Bibelvers der Woche 23/2022

Ein zänkisches Weib und stetiges Triefen, wenn’s sehr regnet, werden wohl miteinander verglichen.
Spr 27,15

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Abperlen lassen!

Es gibt für mich wenig schlimmeres als diese Streitereien, die aus dem blauen Nichts entstehen, ins blaue Nichts führen und in der Zeit dazwischen alle Beteiligten regelrecht aufreiben. Das Buch der Sprüche ist ein Schulbuch, und zwar ein besonderes. Es enthält Lehr- und Merksätze der Weisheitslehre zum Auswendiglernen, als Teil eines Curriculums, siehe den BdW 50/2020. Die Weisheitslehre war die Lehre der Lebenskunst. Die dazugehörigen Lektionen gab es mündlich, sie stehen uns nicht mehr zur Verfügung. Wir können aber versuchen, sie uns anhand der Merksätze zu erschließen. Hier ist zunächst die ganze Sinneinheit, zitiert aus der Lutherbibel 2017:

Ein zänkisches Weib und ein stetig tropfendes Dach, wenn’s sehr regnet, lassen sich miteinander vergleichen: Wer sie aufhalten will, der will den Wind aufhalten und will Öl mit der Hand fassen.

Der Vergleich mit dem tropfenden Dach findet sich auch in Sprüche 19,13: Ein törichter Sohn ist seines Vaters Herzeleid, und eine zänkische Frau wie ein stetig tropfendes Dach. Das Bild vom „Haschen nach Wind“ für vergebliches Tun kennen viele aus Prediger, einem eng verwandten und sehr eindrücklichen Text der Weisheitsliteratur. 

Der Duden gibt ‚zänkisch‘ mit rechthaberisch, streitsüchtig und unverträglich wieder. Darüber hinaus hat das Wort im Deutschen eine Konnotation mit dem weiblichen Geschlecht. Als Anwendungsbeispiel gibt der Duden „zänkisches altes Weib“ an. Rechthaberische, streitsüchtige und unverträgliche alte Männer gibt es auch, aber einen zänkischen alten Mann würde man sich irgendwie weiblich vorstellen. So weit kann ich folgen, es gibt wohl wirklich eine weibliche Variante der Streitsucht. Aber die männliche ist nicht schöner, und auf sie würde der Vergleich mit dem Dach ebenso gut passen. Die geschlechtliche Konnotation ist somit überflüssig.

Im hebräischen Original steht ein Wort, das ‚zanken‘, ’sich streiten‘ bedeutet, aber auf eine Wurzel zurückgeht, die ‚richten‘, ‚Recht schaffen‘ bedeutet. Es geht also um Menschen, die sich zwanghaft im Recht wähnen, bzw. ihr Recht ständig durch andere verletzt sehen. Eigentlich sehr deutsch. Nicht einmalige Ausbrüche sind gemeint, sondern eine Verhaltenstendenz, die autonom und unveränderlich ist, eben wie ein stetig tropfendes Dach. Sichtbar wird das Tropfen nur bei Regen, undicht aber ist das Dach auch, wenn die Sonne scheint. Die Unfähigkeit, etwas ab- und von sich wegzuhalten ist gemeint. Und die Auseinandersetzung mit solchen Menschen, so der Vers, ist sinnlos und Zeitverschwendung

Aggressive Negativität hat etwas Sündhaftes. Sie trägt innere Unruhe und Unfrieden nach aussen und überträgt sie wie einen Virus auf Menschen der Umgebung. Diese sollten sich davon so frei wie nur möglich machen, die Ansteckung vermeiden — auch aus epidemiologischen Gründen: das Beziehungsgeflecht muß geschützt werden. Die Auseinandersetzung führt zu nichts.

Ich wünsche uns ein gesegnetes Pfingstfest, eine Woche in innerer Ruhe und Frieden, mit Gottes Hilfe, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 22/2022

Nicht, meine Kinder, das ist nicht ein gutes Gerücht, das ich höre. Ihr macht des HErrn Volk übertreten.
1.Sa 2,24

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Verantwortung übernehmen

Der Vers berichtet von der Vorgeschichte des Aufstiges von Samuel zum Richter Israels. Samuel war als kleines Kind schon dazu ausersehen, dem Herrn im Tempel zu dienen. Seine Mutter hatte ein Gelübde getan, ihren Sohn in den Tempeldienst zu stellen, wenn sie ein Kind bekommen könnte. Hoherpriester und Richter in Israel war Eli. Zu seinen Nachfolgern hatte er seine beiden Söhne auserkoren. Diese aber verhielten sich unwürdig: die jungen Männer mißbrauchten ihre Privilegien. Der gezogene Vers gibt die Worte wieder, mit denen Eli ihnen Vorhaltungen macht.

