Bibelvers der Woche 15/2024

Und es wurden gefunden unter den Kindern der Priestern, die fremde Weiber genommen hatten, nämlich unter den Kindern Jesuas, des Sohnes Jozadaks, und seinen Brüdern Maaseja, Elieser, Jarib und Gedalja
Esr 10,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Unterscheidungen und Unterschiede

Nach dem Ende des babylonischen Exils, als viele Einwohner Jerusalems in ihre Heimat zurückgekehrten, wurde der Aufbau eines zweiten Tempels in Angriff genommen. Schließlich wird er eingeweiht. Ein Gott, ein Volk, ein Tempel — dies ist wieder in greifbarer Nähe. Aber Esra, der Hohepriester, sieht eine große Gefahr. Viele der Zurückgekehrten hatten in der Fremde nichtjüdische Frauen geheiratet und Kinder mit ihnen gezeugt. Esra  setzt durch, dass diese sich von ihren Kindern und ihren Nachkommen trennen. Im Vers der Woche werden die Priesterfamilien genannt, in denen sich ausländische Frauen finden. Vor einigen Jahren, in Woche 02/2018, haben wir Esr 10, 24 gezogen, einen analogen Vers, der sich auf Türhüter bezog.

Es ist eine erbarmungswürdige Szene: im strömenden Regen versammeln sich alle Männer in Jerusalem und müssen geloben, sich von ihren Frauen und Kindern zu trennen, wenn diese nicht dem Volk angehören. Die schwierigen Einzelheiten werden von den Sippenältesten geregelt, getrennt nach Tempeldienern — Priestern, Sängern, Türhütern — und den übrigen Israeliten. 

Es wird uns nicht mitgeteilt, was mit Männern geschieht, die sich weigern. Jedenfalls hatten sie kein Recht, den ihrer Familie zustehenden Platz in der sich neu formierenden Gesellschaft einzunehmen, zum Beispiel als Priester, siehe den BdW 34/2023. Welchen Platz gab es für sie? Auch wird nicht gesagt, was mit den Frauen und Kindern derjenigen geschieht, die Esras Aufruf gehorchen. Die Torah sieht vor, dass geschiedene Frauen einen Scheidebrief erhalten und zu ihrer Familie zurückkehren. Wenn es denn eine gibt, so weit entfernt von Babylon. Die Kinder gehören dem Volk nicht an. Sie können versklavt werden, siehe Lev 25,45, und den BdW 15/2018. Das mutet heute schlicht absurd an. 

Die Bibel gibt Unterscheidungen großes Gewicht. Die Schöpfung Gottes besteht im Kern darin, Dinge zu trennen und damit kenntlich zu machen, die vorher unterschiedslos waren: Licht und Dunkel, Tag und Nacht, Wasser und Land, Mann und Frau, Gut und Böse. Das war Thema in den Versen der Woche 09/2023. und 29/2020. Unterscheidungen aber führen zu Unterschieden, und Unterschiede sind angreifbar und potentiell ungerecht. Wir ebnen lieber ein. Im Zweifel sagen wir, dass Unterscheidungen keine objektive Realität zukomme, sie vielmehr soziale Konstrukte seien. 

Überraschenderweise ist das immer wahr. Unterscheidungen gibt es nicht in der Natur, nur im Kopf und in der Sprachgemeinschaft, und Sprache ist in der Tat ein soziales Konstrukt. Aber sollten wir deshalb keine Unterscheidungen treffen? Was tun wir ohne Kategorien? Zurück in die Begrifflosigkeit? Was hätten Platon, Aristoteles, Hegel, Marx und Rosa Luxemburg zu den Diskussionen gesagt, die wir über Geschlechtsidentitäten führen? Auch hier gibt es eine Grenze zum Absurden.

Beide Pole lassen frösteln. Der Herr helfe uns, die Unterscheidungen zu treffen, die dem Leben dienen. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 25/2023

Sie aber sprachen: Geh hinweg! und sprachen auch: Du bist der einzige Fremdling hier und willst regieren? Wohlan, wir wollen dich übler plagen denn jene. Und sie drangen hart auf den Mann Lot. Und da sie hinzuliefen und wollten die Tür aufbrechen,…
Gen 19,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Gut und Böse — und jenseits davon

… griffen die Männer hinaus und zogen Lot hinein zu sich ins Haus und schlossen die Tür zu. Und die Männer vor der Tür am Hause wurden mit Blindheit geschlagen, klein und groß, bis sie müde wurden und die Tür nicht finden konnten.

