Bibelvers der Woche 43/ 2024

Und der HErr redete mit Mose und sprach:…
Num 3,11

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Was will Gott von mir?

Diesen Vers hatten wir schon einmal, als BdW 51/2018. Naja, nicht wirklich, wenn man darüber nachdenkt, wir hatten Num 5,1, und dort standen dieselben Worte in einem anderen Kontext, will sagen: der HErr spricht anschließend etwas anderes. Ich habe mir damals Gedanken über den Wortlaut des Verses gemacht, losgelöst vom Kontext, und über die drei sprachlichen Perspektiven, die in diesem Satz zusammenlaufen. Gucken Sie gern einmal darauf. Auch eine Variante gab es: BdW 48/2021 zum Aussatz von Häusern: „Und der HErr redete mit Mose und Aaron und sprach…“ 

Ich darf also hier über den Inhalt dessen nachdenken, was Gott zu Mose sagt. Es geht um den Dienst der Leviten. Die Nachkommen Levis, des dritten der Söhne Jakobs, waren dem Tempeldienst geweiht, siehe Dtn 18,1ff.  Sie besaßen kein Land, statt dessen hatten sie Rechte auf die Opfer, die die Israeliten brachten. 

Dieser Dienst wird hier begründet, und zwar auf spezielle Weise. Gott erhebt grundsätzlich Anspruch auf alle männliche Erstgeburt, siehe Ex 13,2ff und Num 3,3ff. Bei Tieren geschieht dies durch ein Opfer. Wertvolle Tiere können ausgelöst werden. Die Erstgeburt wird dann durch ein geringerwertiges Tier ersetzt. Beim Menschen muß die Erstgeburt immer ausgelöst werden. In älterer Zeit geschah dies durch Zahlung von 5 Schekel Silber. Zur Zeit Jesu war die Opferung zweier Tauben üblich — siehe den Bericht in Lk 2,22ff zur Darstellung Jesu im Tempel. Mit dem auf unseren Vers folgenden Satz begründet Gott den Dienst der Leviten, indem er sie als Ersatz für die eigentlich geschuldete Erstgeburt in Anspruch nimmt: „Siehe, ich habe die Leviten genommen aus den Israeliten statt aller Erstgeburt, die den Mutterschoß durchbricht in Israel, sodass die Leviten mir gehören sollen“. In den Versen 40ff. wird die Auslösung detailliert nachvollzogen. 

Bei den Leviten besteht mithin eine besondere Dienstpflicht qua Geburt, die für ein älteres Eigentum steht, das Gott an allen männlichen Erstgeborenen hat. Ich erinnere mich noch, wie ich in der Bibel davon las, dass Erstgeborene im Grundsatz dem Herrn als Opfer zustehen. Ich war fünfzehn und bin erster Sohn. Von der Pflicht, die Erstgeburt auszulösen, las ich auch. Aber was bedeutet der originäre, uralte Anspruch? Und war ich wirklich ausgelöst? Die Erzählung von der Opferung Isaaks war mir gegenwärtig. 

Ich habe nie darüber gesprochen — erst hier und jetzt mit Ihnen. Mein Vater hat die 5 Schekel Silber gewiss bezahlt, auf seine eigene Weise. Und Christen dürfen getrost sein , mit dem Opfertod Jesu ausgelöst zu sein. Jesus war übrigens erstgeborener Sohn und Paulus nennt ihn den „Erstgeborenen der Schöpfung“, Kol 1,15. Hier geht es um eine Schuld, die nichts zu tun hat mit Verstrickung in Sünde. Sie besteht gewissermaßen a priori — bei den Leviten wie bei den Erstgeborenen, vielleicht bei allen Menschen. Verschwindet solche Schuld durch Auslösung oder wandelt sie sich nur? 

Was will Gott von mir? Ich hoffe, Sie halten mich nicht für verrückt. 

Der Herr sei mit uns in der Woche, die vor uns liegt.
Ulf von Kalckreuth 

Bibelvers der Woche 31/2023

Er sah aber auf und schaute die Reichen, wie sie ihre Opfer einlegten in den Gotteskasten.
Luk 21,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Äquivalenz

Und so geht es weiter: Er (Jesus, d.V.) sah aber auch eine arme Witwe, die legte dort zwei Scherflein ein. Und er sprach: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr als sie alle eingelegt. Denn diese alle haben etwas von ihrem Überfluss zu den Opfern eingelegt; sie aber hat von ihrer Armut alles eingelegt, was sie zum Leben hatte. (Luk 21,2-4)

Jesus sieht, was die Reichen geben, er sieht auch, was die Witwe gibt. Jesus kommentiert das Verhältnis, in dem die Gaben stehen. Was er sagt, bedeutet zunächst einfach, dass mehr geben sollte, der mehr hat. So sagt es auch die Torah, in den Vorschriften zum Sühneopfer: wer arm ist, muß statt eines Schafs oder einer Ziege nur zwei Tauben zum Opfer bringen (Lev 5,7), siehe auch Lev 14,10ff zum Reinigungsopfer für Aussätzige.

