Bibelvers der Woche 47/2024

Da ging auch der andere Jünger hinein, der am ersten zum Grabe kam, und er sah und glaubte es.
Joh 20,8

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Er kam, sah und glaubte? 

Es ist Ostern und das Grab ist leer. Die Jünger hatten es leichter als andere, zu glauben, könnte man meinen. Sie waren dabei, in der ersten Reihe sozusagen, erlebten ihren Meister live in Tod und Leben. Kann Glaube da ein Problem sein?

„Glauben heißt ’nicht wissen'“, hört man gelegentlich. Das greift zu kurz. Glauben ist gelebte Interpretation von Wirklichkeit. oder vielleicht besser: subjektives Wissen um die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit. Und da hatten die Jünger kein Vorbild, niemand, in dessen Evangelium sie nachlesen konnten, um das dort Geschriebene dann zu glauben oder auch nicht. Sie mußten sich ihr Bild selbst schaffen. Jesus hatte Andeutungen gemacht, aber die hatten sie vollständig ignoriert. Mit Auferstehung hatte niemand gerechnet. 

Die Geschichte, in der unser Vers steht, gibt einen Eindruck davon, dass es ein Prozess war, der mühevoll und in Stadien verlief. Er kam, sah und glaubte — der Wortlaut unseres Verses kann isoliert einen falschen Eindruck vermitteln. Was nämlich der Jünger schließlich „glaubte“, war nur die einfache Tatsache, dass Jesus nicht mehr im Grab lag.  

Maria Magdalena war früh am Morgen zum Grab gekommen und hatte gesehen, dass der Stein weggewälzt und der Leib des Gekreuzigten verschwunden war. Sie hatte sofort eine Interpretation: jemand mußte den Leib aus dem Grab genommen haben. Sie lief zu den Jüngern und berichtete. Petrus und ein anderer Jünger, der, ‚den Jesus lieb hatte‘ — war es Johannes? — machten sich auf, um zu sehen, was geschehen war. Das Grab war eine Höhle, verschlossen mit einem großen Stein. Der Eingang war nun aber frei und nachdem Petrus sich im Grab umgetan hatte, überzeugte sich auch der andere Jünger.  

Mitnichten aber von der Auferstehung, nur davon, dass etwas Ungewöhnliches geschehen war. Maria ist immer noch der Überzeugung, dass jemand den Leichnam herausgenommen habe. Sie sieht Engel und befragt sie. Dann sieht sie einen fremden Mann und wendet sich an ihn, sie hält ihn für einen Gärtner. Der Fremde spricht nur ein Wort, ihren Namen. Sie wendet sich ihm zu. Ein bittersüßer, unendlich kostbarer Augenblick. Und sie antwortet, nur ein Wort auch sie: Rabbuni — Meister. 

Die Jünger sind in diesem Moment noch weit entfernt von einem Glauben an so etwas Unerhörtes wie die Auferstehung des vor ihren Augen zu Tode geschundenen Menschen. Erst in den nächsten Tagen und Wochen wird sich ein neues Weltbild durchsetzen, immer wieder angezweifelt: im Erleben Einzelner und im Austausch in der Gemeinschaft. 

Herr, hilf uns sehen, was wir vor Augen haben!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 47/2023

Also kam Salomo von der Höhe, die zu Gibeon war, von der Hütte des Stifts, gen Jerusalem und regierte über Israel.
2 Ch 1,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Worauf es ankommt, Teil II

Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Wunsch frei. Einen einzigen. Da kann man schon ins Grübeln kommen. Salomo opfert dem Herrn öffentlich auf der Höhe zu Gibeon, und in der Nacht darauf erscheint ihm der Herr und sagt ihm, er möge einen Wunsch äußern. 

Ein wenig wie im Märchen. Was soll Salomo sich wünschen? Er ist das uneheliche Kind Davids mit Batseba, einer verheirateten Frau, deren Mann sein Vater hatte töten lassen. Um den Thron besteigen zu können, hat er sich aus einer hinteren Position gegen seine vielen Brüder durchgesetzt, auch gewaltsam. Seine Macht ist nicht gefestigt. Da wäre der Tod der Feinde als Wunsch naheliegend, auch Macht und Reichtum, um sich durchsetzen zu können. Aber Salomo wünscht sich etwas, das nicht auf der Hand liegt: Weisheit und Erkenntnis. Sehr zum Erstaunen des Herrn: 

Weil du dies im Sinn hast und nicht gebeten um Reichtum noch um Gut noch um Ehre noch um deiner Feinde Tod noch um langes Leben, sondern hast um Weisheit und Erkenntnis gebeten, mein Volk zu richten, über das ich dich zum König gemacht habe, so sei dir Weisheit und Erkenntnis gegeben. Dazu will ich dir Reichtum, Gut und Ehre geben, wie sie die Könige vor dir nicht gehabt haben und auch die nach dir nicht haben werden. (2 Chr 1,11+12)

Ich sehe hier zweierlei. Manchmal schenkt Gott Dinge, um die wir nicht gebeten haben. Wenn wir hadern, dass das Leben die Erfüllung unserer Wünsche hartnäckig verweigert, mögen wir schauen, was da ist, ohne dass wir es uns gewünscht haben — Freundschaften, Erlebnisse, Musik, vielleicht ein wacher Geist oder die Freude an einem schönen und kraftvollen Körper. Wenn ich hinschaue, so ist meine Welt voll solcher Dinge.