So geht der angefangene Satz zu Ende. Die Lage ist hochdramatisch. Zwei Engel Gottes kommen nach Sodom, um zu schauen, ob es nicht doch Gerechte gibt in der Stadt, die der Herr zu vernichten gedenkt. Lot, der Neffe Abrahams, lädt die Engel in sein Haus — ohne zu wissen, wen er da beherbergt –, und ALLE Einwohner Sodoms, ohne Ausnahme, kommen, und umringen das Haus. Sie verlangen von Lot die Herausgabe der beiden Gäste, um sie sexuell mißbrauchen zu können. Das verstößt gleichzeitig gegen das Gastrecht und gegen sexuellen Normen zu Homosexualität und Vergewaltigung und verletzt obendrein die Heiligkeit der Boten Gottes. Die Wahrheit, die abgrundtief böse Haltung der Bewohner, liegt glasklar offen. Die Engel brauchen nicht weiter nach Gerechten zu suchen. Sie können zur Tat schreiten: die Rettung Lots und seiner Familie und die Vernichtung der Stadt. 

Ich habe zu den Versen dieses Abschnittes bei früherer Gelegenheit schon geschrieben, siehe den BdW 05/2021. Die Betrachtung zum strafenden Gott brauche ich nicht zu wiederholen. Mir fällt indes auf, das zwar der Angriff der Sodomiten auf die Engel und Lot die Frage nach der Gerechtigkeit der Stadtbewohner eindeutig und letztgültig klärt, was aber Lot betrifft, gilt das nicht. Die Gäste stehen unter Lots Schutz. Die Forderung der Sodomiten ist ihm vollkommen unerträglich, und er bietet den Anwohnern seine beiden Töchter statt der Gäste zur Massenvergewaltigung an. Hier der Text, der unserem Bibelvers unmittelbar vorangeht:

Lot ging heraus zu ihnen vor die Tür und schloss die Tür hinter sich zu und sprach: Ach, liebe Brüder, tut nicht so übel! Siehe, ich habe zwei Töchter, die wissen noch von keinem Manne; die will ich herausgeben unter euch und tut mit ihnen, was euch gefällt; aber diesen Männern tut nichts, denn darum sind sie unter den Schatten meines Dachs gekommen. (Gen 19,6-8)

Mit diesem erstaunlichen Angebot verletzt er seinerseits Schutzpflichten, die noch höher stehen als das Gastrecht. Warum tut er das? Will er recht behalten? 

Lot und seine Töchter werden gerettet. Die Töchter aber haben das Angebot des Vaters nicht vergessen. Sie setzen ihn unter Alkohol und in aufeinanderfolgenden Nächten schänden die beiden Frauen ihren Vater abwechselnd, systematisch und planvoll. Daraus entstehen Lot und seinen Töchtern gar männliche Nachkommen, die Stammväter der verhassten Moabiter und Ammoniter. 

Sie sind nicht glasklar „gut“, Lot und seine Familie, alles andere als das. Sie sind ambivalent, wie wirkliche Menschen, und am Ende sind sie moralisch erledigt. Beim Lesen ist man froh, die Szene verlassen zu dürfen. Und doch werden sie gerettet. Hierin liegt vielleicht, im Schmutze hell glänzend, ein Stück Frohe Botschaft?

Es ist kaum zu fassen. Gestern suchte ich in einem alten Notizbuch nach einer Adresse, und fand dabei die Skizze für ein Gedicht über Lot, das ich völlig vergessen hatte. Ich habe nur noch ein wenig daran gefeilt, hier also ist die Erstveröffentlichung:

Lot

Ganz unten:
Verloren sind Herden und Reichtum, 
Verloren sind Heimat und Frau.
Volltrunken im Erbrochnen, auf der Höhle Boden,
von den Töchtern furchtbar mißbraucht!

