Der Gottlose bebt sein Leben lang, und dem Tyrannen ist die Zahl seiner Jahre verborgen.
Hiob 15,20
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.
94
Hiob erhebt bittere Anklage gegen Gott und ruft ihn gleichzeitig um Beistand an. Gott ist Richter und Staatsanwalt. Hiob macht ihn außerdem zu seinem Verteidiger und schließlich zum Angeklagten. Er spricht von Gott in einer Weise, die seine Freunde unerträglich finden. Einer von ihnen, Elifas, bringt das zum Ausdruck — was Hiob sagt, ist falsch, weil es dem Leben nicht dient. Wer sich gegen Gott wendet, muss das bezahlen. Nicht (nur), weil Gott sich gegen ihn stellen könnte, sondern weil sein Leben den Kurs verliert.
„Der Gottlose bebt sein Leben lang…“ Wenn wir uns in Gefahr sehen, gibt die Psyche uns drei Möglichkeiten: fight, flight, freeze. In Angst sind es nur noch zwei: Flucht und Erstarrung. Nichts kann aus Angst sich neu bilden oder wachsen. Angst als Haltung ist der große Sperrriegel — sie schließt uns aus von Neugier, Aktivität, Zuwendung, Verständnis, Akzeptanz, dem Erkennen neuer Möglichkeiten, der lustvollen Zuwendung zum Unbekannten, letztlich vom Leben selbst. Manche bezeichnen Furcht deshalb als die achte, vergessene Todsünde.
Tiefe Bindung zu Gott ermöglicht es uns, angstfrei zu leben und uns dem zu nähern, worum es wirklich geht, da hat Elifas recht. Nicht recht hat er damit, dies dem Hiob zu entgegnen. Der weiss das nämlich gut. Hier ist die Grundfrage des Buchs — wie können wir denn in Vertrauen auf einen Gott leben, der DIESE Welt schafft und erhält? Hiob bürstet den Glauben gegen den Strich: Im Buch sind Immer wieder unversöhnliche Positionen gleichermaßen wahr und doch ungenügend.
Aber was hat es mit dem zweiten Teil des Verses auf sich — der Tyrann kennt nicht die Zahl seiner Jahre? Es ist zunächst, wie oft in zweiteiligen Bibelversen, eine Variante. Unsicherheit erzeugt Furcht, und sie hat elementare Kraft, soweit die Lebensspanne betroffen ist. Der Tyrann, der alles kontrollieren will, wird hilflos. Welchen Sinn hat es, heute einen Apfelbaum zu pflanzen, wenn ich morgen tot bin? Ein Studium zu beginnen, ein Kind in die Welt zu setzen, ein Haus zu bauen? Was letzteres betrifft, kann ich eine eigene, sehr konkrete Erfahrung beisteuern.
Vor rund achtzehn Jahren begannen meine Frau und ich über den Kauf eines Hauses nachzudenken. Ich war 47 Jahre alt. Da ist es nicht mehr leicht, ein Haus abzuzahlen, wenn man in Frankfurt wohnt, zwei Kinder hat und kaum eigenes Vermögen in die Waagschale werfen kann. Ein Haus ist Kapital aus Stein und Beton — wer nicht viel Zeit vor sich sieht, tut besser daran, in Miete zu wohnen und gut zu leben, statt jeden Cent in die Tilgung zu stecken.
Ich bin Ökonom. Ich erinnere mich, wie ich beim Joggen darüber nachdachte. Wie lange würde ich wohl leben — kann der Kauf eines Hauses sinnvoll sein? Die Lebenserwartung eines männlichen Neugeborenen liegt bei 78 Jahren. Mit 47 Jahren und guter allgemeiner Gesundheit ist die fernere Lebenserwartung höher, ich habe in meinem Leben ja schon einige Gelegenheiten zu sterben verpasst. Entscheidend für die Lebensdauer sind die Anlagen, die ich mitbringe, meine Gewohnheiten, jetzt und in der Vergangenheit, medizinische Behandlungsmöglichkeiten, jetzt und in der Zukunft, gänzlich unvorhersehbare Einwirkungen von aussen und dann das Aufeinandertreffen all dieser Faktoren in einem Leben dass es nur einmal gibt — ungeheuer komplex und im Einzelfall nicht zu fassen, schon gar nicht mit Statistiken. Welchen Sinn kann die Frage überhaupt haben? Wer die Lebensspanne eines Menschen bestimmen wollte, müsste das wissen, was Gott weiß.
Damals war ich gut trainiert. Am Wochenende gingen meine Läufe über 15 bis 20 Kilometer. Ich lief den Weg von Berkersheim hinunter an die Nidda. Links an der Kreuzung zum Niddaufer steht ein großer Baum, ich glaube, es ist eine Linde. Da brach die Sonne durch die Wolken und brachte direkt vor mir den großen Baum zum Leuchten. Das sah unglaublich aus. Und gleichzeitig stand in meinem Kopf eine Zahl:
94
Hm. Das war ein Wort. Gar so genau wollte ich es eigentlich nicht wissen Aber ich nahm die sonderbare Zahl einfach an — für den Hauskauf und auch für vieles anderes. Es ist gut und dient dem Leben, einen weiten Horizont zu haben. Mit 59 Jahren begann ich, Klavier zu lernen, und bislang habe ich es nicht bereut. Vor einigen Wochen konnten wir die Hypothek mit einer Schlusszahlung tilgen.
Wir werden es sehen — die 94 wird sich vielleicht im Nachhinein als irreal erweisen. Ist sie deshalb „falsch“? Was ist „richtig“? Wer kennt die Spanne seines Lebens? Der Tyrann im Vers kennt sie nicht, aber auch sonst niemand, und wenn es anders ist, dann wegen einer tödlichen Krankheit oder einer Verurteilung. Im Vers, und auch in meiner Vision, geht es nicht wirklich um eine Zahl, sondern um die Gewissheit, in einem tiefgegründeten Zeitgefüge zu leben, wo Ursachen ihre Wirkungen zeitigen und nicht folgenlos bleibt, was wir tun. Dafür steht Gott in unserem Leben.
Und jetzt gerade hat eine Freundin mir das Foto ihres neugeborenen Kindes geschickt. Er hat viele glückliche Jahre vor sich, und was immer geschieht: es ist richtig, wenn er und seine Umwelt fest überzeugt sind, dass es so ist.
Ich wünsche uns eine Woche mit Gott und ohne Furcht, dass wir im Unbekannten das Leben und die Möglichkeiten sehen statt einer Bedrohung und Ankündigung des Endes.
Ulf von Kalckreuth

