Bibelvers der Woche 26/2023

Es lagen in den Gassen auf der Erde Knaben und Alte; meine Jungfrauen und Jünglinge sind durchs Schwert gefallen. Du hast erwürgt am Tage deines Zorns; du hast ohne Barmherzigkeit geschlachtet.
Klgl 2,21

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Unbedingte Trauer

In dieser Woche beginnt die zweite Hälfte des Jahres, die Sommersonnenwende liegt hinter uns. Ich feiere meinen sechzigsten Geburtstag. Da wäre ein Vers schön, der hilft, mit einem guten Gefühl nach vorn zu blicken. 

Diesen Wunsch kann und will unser Bibelvers, das zweite Klagelied und das Buch der Klagelieder insgesamt nicht erfüllen. Reflexartig suchen wir in der Bibel nach der Frohen Botschaft — hier ist sie nicht. Das Buch besteht aus fünf psalmartige Gedichte, bei denen absolute Trauer im Vordergrund steht, im wesentlichen hoffnungslose Trauer.

Die fünf Lieder handeln von der Vernichtung Jerusalems durch die Babylonier. Das erste ist aus der Sicht eines repräsentativen Einwohners geschrieben. Im zweiten Lied erhebt die Stadt Jerusalem selbst ihre Stimme zu Klage und Anklage, wie ein Mensch. Die Bilder sind grausam — Mütter essen ihre eigenen Kinder, um nicht zu verhungern. Gott ist in diesem Lied zum Mörder und Feind seines Volks geworden und wird ausdrücklich so bezeichnet. Ganz wie das Hohelied singen die Klagelieder von Gott und seinem Volk — statt vom Vollzug einer mystischen Einheit aber geht es um ihr Ende, um finale Zerrüttung. Beachtlich, dass dieser Text im Kanon der Bibel seinen Platz gefunden und behalten hat. 

Alles hat seine Zeit — auch die Trauer hat ihre Zeit und der Trost. Das heisst auch, dass man beides nicht immer vermischen soll. Erst das fünfte Lied vollzieht den Perspektivwechsel. Es ist geschrieben aus der Sicht des Exils und kulminiert in einer Bitte, die im Judentum große Bedeutung hat:

Bringe uns, HErr, zu dir zurück, dass wir wieder heimkommen; erneuere unsere Tage wie von alters. (Klgl 5,21) 

Wer bittet, hat eine lebendige Beziehung und ist nicht hoffnungslos. Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche und eine zweite Jahreshälfte in Gottes Gnade,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 20/2023

Ach HErr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!
Ps 6,2 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Ach du, Herr, wie lange!

Wir haben den Beginn des ersten Bußpsalms gezogen. Ich muss eigentlich keine Betrachtung schreiben, das macht der Psalm viel besser und eindrücklicher selbst. 

Ein Psalm Davids, vorzusingen, beim Saitenspiel auf acht Saiten.

Ach HERR, strafe mich nicht in deinem Zorn
und züchtige mich nicht in deinem Grimm!
HERR, sei mir gnädig, denn ich bin schwach;
heile mich, HERR, denn meine Gebeine sind erschrocken
und meine Seele ist sehr erschrocken.
Ach du, HERR, wie lange!

Wende dich, HERR, und errette mich,
hilf mir um deiner Güte willen!
Denn im Tode gedenkt man deiner nicht;
wer wird dir bei den Toten danken?
Ich bin so müde vom Seufzen; /
ich schwemme mein Bett die ganze Nacht
und netze mit meinen Tränen mein Lager.
Mein Auge ist trübe geworden vor Gram
und matt, weil meiner Bedränger so viele sind.

Weichet von mir, alle Übeltäter;
denn der HERR hört mein Weinen.
Der HERR hört mein Flehen;
mein Gebet nimmt der HERR an.
Es sollen alle meine Feinde zuschanden werden und sehr erschrecken;
sie sollen umkehren und zuschanden werden plötzlich.