In den finanzwissenschaftlichen Literatur zur Besteuerung nennt man dies das Äquivalanzprinzip. Aber Jesus hat keinen fiskalischen Blick, der die Leistungsfähigkeit der Opfernden einschätzt. Er nimmt die Perspektive der mittellosen Witwe ein und spricht von der ungeheuren Bedeutung dieses Opfers für sie — und diese Bedeutung ist es, die den Wert des Opfers ausmacht. Darin liegt die eigentliche Äquivalenz. 

Uns allen wünsche ich eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 27/2023

Da sprach er zu Abram: Das sollst du wissen, dass dein Same wird fremd sein in einem Lande, das nicht sein ist; und da wird man sie zu dienen zwingen und plagen vierhundert Jahr.
Gen 15,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Die ganz lange Frist…!

Der Vers dieser Woche ist in gewisser Weise das Gegenstück zu dem der vergangenen Woche. Dort wurde das große Versprechen zurückgenommen — endgültig, wie es schien. Hier hingegen wird das Versprechen gegeben: Abraham soll Stammvater eines großen Volks sein, mit dem Heiligen Land als Heimstatt. Gott und Abraham schließen einen Bund, eine Art Schutz- und Lehensverhältnis. Besiegelt wird der Bund mit einem Opfer, das eindrucksvoll beschrieben wird. 

Es gibt jedoch ein großes „Aber“. Während des Opfers fällt Abraham in einen tiefen Schlaf und wird von Angstgesichten gepeinigt. Die Heimstatt gibt es für seine Nachkommen nicht gleich, so hört er, auch nicht in absehbarer Zeit, sondern erst nach vierhundert Jahren Frondienst in Ägypten, wo sie als heimatlose Fremdlinge leben werden. 

Vielleicht war diese Einschränkung in der ersten Fassung des Texts nicht enthalten, denn sie bricht die Geschlossenheit der Bundes- und Opferszene. Aber sie zeigt etwas Wichtiges. Abraham glaubt der Verheissung und richtet sein Leben danach aus — und er stört sich nicht daran, dass sie erst nach mehr als vierhundert Jahren eintrifft! Da ist mehr als Glaube im Spiel. Abraham hat ein anderes Zeitempfinden als wir.

Vierhundert Jahre Sklaverei, was für eine Verheissung ist das denn? Für uns wäre an dieser Stelle wohl Schluß gewesen. Wenn es die Welt, wie wir sie kennen, in vierhundert Jahren noch geben soll, müssten wir jetzt auf Urlaubsflüge, Benzinmotoren und Gasheizungen zu verzichten. Die Industrie müsste Vergleichbares tun, und die Waren, die wir kaufen vom Lohn unserer Arbeit, wären deutlich teurer. Eigentlich ist das unstrittig, aber dennoch: damit etwas geschieht, brauchen wir Tornados, Hitzewellen und Dürre JETZT. Sonst geht es leider nicht. Vierhundert Jahre sind ausserhalb unseres „scope“, wie es heute heisst. Selbst wenn es um die ganze Welt geht. 

Nicht für Abraham. Mit vollem Recht ist er daher Stammvater der Juden und der Araber und — im geistlichen Sinne — der Christen.

Und uns allen wünsche ich eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 22/2023

Und wenn ihr dem HErrn wollt ein Dankopfer tun, so sollt ihr es opfern, dass es ihm gefallen könne.
Lev 19,5

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Herzensanliegen

Der Abschnitt ist in meiner Bibel mit „Heiligung des Alltags“ überschreiben. Vor wenigen Monaten habe ich mit BdW 10/2023 eine Betrachtung dazu geschrieben, die einem Liebesbrief ähnelt. Es geht hier darum, wie man Gebote befolgen soll: einfach,geradlinig, ohne Hintergedanken, und der Text gipfelt unversehens in der Forderung, den Nächsten zu lieben wie sich selbst. 

Der Vers spricht übers Opfer. Wir sollen so opfern, dass es uns „wohlgefällig“ macht. Eine erste Bedeutungsebene wird im anschließenden Vers angegeben. Nur zwei Tage lang soll vom Opferfleisch gegessen werden, was am dritten Tage übrig bleibt, soll man mit Feuer verbrennen. Isst man es doch, so macht es nicht wohlgefällig; wer davon isst, muß seine Schuld tragen. Ohne Kühlung hält Fleisch Im Nahen Osten eben nicht länger, auch die jüdischen Begräbnissitten spiegeln das. 