Doch auch: 
Vater von Völkern,
Vater von Israels König,
Vater des Königs der Welt -- 
Doch auch!

Ulf von Kalckreuth, 16. Juni 2023

Wieder diese Ambivalenz, auch bei der Rettung. So wie Lot möchte man nicht allzu oft gerettet werden. Aber aus dem Schmutz geht er in den Heilsplan ein. Wieviel von ihm steckt in jedem von uns?

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 47/2022

Die Kinder der Knechte Salomos waren: die Kinder Sotai, die Kinder Sophereth, die Kinder Perida,…
Neh 7,57

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Nachfahren versklavter Kriegsgefangener

Die judäische Gesellschaft konstituiert sich nach der Zeit des erzwungenen Exils in Babylon neu, und auch ein Tempel soll gebaut werden. Wer soll dazugehören? Wer kann Dienst im Tempel tun? Siehe den BdW 20/2020 zu einer Parallelstelle in Esra.

Im Alten Testament sind solche Fragen fast immer wie folgt geregelt: du gehörst dazu, wenn deine Eltern dazugehören. So definierte sich Volkszugehörigkeit, und so bestimmt die Halacha noch heute, ob jemand Jude ist oder nicht. Und auch hier: die Angehörigen der drei genannten Sippen dürfen im Tempel Dienst tun, weil ihre Vorfahren es auch schon getan haben, sie sind die „Kinder der Knechte Salomons“. 

Hier wird es spannend: Wenn in der Bibel von „Knechten“ die Rede ist, kann man „Sklaven“ setzen — die Lutherbibel 1984 tut dies im Unterschied zur Übersetzung 2017 konsequent. Salomo setzte für den Tempelbau in umfangreichem Maße ausländische Zwangsarbeiter ein, israelitische Volksangehörige waren von Zwangsarbeit ausdrücklich ausgenommen, siehe 1. Kö 9,20-22. Einige von ihnen wurden dauerhaft für den Tempeldienst rekrutiert — nicht als Sänger oder Priester, sondern wohl als Arbeiter. Ursprünglich gehörten sie gerade nicht dazu!

Zwischen der goldenen Zeit Salomos und der schwierigen Rückkehr der Judäer aus dem babylonischen Exil liegen fast sechshundert Jahre. Die „Knechte Salomos“ waren längst durch Beschneidung zum Judentum übergetreten. Als nun gefragt wird, wer unter den Zurückkgekehrten für den Tempeldienst geeignet ist, bestehen sie die Prüfung; man weiss, wer sie sind. Andere, deren Vorfahren vermutlich Priester waren, können ihre Credentials weniger gut belegen und bleiben aussen vor, siehe wieder BdW 20/2020

Nachfahren versklavter Kriegsgefangener… davon gibt es vielleicht sehr viele auf der Welt. Wie fühlt es sich an, wenn diese Vergangenheit noch nach Jahrhunderten den Platz in der Gesellschaft definiert? 

Es geht um Identität. Identität gibt es nicht umsonst. Die Nachfahren der versklavten Kriegsgegner wissen um ihre Vergangenheit und ihr soziales Umfeld auch. Dasjenige, was uns heute als gefestigte Diskriminierung erschiene, dient hier zum Erweis der Zugehörigkeit. Das hat etwas Folgerichtiges: wie können wir dazugehören ohne Identität? Und setzt uns Identität nicht immer auch ab von anderen? Als Jesus vom Himmelreich spricht, sagt er, dass die letzten die ersten sein werden. Hier geht es „nur“ um den Tempeldienst, aber vielleicht passt das Jesuswort trotzdem.

Food for thought…

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 29/2022

Und der König fand sie in allen Sachen, die er sie fragte, zehnmal klüger und verständiger denn alle Sternseher und Weisen in seinem ganzen Reich.
Dan 1,20

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Assimilation und Integration

Schabbat schalom! Diese Betrachtung ist meinem Freund Dani gewidmet. Er hat mir die einfache Methode erklärt, mit der er in der Fremde die jüdischen Speisevorschriften einigermaßen halten kann und dabei aktionsfähig bleibt. Von Georgien kam er als Student in die USA. Dort gab er seine jüdische Identität nicht auf, sondern nutzte im Gegenteil die neuen Chancen, sie zu entwickeln. Heute lebt er in Israel. Und zufällig heißt er wie der Held unseres Verses.