Zweitens und spezifischer: Salomos Wunsch nach Weisheit ist ein weiser Wunsch. Könige haben ein spezielles Problem. Man ist König nur weil und solange andere sich nicht trauen, die Gefolgschaft zu versagen oder sich aufzulehnen. Ein König hat keine nennenswerte eigene Kraft, seine Kraft ist geliehen von anderen. Deren Schwert muß er einsetzen. Auf das eigene Schwert zurückgeworfen lebt er nicht lange. Die anderen sind stärker, wenn sie sich zusammentun, immer! Die Kräfteverhältnisse zu durchschauen, mit stets wachem Auge, das Gewicht zu verlagern, um das Gleichgewicht zu wahren und nicht abzustürzen, Erwartungen aufzubauen, Phantasien, Ängste und Träume anderer zu nähren, zu richten, zu steuern, dazu ist Erkenntnis und Weisheit nötig. Für Königtum ist das ist die Grundlage. So ausgerüstet steigt Salomo herab von der Höhe Gibeon, um Israel zu regieren. Und so kommt auch das andere, Reichtum, Macht und Ehre — und viele Frauen. 

Der Vers der vergangenen Woche gab Anlass nachzudenken, worauf es ankommt im Leben. Und ich hatte gefragt, ob in der Aufzählung des Psalms etwas fehlt. Hier ist eine gute Antwort: Weisheit und Erkenntnis. Weisheit und Erkenntnis bergen indes manchmal Wahrheiten, denen man sich eigentlich gern entziehen würde. Vielleicht deshalb ist der Wunsch Salomos nicht universell. Aber am Ende wird die Wahrheit uns frei machen, sagt Joh 8,32. Daran habe ich stets geglaubt und tue es noch. 

Der Herr verleihe uns Weisheit und Erkenntnis!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 19/2023

Desgleichen auch etlicher gute Werke sind zuvor offenbar, und die andern bleiben auch nicht verborgen
1 Tim 5,25

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Geschehen, ungeschehen und alles, was dazwischen liegt

Ein Urteil über unser Handeln ist in manchen Fällen (menschen)möglich, sagt unser Vers, in anderen Fällen aber muss es Gott dem Herrn und dem Jüngsten Gericht überlassen bleiben — wir sehen manches, aber nicht alles. Dies gilt für Gutes wie für Verwerfliches:

Bei einigen Menschen sind die Sünden offenbar und gehen ihnen zum Gericht voran; bei einigen aber werden sie hernach offenbar. Desgleichen sind auch die guten Werke einiger Menschen zuvor offenbar, und wenn es anders ist, können sie doch nicht verborgen bleiben. 1 Tim 5, 24+25.

Es ist nicht ganz klar, wen oder was Paulus in dem Brief an seinen Schüler meint. Vorher spricht er über Gemeindeleitung, und dass man vorsichtig sein muss, wenn es darum geht, Leitungsbefugnisse zu übertragen. Aber dazwischen gibt es auch noch andere Gedanken. Ich lese den Vers als allgemeine, vom konkreten Gegenstand losgelöste Überlegung.

Die Handlungen anderer können wir zum jeweiligen Zeitpunkt nur unvollkommen beurteilen, schreibt Paulus. Wie sieht es mit unseren eigenen aus? Und wie steht es um Dinge, die wir nicht getan haben, aber gut und gern hätten tun können — wenn wir in eine Lage gekommen wären, die eine entsprechende Entscheidung von uns verlangt?

Es gibt eine spannende Interpretation der Quantenmechanik, die besagt, dass die einem Weltzustand möglicherweise erwachsenden quantenphysikalischen Folgezustände gleichberechtigt nebeneinander stehen und alle gleichermaßen real sind. In Wahrheit gibt es keinen Zufall. Die Welt verzweigt sich immer weiter, wir sitzen auf einem bestimmten Ast und sehen nur, was uns dorthin geführt hat — die vielen anderen Äste, die Parallelwelten, sehen wir nicht. Es gibt sie aber dennoch, so diese Auffassung. Klingt irre, ist aber durchaus ernst zu nehmen. Man spricht von der Viele-Welten-Interpretation der Quantentheorie und vom Multiversum. Hier zwei Links: ein Wikipedia-Artikel und eine einfache Darstellung.

Multiversum — Ulf von Kalckreuth mit Dall-E , 01.05.2023

Wir sehen diese anderen Welten nicht, man könnte daher sagen, sie sind irrelevant. Aber in moralischer Hinsicht sind sie von großer Bedeutung. Neben dem, was wir kennen und sehen, stünde ja gleichberechtigt alles andere, das es geben könnte oder hätte geben können. Ein Ulf, der ein großer Wissenschaftler wurde, ein Schlachtenlenker, ein Frauenmörder oder — um alledem aus dem Weg zu gehen und sich dem zu widmen, worauf es wirklich ankommt — ein Mönch. Ein Ulf, der früh gestorben ist, einer, der zum Trinker wurde, einer, der viele Kinder von vielen Frauen hat, oder auch ein kinderloser Playboy. Jede dieser unzählig vielen Welten ist eine Abfolge von Bedingungskränzen für Ulfs Handlungen, Entscheidungen und Worten — und er hätte in der einen Welt Schreckliches getan, in der anderen Gutes, in den meisten wohl beides. Einen Überblick über sich und sein Handeln hat er nicht, kann er gar nicht haben. Er könnte allenfalls in sich hineinhorchen, um zu spüren, was möglich ist.

Mir ist diese Vorstellung wichtig. Wir tragen auch Verantwortung für das, was wir in bestimmten Situationen tun würden oder getan hätten. Das scheinbare Glück, vor manche Fragen gar nicht gestellt zu sein, ist Trug und Blindheit. Wer die vielen Welten überschaut — Gott also, niemand sonst — sieht, was Ulf unter jeder denkbaren Voraussetzung getan hätte, sieht auch die dazugehörige Verteilung. Hier Verwerfliches, dort vielleicht strahlend Helles. Absolute Gerechtigkeit, die wollen wir doch immer haben: hier wäre sie…!

Ich stelle mir dann vor, dass wir vor Gottes Thron mit den vielen Welten konfrontiert werden, und mit unseren Rollen darin. So du willst Sünde zurechnen — Herr, wer kann bestehen? fragt Psalm 130. Ja, wer kann dann noch bestehen? Und der Psalm selbst antwortet: Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.