Wie macht uns ein Opfer wohlgefällig? Jesus hat es in Matth 6, 1-4 auf einen sehr einfachen Nenner gebracht: der Zweck des Opfers — Gott zu gefallen — soll im Vordergrund stehen, nicht das eigene Ansehen: 

Habt aber acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden; ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Wenn du nun Almosen gibst, sollst du es nicht vor dir ausposaunen, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, auf dass dein Almosen verborgen bleibe; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.

Wenn es uns selbst dient, dann ist es kein Opfer., eigentlich klar. Vielleicht gilt das noch allgemeiner, über das Opfer hinaus: Was immer wir tun — einem Menschen helfen, ein Lied oder ein Gedicht schreiben — wenn es uns ein Herzensanliegen ist, sollen wir es um des ihm innewohnenden Sinns willen tun, nicht um uns damit größer zu machen. Sonst ist es kein Herzensanliegen, nicht wahr? Ein Mensch mit einem großen Herzen tut vieles um der Sache selbst willen.

„Befiel dem Herrn deine Werke, und sie werden gelingen“ (Spr 16,3) lautet mein Konfirmationsspruch. Wie schön kann ein Lied, ein Gedicht sein, wenn es nicht eigentlich nur seinen Verfasser preisen soll… Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, die uns wohlgefällig macht!
Ulf von Kalckreuth

Nachtrag, 28.05.2023:
In der Pfingstpredigt, die ich heute hörte, ging es darum, was Gott von uns will, wie unser Opfer aussehen soll. Was für ein Zufall! Paulus hat die Frage zu Ende gedacht. In Röm 12,1 sagt er, wir sollen unser ganzes Leben Gott als wohlgefälliges Opfer widmen:

Ich ermahne euch nun, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

Unser ganzes Leben sei lebendig, heilig und Gott wohlgefällig…! Als ‚vernünftiger Gottesdienst‘, im Gegensatz zu Tieropfern. Aber das können wir alleine nicht, dazu brauchen wir den Heiligen Geist.

Was für ein Vers. Vielleicht ziehe ich ihn mal. Und vielleicht habe ich das ja gerade getan…

Bibelvers der Woche 04/2023

Und alles Goldes Hebe, das sie dem HErrn hoben, war sechzehntausend und siebenhundertfünfzig Lot von den Hauptleuten über tausend und hundert.
Num 31,52

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Finsternis möge mich decken…

Der gezogene Vers stammt aus einem der schrecklichsten und unerträglichsten Abschnitte der Bibel. In keiner Spruchsammlung gibt es Verse daraus, und im Religionsunterricht kommt die Geschichte nicht vor. In Woche 19/2019 hatten wir bereits einen Bibelvers zu der Geschichte, und ich lade Sie ein, einen Blick auf den dazugehörigen Kommentar zu werfen. Hier ist der Link. 

Kurz vor dem Ende der Wüstenwanderung der Israeliten befiehlt Gott einen Vernichtungsfeldzug gegen die Midianiter. Anlass waren Ausschweifungen sexueller Art von Angehörigen der beiden Völker sowie die Rolle Bileams, eines midianitischen Propheten, beim Versuch der Moabiter, den Vormarsch der Israeliten aufzuhalten. Die Midianiter sind Nomaden und leben in der Halbwüste. Der Feldzug bezweckt und erreicht die fast vollständigen Vernichtung dieses Volks. Die Israeliten töten zunächst nur die Männer. Auf Befehl Moses töten sie dann auch die erwachsenen Frauen sowie alle Knaben. Nur die jungfräuliche Mädchen werden verschont, ihre Zahl wird mit 32.000 angegeben. Die Größe des Volks, das überfallen und vernichtet wird, kann man daraus mit 250.000 bis 300.000 abschätzen. 

Hinsichtlich des Viehs und der gefangenen Mädchen gibt Moses auf Gottes Geheiß eine Verteilungsregel. Von allem soll die Hälfte an die Kämpfer, die andere Hälfte aber an das gesamte Volk gehen. Vom Anteil, der den Kämpfern zusteht, bekommt Gott selbst zwei Promille, also ein Promille der gesamten Beute, namentlich auch 32 Mädchen (Vers 40). Die Regel trifft keine Aussage über das geraubte Gold. Jeder der Kämpfer hat für sich selbst geraubt (Vers 53), aber ein Teil der Beute sammelt sich auch bei den Obersten der Hundertschaften und Tausendschaften. Nach der Schlacht stellen diese fest, dass es auf eigenenr Seite nicht einen einzigen Gefallenen gegeben hat, und sie geben den ihnen zufallenden Teil der Beute aus freien Stücken dem Herrn in Gänze als Opfer. Das ist der Inhalt des Verses oben. Es ist nicht wenig: die 16.750 Schekel (Lot) Gold wiegen etwa 190 Kilo. Ein Kilo Gold kostet heute etwa 58.000 Euro. 