Worum geht es? Vier Jugendliche, darunter der Prophet Daniel, werden verschleppt, von ihrer Heimat im königlichen Palast in Jerusalem in die mehrere tausend Kilometer entfernte Hauptstadt des Imperiums. Nebukadnezar, Herrscher von Babylon, will sein riesiges Reich zusammenzuhalten. Er kann es nicht zentral regieren, dafür ist die Hauptstadt zu weit entfernt von der Peripherie. Er braucht funktionsfähige Vasallenstaaten, mit einer Führungsschicht, die ihm treu ergeben ist. 

Und so „importiert“ er Knaben aus der Führungschicht des eroberten Landes, um sie zu Babyloniern zu erziehen. Sie sollen alles lernen, was adelige babylonische Kinder lernen und ihre Lebensart annehmen.

Vom Rand der Welt in ihr Zentrum. Einen fortschrittlicheren Ort als Babylon gibt es zu dieser Zeit nicht — Macht, Wissenschaft, Kultur sind dort zuhaus. Eine gewaltige Verlockung. Es ist so, als seien die vier nach dem Fall des Eisernen Vorhangs von Tiflis nach Boston gelangt. Eine Einladung zur Assimilation. Mehr als das, es ist sanfter Zwang. Die vier sollen auch die Speisen der Babylonier essen, von der Tafel des Königs. Die jüdischen Speisevorschriften verbieten das jedoch. Und so bittet Daniel ihren Mentor, den Kämmerer Aschpenas, sie mit Gemüse zu verköstigen. Fleisch und Milchprodukte nach jüdischen Regeln richtig zuzubereiten ist schwierig und kompliziert, und im Einzelfall hätten die vier die Regeln nicht einmal genau gekannt. Aber mit Gemüse kann man nicht viel falsch machen. Mein Freund Dani macht es genauso.

Aschpenas hat Angst. Er hat strikte Anweisung, dass die Kinder nur das beste Essen erhalten, und er sorgt sich, dass die frugale Kost seine Schützlinge blass und mager aussehen lassen könnte. Und so gibt es ein Experiment: Daniel schlägt Aschpenas vor, er möge es zehn Tage lang probieren und dann nach dem Ergebnis entscheiden. Aschpenas lässt sich darauf ein. Die nunmehr vegan (und koscher!) ernährten Knaben blühen regelrecht auf. Und es fällt ihnen viel leichter, schwierige Texte aufzunehmen. Als der König sie schließlich examiniert, ist das Ergebnis verblüffend —  „zehnmal klüger und verständiger denn alle Sternseher und Weisen in seinem ganzen Reich“!

Gott ist mit denen, die mit ihm sind. Vegane Ernährung sichert das Abitur…! Und sonst?

Nebukadnezar verlangt Assimilation. Die vier leisten statt dessen Integration: sie fügen sich erfolgreich in die Wirtsgesellschaft ein, behalten aber ihre kulturelle Identität. Daniel steht vor einer brillianten Karriere. Sie wird ihn zum Großwesir machen, zum Verweser des riesigen Reichs. Alles, was er dabei braucht, lernt er in Babylon, und doch macht er diese Karriere als Jude. Am Ende steht ein scheinbar unauflösbarer Konflikt, ein Konflikt, der ihn und seine Freunde in den Feuerofen führt — und wieder hinaus. Aber das ist eine andere Geschichte, siehe den BdW 31/2018.

Uns allen, besonders aber Dani, wünsche ich eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 28/2022

…und sprach weiter: Gelobt sei der HErr, der Gott Sems; und Kanaan sei sein Knecht!
Gen 9,26

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Ex unum, pluribus!