Vielleicht ist es so, vielleicht fallen wir in die Liebe Gottes! Es war wiederum Paulus, der diese Begegnung auf unsterbliche Weise beschrieben hat:

Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören (…) Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt werde. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
(1 Kor 13,9-13)

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, in jeder der unzähligen Welten, die sie gebären wird.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 13/2023

Und der HErr redete mit euch mitten aus dem Feuer. Die Stimme seiner Worte hörtet ihr; aber keine Gestalt saht ihr außer der Stimme.
Dtn 4,12

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die Welt als Kippbild

Gott nimmt sich in dieser Welt auf eigenartige Weise zurück. Er tritt nicht als König auf, als Weltenherrscher, als ‚Big Brother‘. ChatGPT, obschon dem Wesen nach körperlos, ist greifbarer als der Schöpfer dieser Welt. Das Alte Testament kennt zwei Erklärungen. Die erste gibt es in Ex 33, als Mose bittet, Gott sehen zu dürfen. Gottes Präsenz ist zu groß, zu mächtig, um erträglich zu sein, ein Mensch kann Gott nicht sehen und leben, heisst es. Die zweite gibt es hier, im Text von Deut 4: Wenn Gott sich kenntlich machte, würden Menschen sich Bilder von ihm fertigen und diese anbeten: die Fasslichkeit würde die Beziehung von Gott und Mensch zerstören. Man kann beide Gedanken noch etwas verfolgen: Wenn Gott für jedermann sichtbar würde, es wäre dies das Ende der Welt, wie wir sie kennen, ein Leben in eigener Verantwortung wäre nicht möglich.  

Unser Gott ist ein unsichtbarer Gott. Ob wir ihn annehmen oder nicht, ihn in unser Leben nehmen oder nicht, hat tatsächlich etwas mit freier Entscheidung zu tun. Die Welt ist wie eines dieser Vexierbilder, auf denen man alternativ eine junge oder eine alte Frau sehen kann, in denen sich eine Vase in zwei Gesichter verwandeln lässt, mit einem puren Willensakt. Dieselben Elemente des Bildes können auf mehrere Weisen zueinander in Beziehung gesetzt werden, die Interpretationen allerdings schließen einander aus. 

Eine Welt mit Gott ist fundamental verschieden von einer Welt ohne Gott, aber die Welt und Gott zwingen uns keine der beiden Interpretationen auf. Wir können wählen. Und wir wählen dabei auch und vor allem zwischen unterschiedlichen Lebenszusammenhängen für uns selbst.  Lassen Sie das Bild oben in Ihrem Kopf hin- und herkippen. So ändert sich unsere Welt, je nachdem, ob wir sie als Gottes Werk sehen oder nicht.

Rubins Vase, das bekannteste Kippbild
Face or vase, by Nevit Dilmen, 16.08.1011,
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Face_or_vase_7741.svg?uselang=de#filelinks

So ist das, was von Ihm in unsere Welt hineinspricht, nur sein Wort — ein Wort aus dem Feuer, ein körperloses Wort, eine Existenzform eigener Art. „Keine Gestalt saht ihr ausser der Stimme.“ Gottes Wort ist so heilig wie sein Name, wie er selbst. 

„Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar…!“

Der Herr, unser unsichtbarer Gott, sei mit uns!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 02/2023

…dass sie Gutes tun, reich werden an guten Werken, gern geben, behilflich seien,…
1 Ti 6,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

It’s a kind of magic

Die Bibel ist voller Warnungen vor dem Reichtum. Am bekanntesten ist das Diktum Jesu, leichter komme ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel (Mk 10,23-27). Es gibt hier zwar große Diskussionen über die Semantik, aber der Satz lässt Reichen wenig Raum für Hoffnung — auch wenn Jesus explizit hinzufügt, dass bei Gott nichts unmöglich sei. 

Wer ist reich? Wer ist hier gemeint? Im Vergleich zu Jesus und seiner Umgebung sind die Leser dieses Blogs wohl alle reich — superreich sogar. Gebildet, mit hoher Lebenserwartung versehen und einem staunenerregenden ökologischen Fußabdruck, der unseren Ressourcenverzehr kennzeichnet. Ich will den Abstand hinsichtlich der Lebensvollzüge nicht ausbuchstabieren, es ist nicht schwer. Reich im Vergleich zur Mitte der jeweiligen Gesellschaft, zum Beispiel der Bundesrepublik in den ersten Jahrzehnten des einundzwanzigsten Jahrhunderts, sind natürlich immer nur wenige. Was ist gemeint — hoher Lebensstandard und die Abwesenheit grundlegender materieller Probleme oder eine herausgehobene Stellung in der Gesellschaft? Was ist das Problem, und was lässt sich tun? Ich bin Ökonom, ich habe mir die Frage erst einmal selbst vorgelegt. Vielleicht tun Sie das gleiche?

Was macht Verfügung über materielle Ressourcen aus einem Menschen? Geld und Güter sind Mittel zum Zweck, sollen Ermöglicher sein, Motor. Aber das Maß, in dem Geld und Einkünfte vorhanden, sind oder auch nur möglich, erreichbar, vielleicht gefährdet oder endgültig verloren, kann sehr intensiv auf einen Menschen zurückwirken. Geld, die Sorge darum und das Begehren danach, kann einem Menschen den Verstand rauben. Es kann ihn isolieren, in eine Scheinwelt versetzen, kann ihn kalt machen den Bedürfnissen anderer gegenüber, und auch blind hinsichtlich der eigenen Bedürfnissen. Mit Geld können wir an Gestaltungsmacht gewinnen und Sklave werden zugleich. 