Es bleibt vergeblich. Der Herr flucht den Söhnen und dem ganzen Hause Elis, und Samuel wird Elis Nachfolger. Und eigentümlich: die Geschichte spiegelt sich inSamuels späteren Leben. Als er ein alter Mann ist, geschieht ihm dasselbe wie Eli. Seine beiden Söhne, an die er die Last der Verantwortung abgeben will, benehmen sich selbstherrlich und beugen das Recht; siehe 1.Sa, Kapitel 8 und den BdW 37/2021. Anders als Eli aber erfüllt Samuel seine Aufgabe. Er hört den Warnruf, schiebt seine Söhne beiseite und beginnt, einen König für Israel zu suchen.

Der Unterschied zwischen Samuel und Eli wird im gezogenen Vers sichtbar, wenn man gut hinsieht. Eli sieht durchaus, was vor sich geht. Die Verfehlungen seiner Söhne werden ihm zugetragen, und er erfasst ihre Bedeutung. Aber er lässt geschehen, was er sieht. Ich habe eine Weile gebraucht, um das zu verstehen, denn seine Worte klingen frappierend modern. Elis Beziehung zu seinen marodierenden Söhnen hat aber nicht viel zu tun mit der Stellung heutiger Eltern. Die Stellung des morgenländischen Vaters war absolut — Eli hatte alle Möglichkeiten, Recht und Gesetz gegen den Widerstand seiner Söhne durchzusetzen. Theoretisch hätte ihm sogar die Todesstrafe zu Gebot gestanden, siehe Deut 21,18-21. Er belässt es jedoch bei milden Warnungen in wertschätzender Sprache.

Ein Engel des Herrn sagt Eli das nahende Ende an. Eli bleibt passiv — er sieht zu und lässt sogar geschehen, dass Gott vor seinen Augen den jugendlichen Samuel beruft und auch ihm das Urteil gegen Eli und seine Söhne verkündet. Die Bundeslade wird geraubt, und die drei kommen fast gleichzeitig ums Leben. Als Samuel viel später mit ganz ähnlichen Entwicklungen in seinem eigenen Haus konfrontiert wird, weiss er Bescheid. 

Manchmal kommt es aufs Ergebnis an und nicht darauf, irgendwann und irgendwie das richtige gesagt zu haben. Das gilt allgemein, speziell auch in der Familie.

Eltern haben ihren Kindern gegenüber eine Verantwortung. Nicht nur für Nahrung und Kleidung müssen sie sorgen — sie sollen auch das Verhalten der Kinder formen und diese befähigen, als integre Menschen in der Welt zu bestehen. Dabei müssen Eltern im Rahmen dessen bleiben, was sozial befürwortet und akzeptiert ist. Dieser Rahmen ist in der Zeit starken Veränderungen unterworfen. Unwandelbar bestehen aber bleibt die Verantwortung. Ihr nachzukommen, brauchen wir die Hilfe des Herrn. Auch das steht in dieser alten Geschichte.

Gott schenke uns Weisheit im Umgang mit unseren Kindern, nicht nur in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 49/2021

Die machten beide Isaak und Rebekka eitel Herzeleid.
Gen 26,35 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Haussegen

Es geht um die Schwiegertöchter. Der Vers ist so etwas wie ein Stoßseufzer. Esau war der erste Sohn Isaaks und Zwillingsbruder Jakobs. Die beiden unterschieden sich in so gut wie jeder Hinsicht, die sich denken lässt, so auch im Heiratsverhalten. 

Esau heiratete schon in jungen Jahren ohne Umstände zwei „Hetiterinnen“ aus der ortsansässigen Bevölkerung. Diese Ehen waren problematisch: Isaak und Rebekka jedenfalls sind schwer gekränkt (unser Vers), und am Ende des folgenden Kapitels (Gen 27,46) sagt Rebekka zu ihrem Mann: „Mich verdrießt zu leben wegen der Hetiterinnen. Wenn Jakob eine Frau nimmt von den Hetiterinnen wie diese, eine von den Töchtern des Landes, was soll mir das Leben?“ Das lässt sich eigentlich kaum noch steigern. 

