der Bibel stimmt diese Charakterisierung der Kontinente im einzelnen nicht überein, ebensowenig wie die Bezeichnungen großer Sprachfamilien (semitische, hamitische Sprachen), die man im neunzehnten Jahrhundert fand, als man begann, die Bildungsgesetze hinter den Sprachen zu verstehen.

Auch Rassisten nutzten die Kategorien, die die Bibel hier anbot. In Nordamerika half die Geschichte rund um den gezogenen Vers, die Sklaverei zu begründen: sie schafft eine Unterordnung Hams (der Afrikaner) unter die hellhäutigen Nachkommen Sems und Japhets. Und nationalsozialistische Rassenideologen und ihre Vorgänger sprachen dann von „Semiten“ als einer real existierenden biologischen Einheit, der sie spezifische Attribute beilegten. 

Diese Rezeptionsgeschichte ist durchaus häßlich. Und man muß wohl feststellen, dass eine solche Nutzung im biblischen Text angelegt ist. Er begründet zwar keine biologische Überlegenheit — diese Vorstellung ist der Bibel fremd — aber ein göttliches Recht hinter der Landnahme der Israeliten. Die Verheissung an Abraham, Isaak und Jakob (Israel) konkretisiert dies Recht. Es erlaubt den Kindern Israel, die Kinder Kanaan im Gelobten Land zu vernichten und zu unterdrücken. 

Was ich dagegen liebe und bewundere, ist die Art und Weise, wie Genesis die Entfaltung der Welt erzählt. Genesis schreitet von der Einheit in die Vielheit vor, und erklärt die Vielheit konsequent mit Brüchen in der ursprünglichen Einheit. Es erinnert mich daran, wie die moderne Kosmologie die „heisse Anfangsphase“ unseres Universums beschreibt. Aus einer unteilbaren und strukturlosen Singularität in Raum und Zeit entstehen zunächst Kernteilchen: Quarks, Protonen und Neutronen, dann leichte Atomkerne. Erst 300.000 Jahre später entkoppeln sich Strahlung und Materie. Hundert Millionen Jahre darauf bilden sich die Kerne erster Galaxien.  Ausdifferenzierung als Prinzip der Schöpfung. 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche!
OUlf von Kalckreuth