Geld verschafft Sicherheit. Es gibt kaum eine Hilfeleistung, die sich nicht kaufen ließe, kaum ein Problem, bei dem Geld nicht einen wichtigen Lösungsbeitrag liefern könnte, oder — wenn nichts mehr geht — wenigstens Linderung. Geld lässt sich in alles andere verwandeln, es hat etwas magisches. Aber die Sorge, diese magische Sicherheit für das Leben wieder verlieren zu können, schafft Angst, Todesangst sogar. Gegen diese Angst hilft nur mehr Geld. Geld verschafft Status, Partizipationsmöglichkeiten, lässt uns dazugehören. Ohne Geld sind wir draussen, stehen wir allein. Was will der Ehepartner dann noch wissen von uns, die Familie, die Freunde, die Kollegen? Auch dies wieder Grund genug für Angst, eingeschränkte Wahrnehmung, ein Röhrengesichtsfeld. 

Armut ist nicht schön, beraubt uns vieler Entwicklungsmöglichkeiten, macht krank. Nur für wenige Menschen ist Armut erstrebenswert. Die Bibel spiegelt dies oft und oft. Aber Geld kann korrumpieren. Der springende Punkt ist, dass es kein bestimmtes Einkommens- oder Vermögensniveau gibt, oberhalb dessen wir in Gefahr sind, unterhalb dessen aber frei — persönlichkeitszersetzende Wirkungen können auch von geringeren Einkünften ausgehen, oder von der Aussicht darauf. Ein extremer Fall wäre ein Räuber, der einen Menschen wegen zweier Fünfzigeuroscheine tot schlägt. In Abwandlung einer bekannten Werbung könnte man sagen: Geld — es kommt darauf an, was es aus uns macht.

Das ist ein riesiges Thema. Filme und Romane kreisen darum, von der romantischen Liebe abgesehen gibt es kaum ein Thema, das die Phantasie so anregt wie Geld und Geldgier. Wie wirkt Entzug? Wie ich dies schreibe, stecke ich in einem ungeplanten Selbstversuch. Ich verbringe einige Tage in einer Jugendherberge „alten Stils“ im Allgäu. Mit meiner Frau, einer Tochter und ihrer Freundin wohne ich in einem kleinen Zimmer mit drei Etagenbetten, einem Tisch und zwei Stühlen. Keine Leselampe, nur ein einziger Netzstecker. Das gibt Stoff für Diskussionen zwischen den Besitzern von vier Handys und drei Tablets. Einfaches Frühstück, Lunchpaket, minimalistisches Abendessen. Kein Fernseher, Musik oder andere Ablenkung, noch nicht einmal ein Aufenthaltsraum. Um zehn erlischt das Licht im Haus. Anfangs fehlt allen etwas, Unzufriedenheit wallt auf, Nörgeleien, Streitereien. Dann wird die Beschränkung allmählich zur Erholung, auch für die Kiddies. Gerade haben sie sich zu einem Spaziergang von uns verabschiedet, das habe ich noch nie erlebt…

In God we trust?

Der rechte Umgang mit Reichtum könnte eine Herausforderung für Timotheus bedeutet haben. Paulus jedenfalls redet in dem persönlich gehaltenen Mahnschreiben an seinen früheren Mitarbeiter mehrmals über Geld und seine Fallstricke, siehe 1 Ti 6, 8-10 sowie 17-19. Die erste der beiden Stellen spricht davon, was Geld mit Menschen macht: 

Wenn wir aber Nahrung und Kleider haben, so wollen wir uns daran genügen lassen. Denn die reich werden wollen, die fallen in Versuchung und Verstrickung und in viele törichte und schädliche Begierden, welche die Menschen versinken lassen in Verderben und Verdammnis. Denn Geldgier ist eine Wurzel alles Übels; danach hat einige gelüstet und sie sind vom Glauben abgeirrt und machen sich selbst viel Schmerzen.

Die Wurzel allen Übels…! Ja, Angst und Begehren bringen uns in Abhängigkeiten — „Verstrickungen“, wie Paulus es nennt — und erzwingen vieles, das wir eigentlich, a priori, ablehnen würden. Die andere Stelle, das direkte Umfeld unseres Verses, gibt Rat, wie ein Mensch mit seinem Reichtum umgehen kann, wie man die Fallstricke vermeidet; und ich behaupte, es geht dabei um jedes Einkommens und Vermögensniveau, nicht nur um das der oberen Zehntausend:

Den Reichen in dieser Welt gebiete, dass sie nicht stolz seien, auch nicht hoffen auf den unsicheren Reichtum, sondern auf Gott, der uns alles reichlich darbietet, es zu genießen; dass sie Gutes tun, reich werden an guten Werken, gerne geben, behilflich seien, sich selbst einen Schatz sammeln als guten Grund für die Zukunft, damit sie das wahre Leben ergreifen.

Nicht stolz sein. Nicht auf die Sicherheit des Reichtums setzen, statt dessen auf Gott, der uns gibt, was wir brauchen. Psalm 23, der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln… Der Angst entgehen, dabei frei sein, gerne geben, behilflich sein. Das wahre Leben, von dem Paulus spricht, liegt bereits im Diesseits!

Der Herr helfe uns, Freiheit und Integrität zu bewahren. Dann geht auch ein Kamel durch ein Nadelöhr!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 35/2022

Und am andern Tage, da Agrippa und Bernice kamen mit großem Gepränge und gingen in das Richthaus mit den Hauptleuten und vornehmsten Männern der Stadt, und da es Festus hieß, ward Paulus gebracht.
Apg 25,23

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

In der Schwebe — dauerhaft!

Der Vers beschreibt den Moment, wo vier Menschen zusammentreffen, um das Vorgefallene zu verstehen. Er steht in einer langen, verwickelten Geschichte. Wie einen literarischen Text kann man sie aufdröseln. Vielleicht stelle ich zunächst kurz die vier Menschen vor, die dramatis personae, mit Wikipedia-Links

Paulus: Chefmissionar ohne Kirche. Christ und Pharisäer, Jude von Geburt, Römer per Staatsbürgerschaft, und Grieche per Herkunft und Sprache. Als Missionar hat er gelernt, allen alles zu sein (1. Kor. 9, 19-23). Nun, da er in Gefangenschaft geraten ist, setzt er seine vielen Identitäten wie Reisepässe an der richtigen Stelle ein. 