Und es ist durchaus aus dem Leben gegriffen. Jeder, der diesen Text liest, kennt aus eigener Anschauung Familien, in denen Zwist und Hader mit den Schwiegersöhnen oder -töchter herrscht. Vielleicht ist das eine biologische Konstante. Evolutionsbiologen sagen, dass wir geschlechtliche Wesen sind, damit die genetische Variabilität in der Bevölkerung erhalten bleibe. Sie ist Schutz gegen Epidemien und essentielle Grundlage für genetische Anpassungsfähigkeit. Diese Variabilität sorgt auch für Spannungen.  

In dem Vers geht es aber nicht nur um Lebenswirklichkeit, sondern auch um biblische Geschichte. Das Alte Testament weist, anders als die Evolutionsbiologen, in allen seinen Teilen eine gewisse Obsession mit der Reinheit des Bluts auf. Die Nachkommen Jakobs, die „Kinder Israels“, sollten sich nicht mit der einheimischen Bevölkerung vermischen, ihre Sprache, Gebräuche und Götter annehmen. Nach der Rückkehr aus Babylonien mussten die Judäer gar die fremdstämmigen Frauen aufgeben, die sie im Exil geheiratet hatten, siehe den BdW 2/2018

Das ist in den Vätergeschichten bereits angelegt. Schon Isaak sollte keine der Töchter des Landes heiraten, sein Vater Abraham schickte eigens einen Knecht in die aramäische Heimat, um eine Frau für ihn zu freien. Er kam zurück mit Rebekka, einer Kusine Isaaks. Und auch Jakob, Isaaks Sohn, sollte seine Frauen in der alten Heimat Abrahams finden. Rebekka nämlich will Jakob vor dem Zorn ihres Bruders Esau retten und rät ihm zur Flucht. Ihrem Mann sagt sie, dass sie mit weiteren Schwiegertöchtern aus Kanaan nicht leben könne, woraufhin dieser seinen Sohn nach Aram schickt, damit auch er dort eine Braut finde. Das ist der Beginn einer langen Geschichte. Als junger Mann geht Jakob fort, erst nach insgesamt 14 Jahren Brautwerbung bei seinem Onkel Laban darf er Lea und Rahel endlich nach Hause nehmen. Seine Kinder werden die Väter der Stämme Israels. 

Was geschieht mit Esau? Er nimmt den Zorn seiner Eltern wahr und heiratet eine dritte Frau — die Tochter seines Onkels Ismael. Der aber hatte sich seinerseits schon mit den Töchtern des Landes eingelassen. Später zieht Esau mit seinen Herden in das Gebirge Seïr, tief im wüstenhaften Süden. Er wird so zum Stammvater der Edomiter, einem mit den Israeliten eng verwandten Volk, mit dem Juda über einen langen Zeitraum schwere Auseinandersetzungen führte, siehe den BdW 13/2018. Über die Edomiter spricht die Bibel oft schlecht. Ihren Geburtssegen haben sie an Israel verloren. Aber sie bleiben die „älteren Brüder“.

Die Angehörigen der Heilslinie, Isaak und Jakob, heiraten blutsverwandte Frauen aus Aram. Ihre Brüder hingegen, Ismael und Esau, heiraten einheimische Frauen und entfernen sich damit vom Volk Gottes. Ich schätze beide sehr, Esau wie auch Ismael. Es sind Wüstenmenschen, die mit ihrem Schicksal souverän umgehen können. Esau ist emotional, er kann gewalttätig sein, aber auch großzügig. Viel großzügiger, als sein Bruder es sich träumen lässt, siehe Gen 32+33. Beim Lesen habe ich die Stammtafel Edoms entdeckt, Gen 36. Dort wird mit verhaltener, aber großer Ehrerbietung von Esau und Edom berichtet. Der Abschnitt schließt nach einer langen Aufzählung von Fürsten fast ebenso, wie er beginnt: „Das ist Esau, der Stammvater der Edomiter.“ Mit den Frauen eben, die er heiratete und mit denen er seine Kinder hatte. 

Vielleicht kann man das mitnehmen von der langen Rede: Was am Ende bleibt, ist nicht der Streit in Ehe und Familie, nicht Schwiegermütter und Schwiegertöchter, sondern — die Kinder. 

Der Herr segne sie.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 48/2021

Und der HErr redete mit Mose und Aaron und sprach:…
Lev 14,33

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Aussatz von Häusern…

Die Formulierung taucht oft auf in der Torah. Wir hatten diesen Vers schon einmal, BdW 51/2018. Beinahe jedenfalls — Aaron wurde nicht erwähnt, und der Vers stand in Numeri, nicht in Leviticus: „Und der HErr redete mit Mose und sprach…“, Num 5,1. Wir haben auch schon aus Lev 14 gezogen, siehe den BdW 43/2019. Leviticus behandelt Regeln für den Umgang mit Aussatz: erst den Umgang mit Aussatz bei Menschen, dann bei Kleidung und schließlich bei Häusern. Um Häuser geht es in dem Text, den unser Vers einleitet.