Es ist das Gebet eines Menschen, der am Ende ist und weiss, dass nur die Hilfe Gottes ihn retten kann. In ihm und um ihn ist alles dunkel, allein Gott und seine Kraft — als entfernte Möglichkeit — sind hell.

„Ach du, Herr, wie lange!“ So intensiv, so dicht können fünf Worte sein…! 

Ich sehe ein Bild vor mir, und da ich nicht zeichnen oder malen kann, habe ich mich von einer KI unterstützen lassen. Das Ergebnis ist für mich überraschend und anrührend. Ich möchte es Ihnen schenken.

Psalm 6 — Ulf von Kalckreuth mit Dall-E 2, 6. Mai 2023

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 31/2022

…sondern die Jünglinge mit Bogen erschießen und sich der Frucht des Leibes nicht erbarmen noch der Kinder schonen.
Jes 13,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Wer spricht hier?

Oh, das klingt nicht gut! Stellen sich vor, Sie gehen an einer halboffenen Tür vorbei, in einem Hotel zum Beispiel, und hören diesen Satzfetzen in moderner Sprache: „…sondern erst die Jungs mit dem MG erledigen und sich dann mit dem Bajonett um die Bäuche der Schwangeren kümmern — und auch die Kinder kommen nicht davon.“ Wo ist die Polizei?

Hier ist zunächst der Kontext des Fragments (Lutherübersetzung 2017, die Verse 17-19), für einen ersten Aufschluß: 

Siehe, ich will die Meder gegen sie erwecken, die nicht Silber suchen oder nach Gold fragen, sondern die jungen Männer mit Bogen erschießen und sich der Frucht des Leibes nicht erbarmen und die Kinder nicht schonen. So soll Babel, das schönste unter den Königreichen, die herrliche Pracht der Chaldäer, zerstört werden von Gott, wie Sodom und Gomorra…

Die völlige Zerstörung Babylons durch die Meder wird beschworen. Das anschließende Kapitel 14 spricht von der Macht des babylonischen Reichs mit Worten, die viele Leser der Bibel an Luzifer denken lassen, den aufständischen Engelfürsten. 

Wer spricht hier? Formal ist es der Prophet Jesaja, er gibt Worte Gottes wieder. Die Beschreibung von unbeschränkter Höhe und absolutem Fall Babylons aber will nicht recht zum historischen Jesaja (740-701 v.Chr.) passen. Zu seiner Lebenszeit ist Babylon unwichtig, ein verbrauchtes, ein altes Reich, das den Übergriffen der aggressiven assyrischen Supermacht immer wieder erliegt und in deren Machtgefüge es eingegliedert ist. Erst rund hundert Jahre später, im Jahr 625, befreit Nabopolassar spektakulär das Land vom Würgegriff der Assyrer, mit Hilfe der Meder übrigens. Sein Sohn Nebukadnezar richtet daraufhin das gewaltige neubabylonische Reich auf. In diese Zeit fällt die Zerstörung Jerusalems und die Verschleppung seiner Einwohner ins Exil. Noch einmal hundert Jahre später, im Jahr 539, erobert der Perser Kyros das babylonische Reich, mit Unterstützung der unterworfenen Meder. Die Stadt Babylon selbst fällt kampflos. Die exilierten Einwohnern Jerusalems erhalten die Erlaubnis zur Heimkehr. 

Mit der Gewaltphantasie gegen die Kinder der Unterdrücker erinnert der Vers mich sehr an Psalm 137, im babylonischen Exil geschrieben und sein Ende herbeisehnend. Dies Gebet beginnt mit den Worten „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten“ und schließt: „Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns getan hast! Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!“

Viele Exegeten gehen davon aus, dass das Buch Jesaja nicht nur einen Verfasser hat, sondern die Worte mindestens dreier, durch Jahrhunderte getrennter Propheten wiedergibt. Ausserdem wurde es umfänglich redigiert. In meinen Augen ist nicht viel Erkenntnis darin, die vielen Elemente jeweils auf einen bestimmten Verfasser, eine bestimmte Redaktionsschicht zurückzuführen. Das Buch hat eine lange Entstehungsgeschichte. Viele Menschen waren daran beteiligt, und auf geheimnisvolle Weise hat das Buch eine Identität jenseits all dieser Menschen gewonnen. 

