Bibelvers der Woche 09/2021

Du Menschenkind, schreib diesen Tag an, ja, eben diesen Tag; denn der König zu Babel hat sich eben an diesem Tage wider Jerusalem gelagert.
Hes 24,2

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Den Schuss hören

Ein Vers für die Passionszeit. Er markiert den Anfang vom Ende. Im Januar 588 v. Chr schickte der babylonische König Nebukadnezar seine Truppen gegen das unbotmäßige Jerusalem, und anderthalb Jahre später, im Juli 587 v. Chr., fiel die ausgehungerte Stadt — das Ende der staatlichen Eigenständigkeit Judas und des jüdischen Volks, bis zur Staatsgründung Israels zweitausend Jahre später. Im gezogenen Vers nun eröffnet Gott dem Hesekiel / Ezechiel, dass die Belagerung begonnen hat. Er soll das Ereignis mit genauem Datum festhalten. Der Prophet Hesekiel wohnt in Tel Abib am Fluß Kebar in der Nähe von Babylon, wohin er gemeinsam mit anderen im Zuge der ersten babylonischen Eroberung rund zehn Jahre früher verschleppt wurde.

Ein Ereignis wird notiert. So weit, so gut. Das Besondere liegt darin, dass der Beobachter rund 2700 Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt lebt — das neubabylonische Reich ist wirklich ein Großreich. Zu Pferd benötigt man für diese Entfernung wohl zwei bis drei Monate. Wir haben das beinahe vergessen, aber ohne moderne Kommunikationsmittel übersetzt sich die räumliche Distanz in eine zeitliche. Das ist wie bei der Explosion eines weit entfernten Sterns: wenn er fünf Lichtjahre entfernt ist, erfahren wir davon erst nach fünf Jahren. Es ist heute schwer vorstellbar, wie man in der Antike Reiche dieser Größenordnung überhaupt verwalten konnte. 

Was wir also sehen, ist eine Sonderform der Prophetie. Das Ereignis, von dem Hesekiel erfährt, liegt in der Gegenwart, er ist aber dennoch mehr als zwei Monate davon getrennt. 

In der Ökonomie gibt es das auch. Daten zu sammeln und zu verarbeiten kostet Zeit, und so können Analytiker einen katastrophalen Wirtschaftseinbruch erst mit größerer Verzögerung genau beziffern. Vorher muß man sich mit mehr oder weniger guten Konjekturen behelfen. Wir konnten das sehen, als es darum ging, die Schäden zu beziffern, die Corona angerichtet hat. „Nowcasting“ — abgeleitet von „Forecasting“ — nennt man den Versuch, durch Nutzung innovativer Datenquellen und Projektionsmethoden das laufende Wirtschaftsgeschehen früher zu quantifizieren, als es auf Basis der amtlichen Statistik möglich wäre. Man kann sagen: Nowcaster erkennen die Zeichen der Zeit, noch bevor sie manifest geworden sind. 

Hesekiel hört den Schuss. Er steht in ständigem Austausch mit Gott. Er versteht, was geschieht und gibt es weiter. Schön ist das nicht für ihn. Im selben Kapitel erfährt er vom Tod seiner geliebten Frau und er darf nicht trauern — Gott verbietet es ihm. Der Austausch mit Gott ist für ihn nicht nur eine Quelle der Kraft, wir wir es gern sehen würden. Oft ist die Begegnung angsterregend und gelegentlich führt sie ihn an den Rand seiner geistigen Gesundheit. Man muss sich fragen, wie Hesekiel es so lang ertragen konnte. 

Es bedarf wohl auch des eigenen festen Entschlusses, den Schuss hören zu wollen. 

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche, und chag sameach purim!
Ulf von Kalckreuth

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