Bibelvers der Woche 51/2021

Gaal zog aus vor den Männern zu Sichem her und stritt mit Abimelech.
Ri 9,39 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Höllenmaschine

Wer war der erste König in Israel? David? Saul? Nein: er hieß Abimelech. Und er herrschte drei Jahre.

Es ist eine dunkle Geschichte. Gideon, auch Jerubbaal genannt, war als charismatischer Führer sehr erfolgreich. Das Königtum wurde ihm angetragen, doch er lehnte ab. Später jedoch herrschten Gideons siebzig (!) Söhne gemeinsam in der Nordregion, eine Art Oligarchie. Wenn nicht Ri 8,30 darauf bestünde, dass dies alles leibliche Söhne waren, könnte man annahmen, dass sich hier eine ganze Führungselite auf den legendären Gideon zurückführte.

Einer aber ist unzufrieden — Abimelech, der Sohn einer Nebenfrau Gideons. Er wiegelt die Einwohner der Stadt Sichem auf, ihn zum König zu machen, wenn er die siebzig aus dem Weg räumt. Sichem war der Ort eines Heiligtum und Zentrum des nördlichen Siedlungsgebiets der Israeliten. Da er aus der Stadt stammt, hat er Anhänger unter den Bürgern und sie stimmen zu. Abimelech schreitet zur Tat. In Ofra lässt er alle siebzig auf demselben Stein hinrichten — bis auf einen, der entrinnt, Jotam mit Namen, der jüngste der Söhne Gideons. 

Abimelech lässt sich zum König krönen. Jotam aber, sein Bruder, ruft den Bürgern von Sichem vom heiligen Berg Garizim aus mit lauter Stimme zu: erst die Fabel vom Dornbusch als dem König der Bäume (hier Wikipedia zur Jotamfabel) und dann einen Fluch:

Habt ihr nun heute recht und redlich gehandelt an Jerubbaal (Gideon, d.V.) und an seinem Hause, so seid fröhlich über Abimelech, und er sei fröhlich über euch. Wenn aber nicht, so gehe Feuer aus von Abimelech und verzehre die Herren von Sichem und die Bewohner des Millo, und gehe auch Feuer aus von den Herren von Sichem und von den Bewohnern des Millo und verzehre Abimelech.  (Ri 9,19f) 

Abimelech und die mörderischen Bürger von Sichem werden sich gegenseitig vernichten, sagt der Fluch. Nach drei Jahren der Herrschaft Abimelechs zieht mit Gaal eine weitere Führungsfigur in die Königsstadt. Gaal wiegelt die Bewohnder gegen Abimelech auf, und sie unterstützen ihn bei einem Feldzug gegen ihren ungeliebten König. Das ist unser Vers — der Bürgerkrieg beginnt. 

Abimelech schlägt seinen Widersacher mit Täuschung und überlegener militärischer Führung und drängt ihn fort. Die jetzt schutzlosen Bürger von Sichem lässt er töten, soweit sie nicht vorher schon in der Schlacht gefallen sind. Das ist nicht das Ende. Auch die Nachbarstadt Tebez hatte sich aufgelehnt. Abimelech erobert sie zurück und ist im Begriff, die in der Stadt gelegene Festung zu nehmen, als er von einem Mühlstein getroffen wird, der vom Dach der Burg auf ihn gekippt wird — von einer Frau. Abimelech befiehlt seinem Schwertträger, ihn zu töten, damit niemand sagen könne, dies wäre einer Frau gelungen. Der Schwertträger führt den Befehl aus. Damit endet das erste Königtum in Israel. Abimelechs Tod hat erstaunliche Parallelen zum Tod Sauls in 1. Sam 21. 

Ich kannte die Geschichte nicht. Als ich sie las, fiel mir Macbeth ein, das Drama von Shakespeare, mit dem ich vor vielen Jahren unvermittelt und unvorbereitet in der Schule konfrontiert wurde, und das ich nie vergessen habe. Wie Macbeth macht sich Abimelech zum König durch einen brutalen Mord und sieht sich mit einer Prophezeiung konfrontiert, die auf unerwartete Weise wahr wird und ihn zerstört. Und wie im Drama der Wald von Birnham auf Schloss Dunisane vorrückt, setzen sich im Buch Richter beim Sturm auf Sichem Bäume in Bewegung, die in Wahrheit Soldaten sind. Nichts ist, was es zu sein vorgibt, schließlich führt eine verzweifelte Frau in einer fast schon gefallenen Burg eine überschwere, tödliche Waffe. 

Was tun mit dieser Geschichte? Wo ist die frohe Botschaft? Ein Happy End, einen strahlenden Sieger gibt es nicht. Alle Schauplätze der Handlung verwandeln sich in Leichenfelder. Man kann immerhin annehmen, dass Jotam überlebt hat, und wohl auch die namenlose Frau: „Als aber die Israeliten sahen, dass Abimelech tot war, ging ein jeder heim“, heisst es in Ri 9,55. Wäre dies ein Film, könnte man die beiden Überlebenden einander finden lassen…

Die Musik in den Erzählungen des Buchs Richter hat andere, dunklere Leitmotive und Rythmen als der biblische „Mainstream“, das konnten wir bei den BdWs zu Jeftah und Gideon/Jerubaal sehen. Aber auch hier können wir über Gott und Menschen lernen. Ich denke, Macbeth ist ein Schlüssel. Das Böse kreist um sich selbst und geht schließlich unter, einer geheimen Dramaturgie folgend. Die Gewalt, die von Abimelech und den Bürgern von Sichem ausgeht, ist wie eine dunkle Energie. Mit dem Massaker an der alten Führungsschicht hat sie sich nicht entladen, sie besteht fort und richtet sich gegen die Parteien selbst. Einmal angestoßen — durch unseren Vers — spult die Geschichte sich ab wie eine Höllenmaschine, mit großer Präzision. Kein Wort ist überflüssig. 

Vielleicht ist dies die „frohe“ Botschaft dieser uralten Geschichte: dem Bösen wohnt eine Dynamik inne, die sich ihr Ende selbst bereitet. Auch darauf kann man hoffen. Diese Perspektive kommt ganz ohne die Figur eines starken Retters aus. Und sie ist realistisch, wenn man an das Ende der DDR und anderer Gewaltherrschaften denkt.

Nur in der Dunkelheit kann ein Licht hell strahlen! Ich wünsche uns allen eine gesegnete Adventszeit.
Ulf von Kalckreuth

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