Das Buch selbst spricht zu uns, kein bestimmter Verfasser. Dieses Buch der Bibel ist wie das Gedächtnis eines alt gewordenen Menschen, in dessen Seele sich Schicht über Schicht abgelegt haben: Erinnerung, Hoffnung, Verzweiflung, Abscheu, Sehnsucht. Unentwirrbar gehen Prophetie, Gegenwart und Gewesenes ineinander, befruchten sich gegenseitig und schaffen so eine Art Traumbild der Geschichte Israels und seiner Zukunft, seines Weges mit Gott und gegen Gott, seiner Vernichtung und seiner Errettung, des Gottesknechts und des Messias, bis hin zur Erlösung des Volks Israel und der Menschheit. 

Auch alptraumhafte Gewaltphantasien haben in diesem Traumbild einen prominenten Part, wie in einem Schlachtengemälde. Wen wundert’s? Bis wirklich die Wölfe bei den Lämmern lagern (Jes 11,6 und 65,25) geschieht viel, in der Traumzeit des Buchs wie auch in unserer Realität. 

Und bis dies geschieht, wolle der Herr unsere Kinder schützen!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 15/2022

Ich harre des HErrn; meine Seele harret und ich hoffe auf sein Wort.
Ps 130,5 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Palmsonntag

Es ist nicht leicht zu fassen. Erinnern Sie sich an den Bibelvers der letzten Woche? Es war der Eröffnungsvers des siebten Bußpsalms. Nun ein Schlüsselvers aus dem sechsten Bußpsalm, der wie eine Antwort ist. Als Zufall ist das gar nicht zu begreifen. Irgendwie ergibt es ein perfektes Ganzes — so fühle ich mich, so fühlt sich die Welt, so ist das Kirchenjahr und auch das Wetter. Ostern und Pessach sind nun sehr nahe, aber noch bleibt die Welt dunkel. 

Der Vers sagt uns, sehr klar übrigens, wie wir damit umgehen sollen — warten, hoffen, harren, getrost sein. Die Welt wird das nicht ändern, nein, aber wir können in ihr bestehen mit Blick auf ein besseres Morgen. Gerade habe ich den Psalm neu gelesen. Er spricht unmittelbar zur Seele. Ich lade Sie ein, dasselbe zu tun:

Ps 130 Ein Wallfahrtslied. 

Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir. Herr, höre meine Stimme! 
Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!
Wenn du, HERR, Sünden anrechnen willst – 
Herr, wer wird bestehen? 
Denn bei dir ist die Vergebung, 
dass man dich fürchte. 

Ich harre des HERRN, meine Seele harret, 
und ich hoffe auf sein Wort. 
Meine Seele wartet auf den Herrn 
mehr als die Wächter auf den Morgen; 
mehr als die Wächter auf den Morgen
hoffe Israel auf den HERRN! 
Denn bei dem HERRN ist die Gnade 
und viel Erlösung bei ihm. 
Und er wird Israel erlösen 
aus allen seinen Sünden.

Ich wünsche uns eine gesegnete Karwoche!!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 14/2022

Ein Psalm Davids. HErr, erhöre mein Gebet, vernimm mein Flehen um deiner Wahrheit willen, erhöre mich um deiner Gerechtigkeit willen.
Ps 143,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Passion

Die Verse der letzten Wochen passen gut ins Kirchenjahr. Es ist Passionszeit, und da ist es richtig, der Katastrophen zu gedenken, auch der eigenen. Gott wird sich denen zuwenden, die im Leben Demut gelernt haben. 