Ein veritabler Genozid wird hier beschreiben, auf Anordnung Gottes, der selbst an der Beute beteiligt ist. Zu dem, was ich bereits in der Betrachtung zu BdW 19/2019 geschrieben habe, möchte hier einige Gedanken hinzufügen.

Gott ist nicht nur der Vater des Lichts, sondern Vater auch der Finsternis. Beides hat er geschaffen, beides verantwortet er. Das Leid in der Welt ist teilweise von Menschen gemacht, teilweise aber auch fest verdrahtet in Grammatik und Syntax unserer Welt, in Physik, Chemie und Biologie. Anfang der letzten Woche ist eine Nichte meiner Frau nach langem Kampf an multiplem Krebs gestorben. Sie hinterläßt zwei Kinder, eines davon geistig und körperlich schwer behindert und einen Ehemann, der für die Pflege und das Auskommen der Familie nun allein sorgen muß. Sie hinterläßt auch verzweifelte Eltern. Vor einiger Zeit, im Jahr 2017, wurde meine eigene Kusine bei einem Terroranschlag in Spanien getötet. Auch sie hinterließ zwei Kinder. Mir selbst und meinen beiden Kindern geht es gesundheitlich gut. Meine Frau hat im vergangenen Jahr eine Krebserkrankung überstanden. Grund genug für große Dankbarkeit, das weiss ich! Aber ich kann keine Regel oder Gerechtigkeit hinter diesem Bild erkennen.  

In Jesus wendet uns Gott seine liebende und erbarmende Seite zu. Jesus geht den Weg ins Herz der Finsternis Gottes und hindurch zur anderen Seite. Liebe und Erbarmen sind in der Welt, ja, sie gehören also zu dem Gott, der sie schuf. Aber von der dunklen Seite Gottes wird in der Bibel auch berichtet — die des strafenden und rächenden Gottes. Und die Welt, sie zeugt von dieser Seite. Die Bibel ist viel realistischer als unsere religiöse Praxis. Die Propheten erzählen von der strafenden und der heilenden Präsenz Gottes, manchmal unentwirrbar durcheinander. Den ungnädigen Gott haben wir vergessen, wir wollen ihn nicht sehen. Aber passt unser Gott dann noch zur Welt, die wir sehen? 

Wir können Gott nicht entfliehen, er ist immer da, auch in den Schützengräben und im Bombenterror der Ukraine. Aber welches Gesicht zeigt er uns? Die dunkle oder die lichte? Und an welches seiner Gesichter wenden wir uns? Mit Gott zu rechten ist nicht verboten, aber es ist sinnlos — Gott hat die Macht und mit der Macht auch das Recht. So sagt es uns das Buch Hiob.

Unsere Hoffnung kann nicht sein, dass es das alles nicht geben, dass Gott das alles nicht zulassen möge. Jeder neue Tag zeigt, dass diese Hoffnung trügt. Glaube kann etwas anderes tun. Er kann hoffen, dass die tödliche Seite dieser Welt in Gott irgendwie (!) aufgehoben ist. Mutiger und reiner Glaube muß das sein, denn Evidenz dafür gibt es nicht. Jemand sagte mir, dass Gott vielleicht manche Menschen bei sich haben möchte. Ja, vielleicht war es bei meinen beiden Kusinen so — vielleicht…! 

Wir sehen Gott, sein Licht und seine Finsternis. Psalm 139 singt dies so: 

Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, 
und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? 
Führe ich gen Himmel, so bist du da; 
bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. 

Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, 
so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. 
Spräche ich: Finsternis möge mich decken 
und Nacht statt Licht um mich sein –, 
so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, 
und die Nacht leuchtete wie der Tag. 

Finsternis ist wie das Licht.

Im Anschluß an die ersten vier Zeilen könnte es ganz andere Lieder geben. Ich kann sie durchaus hören, diese Lieder. Ich werde sie nicht singen. Das ist meine Entscheidung — frei, nicht erzwungen.

Amen.

Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 01/2023

Und sie nahmen Jona und warfen ihn ins Meer; da stand das Meer still von seinem Wüten.
Jon 1,15 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

A day in a life

Ein Vers für Jahresende und Jahresbeginn. In der Vergangenheit galten die „Rauhen Nächte“ in den zwölf Tagen zwischen Weihnachten und Dreikönig als unheilig. Geister und Dämonen hatten das Sagen. Meine Großmutter hat mir noch erzählt von den Stürmen und Unwettern, der Wilden Jagd und den Saalweibchen, die in diesen Nächten auf markiertem Gehölz Schutz vor ihren mächtigen Verfolgern suchen. Diese Tage und Nächte sind wie aus der Zeit gefallen, und mit Böllern wehren wir uns.

Jona rennt davon. Gott hat ihn gerufen, mit einem gefährlichen Auftrag — er soll nach Ninive gehen, dem Zentrum der brutal herrschenden assyrischen Großmacht, und die Bewohner der Stadt auf einen neuen Weg bringen. Ein Himmelfahrtskommando. Jona antwortet nicht. Er schifft sich ein, aber statt nach Osten fährt er nach Westen, nach Tarsis an der spanischen Atlantikküste, dem äußersten Rand der damals bekannten Welt. Bloß weg!