Agrippa (Herodes Agrippa II), Klientelkönig der Römer, Enkel von Herodes des Großen, und nominell Herrscher über wechselnde Teile der römischen Provinz Syria. Wie andere Kolonialherren versuchen die Römer, ihre Macht möglichst über lokale Vertraute auszüben, deren Herrschaft in den Augen der Bevölkerung eine gewisse Legitimität besitzt. Agrippa steht auch die Oberaufsicht über den Tempel in Jerusalem zu, mit dem Recht, den Hohenpriester einzusetzen — damit kommt ihm eine Führungsposition in religiösen Fragen zu. 

Berenike: Schwester von Agrippa mit buntem und skandalträchtigem Leben, ist Vorlage vieler literarischer Darstellungen. Zur Zeit der Handlung lebt sie mit ihrem Bruder in einem auf Dauer angelegten Verhältnis. Sie wird später Geliebte von Titus, bevor dieser römischer Kaiser wird. Theodor Mommsen nannte sie „Kleopatra im Kleinen“.

Porcius Festus, Prokurator und Inhaber der römischen Befehlsgewalt in Cäsarea, ist als Nachfolger des Marcus Antonius Felix gerade in sein Amt gekommen. Er kennt sich in den jüdischen Interna nicht aus und ist besorgt, unnötige Konflikte zu vermeiden.

Was bringt die vier zusammen?

Paulus ist in Jerusalem von den Römern vor wütenden religiösen Juden in Sicherheit gebracht worden, die ihn im Tempel entdeckt hatten. Beinahe hätte ihn dort das Schicksal seines Meisters ereilt. Er kommt in eine Art Schutzhaft. Dies ist der Beginn eines schier unendlichen Zugs durch die Instanzen der römischen juridischen Maschine. Ein Oberst lässt ihn schlagen und bekommt es mit der Angst zu tun, als dieser sich auf sein römisches Bürgerrecht beruft. Paulus wird nach der Provinzhauptsatdt Cäsarea überstellt. Dort sollte der römische Statthalter Felix entscheiden, was mit dem sonderbaren Gefangenen geschehen mag, gegen den schwer greifbare, aber hochemotionale Beschuldigungen gerichtet werden. Felix überlässt diese Entscheidung seinem Nachfolger Festus und lässt Paulus derweil jahrelang in leichter Haft. 

Festus, der neue Prokurator, will gute Beziehungen zu den religiösen Juden und schlägt vor, man könne die Sache in Jerusalem entscheiden. Paulus lehnt ab — das Recht dazu hat er als römischer Staatsbürger offenbar — und verlangt, dass seine Sache vor einem kaiserlichen Gericht entschieden werden solle, in Rom also. Auch in diesem Fall würde sich das Problem für Festus erledigen, er hat daher nichts dagegen.  Aber von den Dingen der Juden und Christen weiß er so wenig, dass er nicht einmal eine Anklageschrift formulieren kann.

Und weil Agrippa, als Oberherr des Tempels mit seiner Schwester Berenike seinen Antrittsbesuch macht, lädt Festus das königliche Paar ein, den rätselhaften Gefangenen gemeinsam zu betrachten. Der gezogene Vers bringt die vier Menschen endlich zusammen.  

Agrippa kennt die christliche Lehre einigermaßen und versteht die Hintergründe des Konflikts. Er gibt Paulus Gelegenheit zu einer langen Verteidigungsrede, die dieser nutzt, um sich als frommer Jude mit einer besonderen Einsicht vorzustellen. Agrippa und die anderen Teilnehmer des Verhörs können keine Schuld erkennen. An diesem Punkt könnten der römische Prokurator und das königliche Paar ihn mühelos lossprechen. Statt dessen aber tritt Paulus seinen Weg nach Rom an — ohne Anklageschrift.  Dort wird sich die Geschichte von ungerichteter Haft und der Suche nach klaren Konturen noch viele Jahre lang fortsetzen, bis zu seinem Tod im Zuge einer Christenverfolgung unter Nero.

Wahrheit kann ungreifbar sein, mit den Begriffen, die uns zur Verfügung stehen.

Ich denke, das ist der Kern dieser sonderbaren Geschichte und unseres Verses. Niemand auf dem langen Instanzenweg vermag eine Schuld zu erkennen. Anders als bei Jesus von Nazareth, der in Jerusalem in fast der gleichen Lage recht schnell zu Tode kam, bleibt Paulus‘ Schicksal dauerhaft in der Schwebe. Er lebt eine Zwischenexistenz als Gefangener erster Klasse mit vielen Sonderrechten. Mit den Kategorien des römischen Rechts lässt sich das, wofür er steht, nicht fassen. Paulus vermag sich überall adäquat zu verteidigen. Die kolonialen Instanzen bleiben eigentümlich wirkungslos.

Aber sie geben ihn auch nicht frei. Es ist gleichzeitig offensichtlich und nicht justiziabel: Der Apostel ist eine Herausforderung, nicht nur für religiöse Juden, sondern auch für das römische Reich. So, wie niemand ihn schuldig sprechen kann, will auch niemand verantwortlich sein, ihn losgegeben zu haben. Er wird immer weitergereicht. Paulus hat keine Schuld, sondern ein Schicksal, eine Bestimmung. Gefangen, und doch frei. Er erreicht Rom nach vielen Monaten und einem Schiffbruch — und es wirkt nicht, als brächte ihn die römische Gerichtsbarkeit dorthin, eher so, als zöge seine Bestimmung ihn wie ein Magnetberg an… 

Ich kann es leider nicht besser sagen. Albert Camus hätte vielleicht eine großartige Erzählung daraus gemacht. Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche auf dem Weg zu unserer Bestimmung, was auch immer sie sei, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 49/2021

Die machten beide Isaak und Rebekka eitel Herzeleid.
Gen 26,35 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Haussegen

Es geht um die Schwiegertöchter. Der Vers ist so etwas wie ein Stoßseufzer. Esau war der erste Sohn Isaaks und Zwillingsbruder Jakobs. Die beiden unterschieden sich in so gut wie jeder Hinsicht, die sich denken lässt, so auch im Heiratsverhalten. 