Der gezogene Vers dieser Woche leitet den siebten Bußpsalm ein — es ist der letzte, übrigens. Das Ende gerät in Sicht. Hier ist der ganze Psalm. David ist zerschmettert und gibt sich in den Herrn. Aber er wäre nicht David, wenn er nicht die Gelegenheit nutzte, seinen Feinden zu fluchen…

Ein Psalm Davids. 

HERR, erhöre mein Gebet, vernimm mein Flehen um deiner Treue willen,
erhöre mich um deiner Gerechtigkeit willen, 
und geh nicht ins Gericht mit deinem Knecht; 
denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht.
Denn der Feind verfolgt meine Seele 
und schlägt mein Leben zu Boden, 
er legt mich ins Finstere 
wie die, die lange schon tot sind. 
Und mein Geist ist in mir geängstet, 
mein Herz ist erstarrt in meinem Leibe.  

Ich gedenke an die früheren Zeiten; ich sinne nach über all deine Taten 
und spreche von den Werken deiner Hände. 
Ich breite meine Hände aus zu dir, 
meine Seele dürstet nach dir wie ein dürres Land. Sela. 
HERR, erhöre mich bald, mein Geist vergeht; 
verbirg dein Antlitz nicht vor mir, 
dass ich nicht gleich werde denen, 
die in die Grube fahren. 
Lass mich am Morgen hören deine Gnade; 
denn ich hoffe auf dich. 
Tu mir kund den Weg, den ich gehen soll; 
denn mich verlangt nach dir. 
Errette mich, HERR, von meinen Feinden; 
zu dir nehme ich meine Zuflucht. 

Lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen, denn du bist mein Gott; 
dein guter Geist führe mich auf ebner Bahn. 
HERR, erquicke mich um deines Namens willen; 
führe mich aus der Not um deiner Gerechtigkeit willen, 
und vernichte meine Feinde um deiner Güte willen 
und bringe alle um, die mich bedrängen; denn ich bin dein Knecht.

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche, auch unseren Feinden!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 06/2022

Du erneuest deine Zeugen wider mich und machst deines Zornes viel auf mich; es zerplagt mich eins über das andere in Haufen.
Hiob 10,17

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Ungute Wendung

Noch einmal Hiob, wie in der letzten Woche. Während es aber dort eine letztlich positive Botschaft gab, ist dieser Vers Kernstück einer schweren Anklage. 

Hiob erinnert daran, wie Gott ihn geschaffen habe. Mit Vers 8 beginnt eine Art persönlicher Schöpfungsbericht: Der Herr habe ihn aus Lehm gemacht, wie Milch hingegossen und wie Käse gerinnen lassen, ihm Haut und Fleisch angezogen, und Sehnen ihm geflochten: „Leben und Wohltat hast Du mir getan, und deine Obhut hat meinen Odem bewahrt.“ 

Das klingt ganz wie Lobpreis und Dank im Psalmvers, Aber Hiob setzt anders fort. In dieser großartigen, väterlichen Schöpfung verbirgt nämlich Gott etwas, das erst später zum Vorschein kommt. Er wird sein Geschöpf drangsalieren mit Schuld. Wenn Hiob sündigt, wird er hart bestraft. Wenn er nicht sündigt und sich in allem nach Gottes Wort richtet, muß er dennoch mit Schmach und Elend leben, darf er sein Haupt nicht aufrichten. Täte er es doch, würde Gott wie ein Raubtier über ihn herfallen — „würdest Du mich jagen wie ein Löwe“. Dann kommt unser Vers. In der modernen Übersetzung lautet er: „Du würdest immer neue Zeugen gegen mich stellen und deinen Zorn auf mich noch mehren und immer neue Heerhaufen gegen mich senden.“