Ein Sturm bricht los auf dem Meer, immer wütender. Jona bleibt wortlos, er verkriecht sich ins Innere des Schiffs, um dort zu schlafen. Nur weg. Aber die verängstigten Seeleute holen ihn nach oben, fragen ihn nach seinem Gott und ein Los wird geworfen, um zu erfahren, welcher der Schiffsinsassen denn hier verfolgt wird, wem die wütende Hatz gilt. Das Los trifft Jona, und endlich spricht er, gibt zu, dass er vor seinem Gott flieht. Man möge ihn ins Meer werfen, und alle anderen würden gerettet, sagt er. Er will, dass es endlich vorbei ist!

Der Sturm wird zum Orkan und nach langem Widerstand tun es die Seeleute — sie werfen den Flüchtigen ins Meer. Das ist unser Vers. Augenblicklich wird das Meer ruhig und glatt. Das mag lauter gedröhnt haben als der Orkan. Wenn ich es mir vorstelle, verschlägt es mir den Atem. A Day in a Life von den Beatles endet so, mit einem mächtigen, minutenlang verklingenden Klavierakkord in Dur, nach einem wilden, sich irrwitzig steigernden Crescendo. Mit einem gewaltigen Schlag kommt die Welt zur Ruhe. 

Aber für Jona ist es nicht vorbei. Er ist jetzt unter der Wasseroberfläche, allein mit sich und seinem Gott. Fliehen kann er jetzt nicht mehr. Am dritten Tage wird er wieder auftauchen aus dem Meer, und wird verwandelt sein. 

Der Herr beschütze uns in unseren Nächten,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 38/2022

Er redete aber von dem Judas, Simons Sohn, Ischariot; der verriet ihn hernach, und war der Zwölfe einer.
Joh 6,71

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Fast allein

Jesus war streitbar — die Evangelien berichten, wie seine harten Formulierungen harte Gegenwehr erzeugen konnten, bis hin zu Gewalttätigkeit, und oft tat er nichts, dies zu vermeiden. 

Der Streit in Kapernaum, von dem hier die Rede ist, ist der erste, von dem Johannes berichtet. Und er kostete den Wanderprediger den größten Teil seiner Anhängerschaft, die durch das Wunder der Brotvermehrung gewaltig zugenommen hatte. 

Was war geschehen? Jesus sagt den Zuhörern, dass sie eins werden müssen mit ihm, dass sie nur so zum Vater kommen können. Ob dies gelingt, ob jemand diesen Weg findet, entscheidet der Vater. Jesus gebraucht für das Einssein mit Jesus ein krasses Bild, und es bleibt ausgesprochen unklar, ob es nur ein Bild ist oder mehr: Die Menschen, so sagt er, müssen sein — Jesu — Fleisch essen und sein Blut trinken, um zum ewigen Leben zu kommen. 

Da schießen explosiv Empfindlichkeiten hoch. Für Juden ist es eine grauenvolle Vorstellung. Menschenopfer sind abscheulich. Das Trinken von Blut ist absolut verboten, Fleischgenuß ist nur möglich, wenn dem Fleisch durch Schächten alles Blut entnommen wurde. Denn im Blut ist das Leben des Tieres, sagt Mose. Gemeint ist im Evangelium zunächst der Opfertod Jesu — das Opfer ist heilsnotwendig. Aber man kann Jesu Worte darüber hinaus auf das Heilige Abendmahl, die Eucharistie beziehen, und dann geht es um physisches Fleisch und physisches Blut. Auch unter Christen werden die Diskussionen hierzu sehr scharf, wenn sie nicht vermieden werden

Jesus vermeidet gar nichts und beharrt auf der Formulierung. Die Menschen wenden sich angeekelt ab. Nur die zwölf Schüler, die er sich selbst erwählt hatte, blieben. Er fragt, ob sie nicht auch gehen wollen, und Petrus antwortet für alle mit den Worten: Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens, und wir haben geglaubt und erkannt,: Du bist der Heilige Gottes.

Ein anrührendes Bekenntnis. Jedem anderen hätte es an dieser Stelle die Stimme verschlagen. Aber Jesus antwortet: Habe ich nicht euch zwölf erwählt? Und einer von euch ist ein Teufel.

Der gezogene Vers nun ist die Erklärung des Evangelisten: Jesus meint Judas Ischariot, der ihn später verraten würde. Johannes liefert diese Erklärung, weil die Antwort sehr schroff ist und ihr Sinn nicht offensichtlich — beweisen die Zwölf nicht gerade ihre Treue? Das ist doch wahrlich nicht dasselbe: herausgehobener Anhänger eines Stars zu sein, des angehenden Königs und Heilsbringers, oder zu den letzten Getreuen eines gemiedenen Aussenseiters zu zählen. Die zwölf bleiben bei ihrer Entscheidung für den Messias, den sie gefunden haben. 

