Der Sünder müsse ein Ende werden auf Erden, und die Gottlosen nicht mehr sein. Lobe den HErrn, meine Seele! Halleluja!
Ps 104,35
Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.
Riß in der Welt
Unser Vers ist das Ende von Psalm 104, dem sogenannten Schöpfungspsalm, lang und berauschend schön. Lesen Sie ihn. Sein Anfang lautet wie folgt:
1 Lobe den HErrn, meine Seele!
HErr, mein Gott, du bist sehr groß; in Hoheit und Pracht bist du gekleidet.
2 Licht ist dein Kleid, das du anhast.
Du breitest den Himmel aus wie ein Zelt;
3 du baust deine Gemächer über den Wassern.
Du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen und kommst daher auf den Fittichen des Windes,…
Es geht um Vollkommenheit: Gott ist groß. Wir können ihn nicht sehen — empirisch erweist sich seine Größe dadurch, dass seine Schöpfung großartig ist. Der Psalm führt den Beweis, indem er diese Schöpfung einfach beschreibt.
Aber doch gibt es auch unerträgliche Unvollkommenheiten. Der Psalmist spricht sie nicht direkt an, aber seine Hörer sind erwachsene Menschen und kennen das Leben, kennen ihre Mitmenschen und auch sich selbst. Die Schöpfung ist nicht vollkommen, weil die Menschen in ihr nicht vollkommen sind. Sünde ist Gottesferne.
Deshalb ist es konsequent, wenn der Psalmist am Ende des Lobpreis ein scheinbar ganz neues Thema anschlägt und unvermittelt fordert, dass den Sündern der Garaus gemacht werde. Es geht allerdings — so verstehe ich es — nicht um wirkliche und lebende Sünder, die aus der Welt verabschiedet werden sollen, sondern um die Sünde an sich, diese nagende Unvollkommenheit, die gemäß der Logik des Psalms ja auch eine Leugnung oder Minderung Gottes darstellt. Denn das Argument lässt sich natürlich herumdrehen — wie kann ein vollkommener Gott eine unvollkommene Welt schaffen oder dulden? Der Psalmist bittet Gott also, diesen Riß in der Welt zu heilen. Im Kirchenjahr hat der Riß seinen Platz und seinen Namen: Karfreitag.
Pessach ist das Fest der Befreiung von Zwang, ein Abschied von der Sklaverei. Den Menschen wird ihre Würde (zurück)gegeben. Ostern geht noch weiter: Gott heilt den Riß in der Welt, führt die Bruchstücke zusammen. Die Sünde verschwindet nicht, aber sie verliert ihre Relevanz, sie wird im Grunde unwichtig. Das Reich Gottes bricht an, und uns Menschen ist Erlösung und Gnade geschenkt.
Frohe Ostern also und chag pessach sameach: Lobe den HErrn, meine Seele! Halleluja!
Ulf von Kalckreuth
Eine Antwort auf „Bibelvers der Woche 15/2020“