Aussatz von Häusern! Haben Sie schon einmal davon gehört? Ich nicht. Manche Kommentatoren denken an den Hausschwamm, einen Pilz, der sich in zerstörerischer Weise durch Baumaterial aus Holz frißt. Ich komme aus dem Süddeutschland und bin in einem Holzhaus aufgewachsen. Die Angst vor dem Schwamm war ständig präsent. Aber ich war auch schon in Israel, und dort gibt es nichts von dem, was der Schwamm liebt und braucht: ein gleichbleibend feuchtes, quasi tropisches Klima.

Die pilzkundliche Veröffentlichung von Joachim Weinhard (2012) bringt es auf den Punkt: den Hausschwamm gibt es in Palästina nicht, und es hat ihn auch früher nicht gegeben, und eine Reinigungszeremonie, wie sie Levitikus en detail beschreibt, hat vermutlich niemals stattgefunden. 

Wo könnte hier also die Botschaft liegen? Aussatz von Häusern… Weinhardt meint, dass die Regelung zu Häusern absichtlich und bewusst eine Tatbestand charakterisiert, der nie erfüllt wird. Der Umgang mit Aussatz ist in den Abschnitten über Menschen, Kleidung und Häuser im Prinzip stets derselbe: Reinigung, Isolation, und nach einer möglichen Heilung ein Sündopfer — das alles wird engmaschig vom Priester überwacht, denn Levitikus ist eine Handlungsanweisung für Priester. Wenn es nun Aussatz von Häusern nicht gibt — und auch bei Kleidung habe ich meine Zweifel — so könnte implizit etwas gemeint sein, das explizit nicht genannt werden kann. Obwohl sie ein Regelwerk enthält, ist die Sprache der Torah nämlich nie abstrakt. Abstraktion haben wir erst von den Griechen und Römern gelernt. Die Torah nennt konkrete Gegebenheiten und regelt diese. Sie verlangt von ihren Auslegern, für reale Fälle nach Analogien zu suchen. 

Haus und Kleidung sind unser Werk, sie umgeben uns und schützen uns. Und sie können krank werden, sagt die Torah. Was hilft, sei Reinigung, Isolation und ein Sündopfer nach der Heilung. Für Maimonides steht Zara’at, Aussatz, ganz allgemein für eine zeichenhafte Veränderung, die üble Nachrede, Verleumdung und Klatsch bestrafen und davor warnen soll, siehe den Wikipedia-Eintrag für Aussatz. Heute könnte man auch an ein Geflecht von fake news und alternative facts denken. Im Kampf gegen die reale Seuche Corona beraubt uns diese soziale Seuche unserer wirksamen Abwehrstrategien: Impfung, Abstand, Isolation, dem gelassenen Verzicht auf Highlights. Auch Korruption fällt mir ein, ein Pilz, der sich durch das soziale Gefüge frisst wie der Hausschwamm durch das Holz. Organisierte Kriminalität, Alkohol und andere Drogen, Pornografie, herabwürdigendes Verhalten in der Familie… Was fällt Ihnen ein? Was macht uns, unsere Familien und unser Gemeinwesen kaputt wie eine ansteckende Seuche?

Was hilft, sind Reinigung, Isolation und ein Sündopfer, sagt die alte Stimme der Torah. Das Sündopfer bekennt die Verfehlung und stellt den Kontakt mit der Gottheit und dem Lebensganzen wieder her. Isolation verhindert, dass aus der Krankheit des einzelnen die Krankheit des Gemeinwesens wird. Und Reinigung ist das erste, was jeder an sich selbst und für sich selbst tun kann.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 45/2021

Züchtige deinen Sohn, solange Hoffnung da ist; aber lass deine Seele nicht bewegt werden, ihn zu töten.
Spr 19,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Dein Stecken und Stab…

Ein schwieriger Vers, um es vorsichtig zu sagen. Ich habe zwei Kinder, die mich nicht selten an den Rand meiner Möglichkeiten bringen, und die ersten Assoziationen, die ich hatte, waren politisch nicht korrekt — von wegen „Vielleicht hätte ich die Bibel früher lesen sollen…“

Aber was steht hier? Ist es die Aufforderung, Gewalt einzusetzen? Der Text, den wir vor uns haben, ist rund 2300 Jahre alt. Das Verb jasar (יסר) im Althebräischen bedeutet sowohl züchtigen als auch erziehen. Eine klare Unterscheidung zwischen diesen beiden Konzepten gab es nicht. Sein Kind zu erziehen, bedeutete damals, es zu züchtigen. Für die Liebhaber unten ein Foto aus Wilhelm Gesenius‘ hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Neudruck der 17. Auflage 1915, mit den Facetten dieses Wortes.