Vielleicht meint Jesus wirklich Judas. Vielleicht aber bricht sich in ihm auch Enttäuschung Bahn. Die Zukunft, die vor ihm liegt, wird eben kein Siegeszug sein, keine erfolgreiche Bekehrung großer Massen, sondern ein leidensvoller und oft recht einsamer Weg. Das wird jetzt sehr deutlich.

Wie hätte ich mich entschieden? Wie die zwölf oder wie die vielen anderen? In Mat 7,14 spricht Jesus, dass der Weg zum Leben schmal sei und nur wenige ihn finden. Hat er das vor oder nach Kapernaum gesagt? Es ist die Gnade des Vaters, die zum Vater führt, so sagt er hier, in Joh. 6. 

Der Herr sei uns gnädig auch in der kommenden Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 43/2021

…daß golden werde, was golden, silbern, was silbern sein soll, und zu allerlei Werk durch die Hand der Werkmeister. Und wer ist nun willig, seine Hand heute dem HErrn zu füllen?
1.Ch 29,5 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gerne geben!

David wollte seinem Herrn einen Tempel bauen, ein Haus, wie er es nennt. Dieser Wunsch blieb ihm versagt — der Herr sagt David, dass er kein Haus brauche von ihm, dass vielmehr er, der Herr ihm, David, ein Haus bauen wolle (1. Chr. 17). Den Tempel Gottes solle Salomo bauen, sein Sohn. 

David aber bleibt seinem Projekt eng verhaftet. Man bekommt beinahe das Gefühl, dass für seinen Sohn nicht viel zu tun bleibt. In Kap 18 der Chronik wird berichtet, dass David die Beute seiner Kriegszüge dem Tempelbau widmet, hierzu siehe auch BdW 27/2021. Gott lässt ihn den Tempelplatz finden (Kap 22) — eine merkwürdige Geschichte, in der Gott David und das Volk straft wegen einer Volkszählung, um dann der Plage Einhalt zu gebieten. Dann (Kap 23) sucht David Bauleute und Steinmetze, und er verpflichtet die im Lande wohnhaften Ausländer zu Zwangsarbeit. Ausserdem lässt er Baumaterial heranschaffen. In den Kapiteln 24, 25 und 26 wird bestimmt, welche Familien welche Ämter im Tempel haben sollen, als Priester und Sänger, Torhüter, Schatzmeister, Amtleute und Richter. Feierlich überreicht David dann seinem Sohn die fertigen Pläne.

Noch etwas sehr wichtiges tut er: er sammelt das nötige Geld. Er selbst widmet dem Bau über den Ertrag der Kriegszüge hinaus eine große Summe — 3000 Zentner Gold und 7000 Zentner Silber. Aktuell kostet ein Kilo Feingold 50.000 Euro und ein Kilo Silber 670 Euro. David spendet also einen Gegenwert von heute 80 Millionen Euro. Und damit wirbt er — sehr modern — um die Unterstützung des Volks. Die Sippen sollen das fehlende Geld aufbringen, das ist unser Vers. Und sie tun es, gerne, freiwillig und großzügig, so wird berichtet: fünftausend Zentner Gold, zehntausend Gulden und zehntausend Zentner Silber, ausserdem viel Bronze, viel Eisen. 

Von einer ähnlichen Begebenheit berichtet Ex 35. Während der Wüstenwanderung sollte die prächtige Ausstattung der Stiftshütte finanziert werden, ein transportabler Tempel. Die Israeliten gaben so viel, dass Mose die Annahme weiterer Spenden ablehnen musste. Auch in Exodus wird berichtet, dass die Gabe freiwillig und freudig erfolgte. 

Es gibt noch einen weiteren Bezug zurück auf Exodus: David fragt, „wer ist bereit, heute seine Hand für den Herrn zu füllen?“ Dieser Ausdruck steht sonst für eine Handlung im Rahmen der Weihe eines Priesters: dem Novizen werden die Hände gefüllt, damit er vor dem Herrn ein Schwingopfer verrichten kann, siehe Ex 29. Ich verstehe, dass David mit seinen Worten der Spende eine besondere Heiligkeit zuspricht, die vielleicht auf den Geber zurückstrahlt.