Hiob erlebt sein Leben mit Gott als ausweglos. Ich lerne gerade ein hebräisches Lied singen, „Laila, Laila“ von Mordechai Zeira und Natan Alterman. Das Lied ist aus der Mitte des 20. Jahrhundert, aber es wirkt viel älter. Form und Melodie sind die eines Schlaflieds: „Nacht, Nacht“ beginnen viele Verszeilen und andere mit „Still, still“. Die erste Strophe evoziert die Nacht und ihre unbestimmte Ruhelosigkeit. Die angesprochene Frau, ein Mädchen vielleicht, soll die Kerzen löschen und still sein. Dann wird von drei bewaffneten Reitern erzählt, die durch diese Nacht eilen, um ihr zu helfen. Soweit könnte man es seinem Kind am Bett singen. Aber wie bei Hiob nimmt es eine ungute Wendung. Der erste Reiter nämlich fällt einer Gewalttat zum Opfer, der zweite dem Schwert, und der dritte kommt durch, hat aber den Namen derer vergessen, die er retten soll. Und sie ist allein und wartet am leeren Weg… Hier ist ein Link zum Lied, von einem Meister gesungen.

„Mich ekelt mein Leben an!“, beginnt das Kapitel, und Hiob schließt seine Anklage wie folgt: 

So höre auf und lass ab von mir, dass ich ein wenig erquickt werde, ehe denn ich hingehe – und komme nicht zurück – ins Land der Finsternis und des Dunkels, ins Land, wo es stockfinster ist und dunkel ohne alle Ordnung, und wenn’s hell wird, so ist es immer noch Finsternis. 

Zu diesen Versen gibt es ein bekanntes Gegenstück, Psalm 139 11f: 

Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht. 

Ich glaube, diese beiden Stellen gehören zusammen, eine antwortet der anderen wie der Tag der Nacht und die Nacht dem Tag. Man hat das Bedürfnis, Hiobs Klage wegzuargumentieren. Seine Freunde übertreffen sich darin gegenseitig. Ich will das nicht tun Das Buch Hiob ist für die Ewigkeit — auch und gerade mit seiner Anklage. Gott kann damit umgehen. Die Antwort, die er schließlich gibt, gilt Hiob und niemandem sonst.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, die uns seiner Antwort an je uns näherbringen möge,
Ulf von Kalckreuth

Laila, Laila von M. Zeira und N. Alterman (1948) Übersetzung Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 14/2019

Wie dürft ihr sagen: Wir sind die Helden und die rechten Kriegsleute?
Jer 48,14

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Vom Umgang mit Unglück — anderer und eigenem

Passionszeit — und wieder Jeremia, wie vor zwei Wochen. Der neue Vers ist aus der Weissagung des Propheten gegen Moab. Aus demselben Abschnitt hatten wir im vergangenen Jahr in der Woche 44/2018 einen anderen Vers gezogen. Die Textumgebung habe ich damals ausführlich beschrieben.

Jeremia steht unter enormem Druck, gleich doppelt. Juda ist dem Untergang geweiht. Der König hat sich verspekuliert — er hatte sich mit Ägypten verbündet, um sich der Oberhoheit der Babylonier zu entledigen, aber sein Bündnispartner erwies sich gegen Nebukadnezar als militärisch schwach. Nach der katastrophalen Schlacht von Karkemisch muss Ägypten sich weiträumig zurückziehen. Jeremia erkennt die Zeichen der Zeit nicht nur früh, er benennt sie auch sehr laut und sehr deutlich. Viel zu deutlich für die Herrschaft im immer weiter schrumpfenden, bald auf die Hauptstadt reduzierten Juda. Wie im eingeschlossenen Berlin muß das Leben in der Stadt sich angefühlt haben. Auf Jerusalem lastet der malmende Druck Nebukadnezars, auf Jeremia außerdem der Druck der verzweifelnden Führung. 