Esau heiratete schon in jungen Jahren ohne Umstände zwei „Hetiterinnen“ aus der ortsansässigen Bevölkerung. Diese Ehen waren problematisch: Isaak und Rebekka jedenfalls sind schwer gekränkt (unser Vers), und am Ende des folgenden Kapitels (Gen 27,46) sagt Rebekka zu ihrem Mann: „Mich verdrießt zu leben wegen der Hetiterinnen. Wenn Jakob eine Frau nimmt von den Hetiterinnen wie diese, eine von den Töchtern des Landes, was soll mir das Leben?“ Das lässt sich eigentlich kaum noch steigern. 

Und es ist durchaus aus dem Leben gegriffen. Jeder, der diesen Text liest, kennt aus eigener Anschauung Familien, in denen Zwist und Hader mit den Schwiegersöhnen oder -töchter herrscht. Vielleicht ist das eine biologische Konstante. Evolutionsbiologen sagen, dass wir geschlechtliche Wesen sind, damit die genetische Variabilität in der Bevölkerung erhalten bleibe. Sie ist Schutz gegen Epidemien und essentielle Grundlage für genetische Anpassungsfähigkeit. Diese Variabilität sorgt auch für Spannungen.  

In dem Vers geht es aber nicht nur um Lebenswirklichkeit, sondern auch um biblische Geschichte. Das Alte Testament weist, anders als die Evolutionsbiologen, in allen seinen Teilen eine gewisse Obsession mit der Reinheit des Bluts auf. Die Nachkommen Jakobs, die „Kinder Israels“, sollten sich nicht mit der einheimischen Bevölkerung vermischen, ihre Sprache, Gebräuche und Götter annehmen. Nach der Rückkehr aus Babylonien mussten die Judäer gar die fremdstämmigen Frauen aufgeben, die sie im Exil geheiratet hatten, siehe den BdW 2/2018

Das ist in den Vätergeschichten bereits angelegt. Schon Isaak sollte keine der Töchter des Landes heiraten, sein Vater Abraham schickte eigens einen Knecht in die aramäische Heimat, um eine Frau für ihn zu freien. Er kam zurück mit Rebekka, einer Kusine Isaaks. Und auch Jakob, Isaaks Sohn, sollte seine Frauen in der alten Heimat Abrahams finden. Rebekka nämlich will Jakob vor dem Zorn ihres Bruders Esau retten und rät ihm zur Flucht. Ihrem Mann sagt sie, dass sie mit weiteren Schwiegertöchtern aus Kanaan nicht leben könne, woraufhin dieser seinen Sohn nach Aram schickt, damit auch er dort eine Braut finde. Das ist der Beginn einer langen Geschichte. Als junger Mann geht Jakob fort, erst nach insgesamt 14 Jahren Brautwerbung bei seinem Onkel Laban darf er Lea und Rahel endlich nach Hause nehmen. Seine Kinder werden die Väter der Stämme Israels. 

Was geschieht mit Esau? Er nimmt den Zorn seiner Eltern wahr und heiratet eine dritte Frau — die Tochter seines Onkels Ismael. Der aber hatte sich seinerseits schon mit den Töchtern des Landes eingelassen. Später zieht Esau mit seinen Herden in das Gebirge Seïr, tief im wüstenhaften Süden. Er wird so zum Stammvater der Edomiter, einem mit den Israeliten eng verwandten Volk, mit dem Juda über einen langen Zeitraum schwere Auseinandersetzungen führte, siehe den BdW 13/2018. Über die Edomiter spricht die Bibel oft schlecht. Ihren Geburtssegen haben sie an Israel verloren. Aber sie bleiben die „älteren Brüder“.

Die Angehörigen der Heilslinie, Isaak und Jakob, heiraten blutsverwandte Frauen aus Aram. Ihre Brüder hingegen, Ismael und Esau, heiraten einheimische Frauen und entfernen sich damit vom Volk Gottes. Ich schätze beide sehr, Esau wie auch Ismael. Es sind Wüstenmenschen, die mit ihrem Schicksal souverän umgehen können. Esau ist emotional, er kann gewalttätig sein, aber auch großzügig. Viel großzügiger, als sein Bruder es sich träumen lässt, siehe Gen 32+33. Beim Lesen habe ich die Stammtafel Edoms entdeckt, Gen 36. Dort wird mit verhaltener, aber großer Ehrerbietung von Esau und Edom berichtet. Der Abschnitt schließt nach einer langen Aufzählung von Fürsten fast ebenso, wie er beginnt: „Das ist Esau, der Stammvater der Edomiter.“ Mit den Frauen eben, die er heiratete und mit denen er seine Kinder hatte. 

Vielleicht kann man das mitnehmen von der langen Rede: Was am Ende bleibt, ist nicht der Streit in Ehe und Familie, nicht Schwiegermütter und Schwiegertöchter, sondern — die Kinder. 

Der Herr segne sie.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 41/2021

Freuet euch in dem Herrn allewege! Und abermals sage ich: Freuet euch!
Phi 4,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Freude!

Vor etwas mehr als einem Jahr zogen wir einen Vers, der diesem hier unmittelbar folgt: Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen! der Herr ist nahe! (Phi 4,5), und damals betrachtete ich beide gemeinsam. Hier ist ein Link zum BdW 34/2020. Das ist nicht lange her, es stimmt noch alles, einschließlich leider auch der Probleme mit dem Rücken und der Erziehung. Der Vers zeigt einfach und unmißverständlich, ob jemand auf dem richtigen Weg ist. Dann nämlich geht Freude von ihm aus — sichtbar, spürbar — dann kann er ein Segen für die Welt sein. Wir dürfen uns freuen, wir sollen es sogar, Gott will es so, will uns so. Die Frohe Botschaft trägt ihren Namen aus gutem Grund. Und umgekehrt: wenn man unfroh ist, läuft etwas, läuft man falsch. 