Gerne sollen wir geben, und freudig, und die Gabe wird auf uns zurückstrahlen. Und noch etwas sagt uns der Vers, die Gabe macht, dass „golden werde, was golden, und silbern, was silbern sein soll“ — mit anderen Worten, sie kann dazu beitragen, dass die Welt heil wird, dass sie so wird, wie sie sein soll. Bei diesen Worten denke ich an meine Frau, sie würde es vielleicht ähnlich sagen…

Ich wünsche uns eine freudige Woche, und der Herr segne unsere Gaben,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 29/2021

…welchen er uns bereitet hat zum neuen und lebendigen Wege durch den Vorhang, das ist durch sein Fleisch,…
Heb 10,20

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Durch den Vorhang

Ein Vers voll konzentrierter Theologie, Teil eines gedrängten Satzes, der seinerseits die voranstehende Abhandlung zusammenfasst. Hier ist der ganze Satz, Heb 10, 19-22 in der Lutherbibel 2017:

Weil wir denn nun, Brüder und Schwestern, durch das Blut Jesu den Freimut haben zum Eingang in das Heiligtum, den er uns eröffnet hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist: durch sein Fleisch, und haben einen Hohenpriester über das Haus Gottes, so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in der Fülle des Glaubens, besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser.

Ich kann versuchen, das mit meinen Worten wiederzugeben. Es geht um den Zugang zu Gottes Gegenwart. Verse dazu hatten wir in den vergangenen Wochen 24, 25 und 26 bereits. Das Allerheiligste war die „Wohnung Gottes“ im Stiftszelt auf der Wüstenwanderung und später im Tempel. Niemand erträgt die volle Gegenwart Gottes, ohne zu sterben, siehe BdW 24/2021. Gott wohnt daher in der Dunkelheit. Zum Allerheiligsten hatte nur der Hohepriester Zutritt, einmal im Jahr. Allen anderen war der Raum verwehrt. 

Christus hat der Beziehung zwischen Mensch und Gott auf eine neue Grundlage gestellt. Deshalb sprechen Christen vom „neuen“ Testament. Christus steht für den Zugang zu Gott, er ist dieser Zugang, sagt der Verfasser des Hebräerbriefs. Christus ist Hohepriester ganz eigener Art. Sein Opfer und sein Tod sind die Verbindung zwischen unserer Welt und Gottes Gegenwart, wie ein Weg durch den Vorhang, der im Tempel das Allerheiligste und die Welt zugleich verband und trennte. Mt 27 und Mk 15 beschreiben, wie dieser Vorhang bei Jesu Tod zerriss. 

Der Hebräerbrief sucht die Wahrheit Christi in Bilder und Formeln des traditionellen Judentums zu fassen. Die Adressaten waren jüdische Christen. Der Brief ist eine Art Übersetzung. Eigentlich ist das Eulen nach Athen tragen: Jesus war Jude und hat sein Leben unter frommen Juden verbracht. Seine Sprache war einfach, er selbst hätte sicherlich nicht so formulieren wollen. Aber die Antworten auf die Fragen — wer ist denn der Christus? König, Priester, Prophet, Messias, Mensch, Gott, beides? — begannen früh schon so komplexe Gestalt anzunehmen, dass sie übersetzt werden mussten.

Der Brief wurde später in den biblischen Kanon aufgenommen, in den Kernbestand der Zeugnisse christlichen Glaubens. Ob er sein erstes Ziel erreicht hat? Wie wurde er wohl aufgenommen? 

Bei mir bleibt dies Bild: Christus, der bei Gott lebt und den Menschen zugleich, ist unser Weg zur Gegenwart Gottes. Sein Tod macht den Weg durch den Vorhang frei, der die Welten trennt.

Gehen müssen wir den Weg selber. Unvorstellbar eigentlich. Schwindelerregend. Wer wagt es? 

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 22/2021

…was zu meiner Haustür heraus mir entgegengeht, wenn ich mit Frieden wiederkomme von den Kindern Ammon, das soll des HErrn sein, und ich will’s zum Brandopfer opfern.
Ri 11,31

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Abgründe und Trauer

Unser Vers ist der zweite Teil eines Gelübdes, er sagt, was geschehen soll, wenn die im ersten Teil genannte Bedingung eintritt. Jeftah (oder Jiftach) ist regionaler Führer und will den Widerstand gegen einen Einfall der Ammoniter in die Landschaft Gilead in Gad organisieren. Er ist Sohn des Fürsten von Gilead, gezeugt allerdings mit einer Hure und daher von der Familie verstoßen. In der Verbannung lebt er als Freibeuter, ähnlich wie David nach seiner Flucht vor Saul.

In der Not nun rufen ihn die Ältesten von Gilead und bieten ihm Herrschaft an: militärische Herrschaft jetzt und politische Herrschaft später. Jeftah hat wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Vor den Schlachten wendet er sich an den Herrn, hier ist das ganze Gelübde im Zusammenhang (in der Übersetzung von 2017): 

Und Jeftah gelobte dem Herrn ein Gelübde und sprach: Gibst du die Ammoniter in meine Hand, so soll, was mir aus meiner Haustür entgegengeht, wenn ich von den Ammonitern heil zurückkomme, dem Herrn gehören, und ich will’s als Brandopfer darbringen. (Ri 11, 30+31)

Er gewinnt die Schlachten und demütigt die Ammoniter, er kehrt siegreich heim. Und es kommt ihm seine Tochter entgegen, sein einziges Kind, eine junge Frau in heiratsfähigem Alter, tanzend, mit der Handpauke, dem Musikinstrument der jungen Mädchen!