Jeremia sieht, dass auch Moab, Nachbar und Gegner des jüdischen Königreichs, dem Untergang der alten Ordnung anheimfallen wird. Das könnte etwas Entlastendes haben. Für ihn selbst, wie auch im seinem Verhältnis zur Umgebung, die ihm vorwirft, mit seinen Prophezeiungen das Unglück noch zu befördern, siehe den Text zum Vers der Woche 11/2019. Eine Prophezeiung gegen Moab wäre eine großartige Gelegenheit, die Solidarität mit dem eigenen Volk zur Schau zu stellen. 

Aber Jeremia lässt die Gelegenheit verstreichen und verzichtet auf jeden Triumph. Wie im Fall Judas sieht er den herannahenden Untergang Moabs als Folge von Sünde, von Verstrickung. Der Herr greift ein, um Seine Ordnung wieder herzustellen. Jeremia ist in anrührender Weise einfühlend, er leidet die Qualen des Feindvolks in einer Weise mit, dass sein Text expressionistisch-lyrische Qualitäten bekommt. Für einen antiken Schreiber unerhört. 

In Ergänzung zum Vers der vergangenen Woche kann man hier also darüber nachdenken, wie man sich zum Unglück anderer stellen möchte, derjenigen, die in ihren Verstrickungen unterzugehen drohen. In weiten Teilen der Bibel, insbesondere der Psalmen, ist die Antwort einfach: wenn es den Sündigen schlecht ergeht, wird die Welt besser. Das ist nicht nur psychisch entlastend. Die Wertung erklärt sich solidarisch mit dem strafenden Herrn des Himmels und der Erde, und was kann daran falsch sein? Jeremia stellt sich mit seiner Trauer nicht nur gegen das Sentiment seiner Umwelt, oberflächlich hat sie gar etwas Subversives im Verhältnis zu Gott. 

Aber Jeremia hat recht! Gott braucht unsere Solidarität in der Strafe nicht. Ganz und gar nicht. Jesus erklärt uns, dass wir nach dem Maß gemessen werden, mit dem wir andere messen. 

Der gezogene Vers selbst spricht eine sonderbare Warnung aus. Der in Frage gestellte Satz „Wir sind die Helden und die rechten Kriegsleute!“ wirkt eigentlich nicht besonders hochmütig oder verblendet. Selbstvertrauen ist für Soldaten ja nicht nur eine Tugend, sie ist notwendige Voraussetzung. Kämpfer müssen so zu sich sprechen, um kämpfen zu können — man stelle sich kurz vor, Soldaten würden sich vor der Schlacht das Gegenteil sagen. Es scheint, als hielte Jeremiah eben dies für verfehlt oder wenigstens für sinnlos — im Angesicht der unabwendbaren Katastrophe hat rituelles Aufpumpen keine positiven Wirkungen mehr. Es verstellt vielmehr den Blick auf die Wirklichkeit und kann dazu führen, dass die letzten Ressourcen auf sinnlosen Kampf gerichtet werden statt aufs Überleben. Im Vers geht es also um den Umgang mit eigenem Unglück: vor dem Unausweichlichen müssen wir die konventionelle, auf Vermeidung gerichtete Sicht aufzugeben und die Dinge so zu sehen, wie sie sind — das ist notwendige Bedingung für jedes sinnvolle Weiterleben. 

Schaut man noch genauer hin, so wird aus dem Textzusammenhang nicht klar, ob sich das „ihr“ wirklich an die imaginären moabitischen Truppen richtet oder nicht doch an die realen Zuhörer und Betrachter im eigenen Reich, das sich ja in derselben verzweifelten Lage befindet. Die Unbestimmtheit könnte volle Absicht sein. Liest man den Vers als an die eigene Adresse gerichtet, erschließt sich eine völlig neue Dimension — der Vers und der Abschnitt wären dann auch subversiv mit Hinblick auf die Führung von Juda, wehrkraftzersetzend gar. Wie eigentlich hat Jeremia das Verfassen derartiger Texte überlebt? 

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir Zeichen der Zeit richtig sehen und klar benennen können.
Ulf von Kalckreuth