Da es die Betrachtung zum Bibelvers dieser Woche also schon gibt, darf ich aufschauen und den Blick weiten. Und da sehe ich, dass wir in den vergangenen Wochen Verse gezogen habe, die jeweils eine Essenz des Glaubens auf einen einfachen und lebenspraktischen Nenner bringen — zum Anfassen gewissermaßen:

  • Vor zwei Wochen wurden wir aufgefordert, unseren Nächsten, gar unseren Feind zu lieben. Ihn in seiner Mitgeschöpflichkeit zu sehen und die eigenen Interessen nicht automatisch höher zu bewerten als die Bedürfnisse des Anderen.
  • Vor einer Woche gab es einen Vers, der uns den Schatten der Flügel Gottes als Zufluchtsort bot, in persönlicher Not, bei Verzweiflung, Lebens- und Todesangst.
  • Und der Vers dieser Woche sagt uns, dass der Weg mit Gott in Freude mündet: Freude aus Gott, die wir nicht nur empfangen dürfen, sondern aktiv weitergeben können. 

Mir scheint, die drei Verse und die damit verbundene Haltung charakterisieren den christlichen Glauben, und zwar im Ergebnis. Ein Menschen, der so lebt, folgt Jesus, auch wenn er ihn nicht kennt. Immer wieder habe ich mich in dieser Woche gefragt, welcher dieser drei Verse der richtige sei, wenn ich traurig war oder in Schwierigkeiten steckte. Die Antwort war stets einfach. 

Dabei sind die Verse selbst sehr anspruchsvoll, jeder für sich. Über Nächsten- und Feindesliebe brauche ich nichts zu sagen. Dann aber: wer von uns weiß sich unter den Schatten der Flügel Gottes jederzeit geborgen? Auch das sagt uns Jesus immer wieder: sorgt euch nicht, der Vater sorgt für euch! Aber die Sorge ist ziemlich fest verdrahtet in uns. Und Freude ist wahrhaftig nicht immer leicht — ich will es hier nicht ausbuchstabieren, das würde die Freude verderben, aber gelegentlich grenzt Freude durchaus an Realitätsverweigerung. Das ist mit allen drei Versen so: sie enthalten ein lautes „Trotzdem!“

Was macht den Kern des Glaubens aus? Kanonische Versuche, das Unsagbare in Worte zu fassen, sind die Glaubensbekenntnisse. Sie sind nicht leicht zu lesen und zu verstehen. Wichtiger als Aussagen und ihre logischen Beziehungen zueinander ist das, was daraus folgt, für unser Leben, das der anderen und unser Verhältnis zu Gott. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Wahrheit unerkennbar ist. Paulus fand dafür das Wort vom dunklen Spiegel, durch den wir blicken. Für die eine, unerkennbare Wahrheit können wir Bilder, Vorstellungen und begriffliche Konstrukte suchen. Sie sind dann gut, wenn sie zu richtigem Sein, zu richtigem Handeln führen. Sie sind Stützen, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Was zählt, ist die Haltung, die innere Verfasstheit, die mit diesen Vorstellungen einhergeht und wechselwirkt. Der Rest ist Theologie.

Mein Credo könnte also lauten: In Jesus Christus will ich ein Mensch sein, der das Mitgeschöpf im Anderen sieht, auch wenn er ihm fern steht, der sich geborgen weiß unterm Schatten der Flügel Gottes, und der dem Leben, seinen Mitmenschen und seinem Gott — und schließlich auch seinem Tod — mit Freude begegnet, innerlich und äußerlich. 

Wenn Sie Zeit und Ruhe haben, gehen Sie in sich und versuchen Sie, sie zu spüren, die Freude. Sie ist da, in Ihnen, sie will gefunden werden!

Ich wünsche uns Freude, und die Fähigkeit dazu, in der kommenden Woche und immer!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 07/2021

Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. So jemand die Welt liebhat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters
1. Joh 2,15

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gott und die Welt

Absage an die Welt — mit diesen Worten ist in der neuen Lutherbibel der Abschnitt überschrieben, aus dem unser Vers stammt. Der Vers gibt einen Kern johannäischer Theologie wieder: den Dualismus von Göttlichem und Weltlichem. Es gibt ihn bereits im jüdischen Ursprung des Christentums, aber bei Johannes wird eine Gegnerschaft, eine Feindschaft daraus. Die Welt hat sich gegen Gott entschieden und sich ins Dunkel gewandt. Gott hat seinen Sohn geschickt, fleischgewordene Torah, er ist das Licht im Dunkel, zu dem die Menschen sich wenden können — und es zumeist nicht tun. Die Welt ist vergänglich und dem Untergang geweiht und mit ihr jeder, der sich an ihr festhält. Ewig hingegen ist Gott: wer sich dem Licht zukehrt, den nimmt er auf. 

Wir haben also die Wahl zwischen der Liebe des Vaters und dem Hang zur Welt, sagt Johannes.

Der Dualismus hatte eine ungeheure Wirkung in der Geschichte der christlichen Religion. Die Gegnerschaft von Gott und Welt festzustellen ist gleichbedeutend mit der Aufforderung, sich der Welt ab- und Gott zuzuwenden. In der Frühzeit der Kirche waren es die Eremiten und Asketen, später die Mönchsorden, die Büßer und die Ordensritter, die diesem Ruf folgten. Der große Prediger Wilhelm Busch spricht von der „verfluchten Welt“, die jeder Großstadtpfarrer kennt.