Jeftah muß mit einem solchen Ausgang gerechnet haben — der hebräische Text wäre besser mit „wer mir entgegenkommt“ übersetzt. Sonderbar genug aber macht er seiner Tochter Vorwürfe. Sie weist seine Klage zurück und erinnert ihn, dass er es war, der das Gelübde getan hatte. Sie akzeptiert ihr Schicksal, bittet aber, zwei Monate lang in die Berge gehen zu können, um mit ihren Freundinnen zu trauern. Danach könne das Opfer gebracht werden. Und so geschah es.  Wenn ich richtig lese, starb sie von des Vaters eigener Hand.

Der Vers und die Geschichte treffen auf eine Tiefenschicht unseres kollektiven Unterbewusstseins. Ganz ähnliche Begebenheiten werden aus sehr unterschiedlichen Quellen berichtet. Das singende springende Löweneckerchen ist ein Märchen der Gebrüder Grimm, und Idomeneus eine griechische Sagengestalt. 

Ein Führer im vorstaatlichen Israel, ein Richter, opfert dem Herrn sein Kind. Es gibt in der Bibel einige Parallelen. In 2. Kö 3 ist es ein moabitischer König, der in höchster Not seinem Gott Kemosch den ersten Sohn opfert, um die Israeliten zurückzuschlagen — gleichfalls mit Erfolg. Ahas und Manasse, Könige von Juda, opfern ihre Söhne fremden Göttern. Auf Gottes Geheiß soll Abraham seinen Sohn opfern und er ist bereit dazu, nur Gottes Eingreifen rettet Isaak. In Sam 21 liefert David sieben Söhne Sauls den Gibeonitern aus, einem nichtisraelitischen Sassenvolk, damit diese ihre Feinde Gott zum Opfer bringen können. Und die Schilderung des furchtbaren Feldzugs der Israeliten gegen die Midianiter in Num 31 ist an einer wichtigen Stelle ambivalent, siehe den BdW 19/2019.

Menschenopfer sind in der hebräischen Bibel streng untersagt, und sie werden als Greueltaten dargestellt. Es ist jedoch möglich, dass dies nicht immer so gesehen wurde. Im kulturellen Umfeld Israels waren Menschenopfer etwas Natürliches: Opfer ist Kommunikation mit der Gottheit und die höchste Opfergabe war ein Mensch. Wie Baal erhebt der Gott der Israeliten an vielen Stellen des Tanach Anspruch auf den erstgeborenen Sohn, anders als für Baal muss dieser Anspruch allerdings durch ein Tieropfer ausgelöst werden. 

Es fällt mir nicht leicht, darüber zu schreiben, und ich kann für mich nicht klären, ob und mit welcher Regelmäßigkeit in frühester Zeit auch Menschen für Gott geopfert wurden — ganz sicher aber spielten menschliche Opfer eine Rolle in den vielfältigen Vorstellungen, aus denen sich erst die jüdische und dann die christliche Religion herausbildete. Ohne diese uralten Muster im spirituellen Genom könnten Christen nicht in einem Opfer die höchste Erlösungstat erkennen, dem Tod eines eingeborenen Sohns.

Wenn man nun die Geschichte von Jeftah und seiner Tochter noch einmal liest, mag man diese vielgestalte Vorstellungswelt erfühlen, und dann verschwimmen plötzlich die Grenzen zwischen „unserem“ Gott, dem Gott der Israeliten, und den anderen Göttern dieser Zeit. Und da ist sie, die schöne Tochter Jeftahs, wir kennen ihren Namen nicht, wie sie ihrem Vater lachend mit der Handpauke entgegentanzt und sich damit um ihr junges Leben bringt. Ich kann sehen, wie sie mit ihren Freundinnen in die kargen Berge Gileads zieht, um Abschied zu nehmen vom Leben — unendlich kostbar, mit dunklen Augen und schmalem Gesicht unter der Sonne Palästinas, auf einem Esel, angetan mit dem Goldschmuck ihres Vaters und begleitet von seinen bewaffneten Knechten, sie zu schützen und zu bewachen.

Am Ende des biblischen Berichts ist die Rede von alljährlichen Trauertagen für die namenlose Tochter Jeftahs, ausgerichtet von den jungen Mädchen Israels. Ja, manchmal ist es gut zu trauern. Gerade auch über das, was auf dem Weg liegt, der dorthin führt, wo wir stehen. Jetzt und hier.  

Der Herr behüte diesen Weg,
Ulf von Kalckreuth