Züchtigung / Erziehung bedeutete für denjenigen, der sie leistete, einen großen Aufwand — nur wenn (oder nur weil) Hoffnung auf Erfolg besteht, soll man sich die Mühe machen. Im Urtext steht hier כי, das würde man eher mit „weil“ als mit „solange“ übersetzen. Der zweite Teil des Verses bedeutet dem Erziehenden, maßvoll zu bleiben, sich nicht zu (massiven) Gewaltakten hinreissen zu lassen. Mit anderen Worten: Tu was, aber tu es maßvoll.

Unser Vers hat keinen direkten Kontext, er steht unverbunden in einer Reihe von Merksätzen zu verschiedenen Bereichen des Lebens. Aber es gibt im Buch der Sprüche eine Anzahl paralleler Stellen. Im Internet habe ich eine kleine Sammlung gefunden: 

  • 13,24: Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn, wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten. 
  • 22,15: Torheit steckt dem Knaben im Herzen, aber die Rute der Zucht treibt sie ihm aus. 
  • 22,13+14: Lass nicht ab, den Knaben zu züchtigen; denn wenn du ihn mit der Rute schlägst, so wird er nicht sterben; du schlägst ihn mit der Rute, aber du errettest ihn vom Tode.
  • 29,15: Rute und Tadel gibt Weisheit; aber ein Knabe, sich selbst überlassen, macht seiner Mutter Schande. 

Das ist herbe Sprache. Wiederum muß man bedenken, dass zwischen erziehen und züchtigen nicht unterschieden wird. Gewaltfreie Erziehung gab es nicht, das Gegenstück zu autoritärer Erziehung war nicht antiautoritär, sondern Vernachlässigung. Die gab es durchaus, das klingt durch. Erziehen bedeutet, Verhaltenstendenzen in einer Weise zu formen, dass sie dem Leben dienlich sind, dem Leben des Einzelnen und auch der ihn umgebenden Gemeinschaft. Das ist eine lebenswichtige Bringschuld der Eltern! Der homo oeconomicus, der stets in der Lagte ist, situationsadäquat rationale Entscheidungen zu treffen, braucht keine Erziehung. Aber er ist eine Fiktion. In Wahrheit sind wir für die vielen kleinen Entscheidungen und auch für die meisten großen auf unsere Verhaltenstendenzen angewiesen, auf dasjenige also, was wir ‚aus dem Bauch heraus‘ tun, weil wir es so gelernt haben, so gewohnt sind. 

Unser Vers und die anderen sagen den Eltern — in der Sprache des ersten Jahrtausends v. Chr. — dass sie sich die nötige Mühe geben müssen, dem Verhalten ihres Kindes eine Richtung zu geben, die dem zukünftigen Erwachsenen helfen, die richtigen Gewohnheiten anzunehmen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das Kind benötigt diese Weisung in grundlegender Weise (13,14 und 22,13f).

Eltern haben ihren Erziehungsauftrag von Gott. Und man glaubte, dass Gott seinerseits mit uns so verfährt, wie Eltern es mit ihren Kindern tun sollen. Dein Stecken und Stab trösten mich… In den Psalmen ist diese Idee fest verankert und auch bei den Propheten. Es wäre schön, nicht wahr? Unser Leiden hätte einen sehr konkreten, erzieherischen Sinn und Zweck. Wenn mir Unglück widerfährt, frage ich mich tatsächlich früher oder später, was ich daraus lernen kann. Und dann fällt mir oft einiges dazu ein. Aber nicht immer.

In den kommenden drei Wochen muss ich mich um meine beiden halbwüchsigen Töchter allein kümmern, neben der Arbeit. Wer uns kennt, weiss, das dies schwierig werden könnte. Wie leicht wäre es da, sie einfach tun zu lassen, was sie wollen, mir zum Nutzen, ihnen zum Schaden. Ich werde der Versuchung widerstehen, so gut es geht.

Ich wünsche uns allen, und diesmal besonders uns dreien, eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Erziehen und züchtigen: Wilhelm Gesenius, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, 17. Auflage 1915