Wovon sollen wir uns abwenden? Sich von der Welt abzuwenden kann ja auch bedeuten, die eigenen ungelösten Probleme zu entsorgen, in der Gewissheit noch dazu, das Rechte zu tun. Wilhelm Busch meint eine Welt ohne Gott, die sich sinnlos um sich selbst dreht. Man kann sein Leben in Selbstmord wegwerfen, sagt er, oder in Vergnügen und Genießen. 

Aber die Welt — das sind auch Sonne, Mond und Sterne, das Meer und der Himmel über dem Gebirge, sind Ehepartner, Kinder, Eltern und Freunde, Musik und Kunst. Hat nicht Gott die Welt erschaffen? Ist sie nicht sein Interface, spricht er nicht durch sie zu uns? Die Welt als Ganze abzulehnen wirkt wie eine höhere Form der Undankbarkeit — und auch etwas arrogant. Kann ich meinen Nächsten lieben, wenn ich die Welt hasse? Gott selbst sehen wir nicht — wenn wir ihn nicht in der Welt und in den Menschen suchen, die darin leben, so können wir ihn nur in uns selbst zu finden hoffen, wie es die Mystiker taten. Kann ich das wagen? 

Wir alle sind ja auf Entzug gesetzt, was die Welt betrifft, und Fasten schärft die Sinne. Ich bin heute (Dienstag) nach mehreren Tagen wieder draussen. Es ist ein hellsonniger Tag, klirrend kalt, nach so vielen dunklen Wochen. Matsch und Morast sind überfroren von Reif, Eis und Schnee, der Boden trägt wieder und ist griffig, das Gehen fällt leicht, trotz der Rückenschmerzen. Das Eis blitzt. Kälte und Licht ergreifen nach und nach Besitz von den trüben Gedanken und machen sie bedeutungslos und unwirklich. Ich kann wieder reden mit Gott und meinen Platz sehen in der Welt. Ich schicke einer Freundin einige Bilder.

Nein, wenn ich mich gänzlich abkehre von der Welt, kann ich mich ebenso verlieren, wie wenn ich ihr verfalle. Abkehren muß ich mich von dem, was krank macht an Leib und Seele. Das ist sicherlich viel, aber ebenso sicherlich nicht alles. Denn auch Gott ist in der Welt, sonst wäre sie nicht. 

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 03/2021

Wer aber die Wahrheit tut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden; denn sie sind in Gott getan.
Joh 3,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Die Wahrheit tun

Ein Pharisäer namens Nikodemus, ein Gesetzeslehrer, kommt nachts zu Jesus. Er ist überzeugt, dass Jesus in einer besonderen Beziehung zu Gott steht und will mehr wissen. Jesus spricht zu ihm von der Wiedergeburt aus dem Geist. Und dann von seiner Mission: der eingeborene Sohn Gottes ist in die Welt gekommen, sie zu retten, nicht sie zu richten. 

Was Jesus dem Nikodemus dann erklärt, führt in das Zentrum seiner Botschaft. Gott hat das Licht gesandt, und die schiere Anwesenheit des Lichts bewirkt, dass die Menschen ihr Wesen offenbaren. Wer seine Werke verbergen will, sie verbergen muss, meidet das Licht und bleibt im Schatten. Andere kommen hin zum Licht, es sind die, die das Licht brauchen, damit ihre Werke gesehen werden, damit sie wirksam werden können. Einen Richter, der die beiden Gruppen trennt, braucht es gar nicht, die Menschen richten sich selbst. Das ist sehr modern, es hat nichts mit der Vorstellung vom Jüngsten Gericht zu tun, die uns so vertraut ist. 

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“, „…wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst“ — das sind Kernbotschaften Jesu, und immer wirkt darin, was wir tun, auf uns selbst zurück, bekommt ein Echo, auf unterschiedliche Weise. Das Reich Gottes hat schon begonnen, wir sind frei, darin zu leben, schon hier und jetzt. Tun wir es, dann sind und bleiben wir Teil davon — wenn nicht, dann eben nicht. Gott weist uns den Weg in sein Reich, unsere Hölle machen wir uns selbst. 

Der Vers enthält weitere Geheimnisse. Üblicherweise sagen wir die Wahrheit (oder auch nicht). Was bedeutet Wahrheit tun? Das Tun an der Wahrheit (Gottes) ausrichten? Oder ist es mehr, kann man Wahrheit aktiv tun, wie man Gutes oder Böses tut, einen Gefallen oder einen Wunsch? Die Wahrheit Gottes in die Welt setzen? Das Licht zum Strahlen bringen? Und was heisst ‚in Gott getan‘? Ist das für Gott oder mit Gott oder durch Gott? Ist etwas Endgültiges gemeint, etwas überirdisch Dauerndes? Ist ‚in Gott‘ das Gegenstück zu ‚in der Welt‘? Eine Entsprechung von irdischem und metaphysischem Tun, gut katholisch? 

Wer die Wahrheit tut, dessen Werke sind in Gott getan — dies wäre eine Kurzform des Verses, und ich weiss nicht genau, was sie bedeutet. Sie erinnert mich an meinen Konfirmationsspruch, Befiel dem Herrn deine Werke, und sie werden gelingen (Spr 3,16). Aber irgendwie spielt der erste Satz in einer anderen Liga als der zweite — Europacup statt Kreisklasse. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert“, schreibt Marx. „Es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Wer ‚Wahrheit tun‘ sagt, für den ist dieser Gegensatz offenbar bedeutungslos.

Was hat Nikodemus aus diesem Gespräch mit in seine Nacht genommen? Niemand sonst war zugegen, er selbst war es also, der Jesu Worte tradiert hat. Hat er da die Wahrheit getan? Einige Jahre später war der Pharisäer Mitglied des Hohen Rats, als er versuchte, die Verurteilung Jesu zu verhindern. Noch etwas später half er bei der Grablegung Jesu.

Wenn es uns in dieser Woche an irgendeiner Stelle gelingt, die Wahrheit zu tun, werden wir es nicht einmal merken — aber es wird gut sein, und das Licht strahlt heller. So soll es sein.
Ulf von Kalckreuth