…welche denn hörten sie und richteten eine Verbitterung an? Waren’s nicht alle, die von Ägypten ausgingen durch Mose?
Heb 3,16
Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Einheitsübersetzung.
Das Wort sie sollen lassen stahn!
Der Text um unseren Vers herum fordert dazu auf, die Gnade Gottes nicht zu verwirken, sondern dankbar anzunehmen und das seine dazuzutun. Dabei entsteht eine kleine Matrjoschka. Das sind diese russischen Holzpuppen, die mehrfach ineinandergesteckt sind: öffnet man eine, kommt die nächste zum Vorschein. Heb 3 zitiert Ps 95, und dieser verweist auf die Thora, Num 13 und 14. Das Volk Israel konnte sich mit Gottes Hilfe aus der ägyptischen Knechtschaft befreien. In der Wüste aber wird das Volk ängstlich, wankelmütig und unzufrieden. Es verliert den Weg ins Heilige Land, zu Gottes Ruhe, und muß lange noch in der Wüste bleiben. Siehe dazu den BdW 01/2022 von Anfang dieses Jahres.
Mir gefällt die Wendung „Eine Verbitterung anrichten“. Du, lass Dich nicht verbittern, singt Wolf Biermann, in dieser bittren Zeit… Wir sind Kinder Gottes, auf dem Weg zu Gottes Ruhe, wenn wir trotz äußerer Bitternis in uns selbst fröhlich bleiben und voll Zuversicht. Ich glaube wirklich, das ist der eigentliche Erweis unseres Glaubens.
Aber Grund zur Beschwerde habe ich heute doch. Oben habe ich auf die (katholische) Einheitsübersetzung verlinkt, statt wie sonst auf die Lutherbibel 2017. Dort nämlich geschieht Merkwürdiges. In den Versen 16-18 werden in rhetorisch strenger Form Fragen gestellt und dann mit verneinten Fragen beantwortet, der Art: „Ist dieses Kind nicht hübsch?“ Noch die Lutherübersetzung 1984 hat die Struktur getreulich wiedergegeben. Hervorgehoben ist der gezogen Vers:
15Wenn es heißt: »Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht, wie es bei der Verbitterung geschah« – 16wer hat sie denn gehört und sich verbittert? Waren’s nicht alle, die von Ägypten auszogen mit Mose? 17Und über wen war Gott zornig vierzig Jahre lang? War’s nicht über die, die sündigten und deren Leiber in der Wüste zerfielen? 18Wem aber schwor er, dass sie nicht zu seiner Ruhe kommen sollten, wenn nicht den Ungehorsamen? 19Und wir sehen, dass sie nicht dahin kommen konnten wegen des Unglaubens.
So steht es in allen großen Übersetzungen, die ich konsultiert habe, so steht es auch im Original, wie mir meine griechischkundige Ehefrau bestätigen konnte. Hier eine Interlinearübersetzung. Aber in der Lutherübersetzung 2017 liest man:
15solange es heißt (Ps 95,7-8): »Heute, wenn ihr seine Stimme hört, so verstockt eure Herzen nicht, wie es bei der Verbitterung geschah.« 16Denn als sie das hörten, wurden einige verbittert, aber nicht alle, die von Ägypten auszogen unter Mose.17Und wem zürnte Gott vierzig Jahre lang? Waren’s nicht die, die sündigten und deren Leiber in der Wüste zerfielen? 18Wem aber schwor er, dass sie nicht in seine Ruhe eingehen sollten, wenn nicht den Ungehorsamen?19Und wir sehen, dass sie nicht hineinkommen konnten wegen des Unglaubens.
Der formale Fragecharakter von Vers 16 wird ignoriert und — abrakadabra — verwandelt sich das „Waren es nicht alle“? in sein logisches Gegenteil: „Es waren nicht alle!“ Dieses Kind ist nicht hübsch…
Dabei hat das Übersetzerkollektiv durchaus mit sich gerungen. Bei genauem Hinschauen entdeckt man, dass in einer Fußnote der wahre Wortlaut wiedergegeben ist, als „andere Übersetzung“. Und der Eingriff ist sicher gut gemeint. Das griechische Original nämlich ist in zweierlei Hinsicht nicht korrekt: sachlich nicht und auch nicht politisch. Nach der Schrift gab es durchaus Israeliten, die vom Fluch ausgenommen blieben und das Heilige Land sehen durften: Kaleb und Josua, die beiden Späher, die dem Versprechen des Herrn glaubten, siehe Num 14,30 und Jos 14,6. Und die im Vers enthaltene Wertung, dass der jüdische Weg nicht zum Heil führt, ist heute schwer erträglich.
Das Dumme daran ist, dass diese Wertung nahe an der Kernbotschaft des Textes liegt. Der Hebräerbrief versucht Menschen, die sich dem Christentum erst vor kurzer Zeit angeschlossen haben, von einem Rückfall in die jüdische Gesetzlichkeit abzuhalten. Man mag das Anliegen und die Wertungen des Briefs nicht teilen wollen, man mag dafürhalten, dass es zwei gleichwertige Wege zu Gott gibt, einen aus dem alten Bund und einen aus dem neuen. Ich selbst bin dieser Überzeugung. Aber mit welchem Recht kann ein Übersetzer sich selbst und sein gutgemeintes Dafürhalten so zwischen den Text und seine Leser schieben? Wenn der Leser geschützt werden muss, sollte man ihm eine Kinderbibel geben.
„Das Wort sie sollen lassen stahn, und kein Dank dazu haben.“ Das sagt Martin Luther. Der Satz steht in der abschließenden Strophe von „Ein feste Burg ist unser Gott“. An wen er dabei wohl dachte?
Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche, voll Zuversicht, auf dem Weg zu Gottes Ruhe!
Ulf von Kalckreuth