Ein schwieriger Vers, Sie werden gleich sehen, warum. Nur vier Männer gab es noch auf der Welt: Noah, und seine Söhne Sem, Ham und Japhet. Von diesen drei Söhnen und ihren Frauen stammen wir alle ab, sagt die Bibel. Ham vergeht sich gegen seinen Vater Noah und wird in seinem Segen nicht berücksichtigt. Hams Sohn Kanaan, Stammvater der nichtisraelitischen Ureinwohner des gelobten Landes, wird verflucht und zum Sklaven Sems erklärt, dem Stammvater Abrahams und der Israeliten! Dabei wird Gott der Herr explizit als „Gott Sems“ bezeichnet. Aber auch der Sklave Japhets soll Kanaan sein.

In der Bibel wird die Identität von Völkern und ihre Verwandtschaften untereinander konsequent auf die Identität von Gründervätern und ihre Verwandtschaften zurückgeführt. Völker werden mit den Namen ihrer Stammväter belegt, z.B. Israel, Edom, Ammon, ganz so, als handele es sich um Personen. Gelegentlich wird der Unterschied von Person und Volk durch die Beifügung des Worts „Kinder“ bezeichnet — Kinder Israel, Kinder Edom, Kinder Ammon. Konsequent werden in Gen 9 und 10 Völker und Völkergruppen als Nachkommen dieser drei Söhne Noahs identifiziert. Diesen Zusammenhang bezeichnet man als „Völkertafel“, hier ist ein Link zum Wikipedia-Artikel.

Bis heute hat dieser Wurf als Anregung zur Bildung großer Kategorien gebildet. Im Mittelalter gruppierte man so die Bewohner der drei klassischen Kontinente: die Asiaten als Nachkommen Sems, die Europäer als Nachkommen Japhets und die Afrikaner als Nachkommen Hams. So habe ich es selbst von meiner Großmutter gelernt, und auch im Religionsunterricht der katholischen Konfessionsschule, die ich als Kind besuchte. Mit der Völkertafel in der Bibel stimmt diese Charakterisierung der Kontinente im einzelnen nicht überein, ebensowenig wie die Bezeichnungen großer Sprachfamilien (semitische, hamitische Sprachen), die man im neunzehnten Jahrhundert fand, als man begann, die Bildungsgesetze hinter den Sprachen zu verstehen.

Auch Rassisten nutzten die Kategorien, die die Bibel hier anbot. In Nordamerika half die Geschichte rund um den gezogenen Vers, die Sklaverei zu begründen: sie schafft eine Unterordnung Hams (der Afrikaner) unter die hellhäutigen Nachkommen Sems und Japhets. Und nationalsozialistische Rassenideologen und ihre Vorgänger sprachen dann von „Semiten“ als einer real existierenden biologischen Einheit, der sie spezifische Attribute beilegten. 

Diese Rezeptionsgeschichte ist durchaus häßlich. Und man muß wohl feststellen, dass eine solche Nutzung im biblischen Text angelegt ist. Er begründet zwar keine biologische Überlegenheit — diese Vorstellung ist der Bibel fremd — aber ein göttliches Recht hinter der Landnahme der Israeliten. Die Verheissung an Abraham, Isaak und Jakob (Israel) konkretisiert dies Recht. Es erlaubt den Kindern Israel, die Kinder Kanaan im Gelobten Land zu vernichten und zu unterdrücken. 

Was ich dagegen liebe und bewundere, ist die Art und Weise, wie Genesis die Entfaltung der Welt erzählt. Genesis schreitet von der Einheit in die Vielheit vor, und erklärt die Vielheit konsequent mit Brüchen in der ursprünglichen Einheit. Es erinnert mich daran, wie die moderne Kosmologie die „heisse Anfangsphase“ unseres Universums beschreibt. Aus einer unteilbaren und strukturlosen Singularität in Raum und Zeit entstehen zunächst Kernteilchen: Quarks, Protonen und Neutronen, dann leichte Atomkerne. Erst 300.000 Jahre später entkoppeln sich Strahlung und Materie. Hundert Millionen Jahre darauf bilden sich die Kerne erster Galaxien.  Ausdifferenzierung als Prinzip der Schöpfung. 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche!
OUlf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 33/2021

…darum habe ich auch mich selbst nicht würdig geachtet, dass ich zu dir käme; sondern sprich ein Wort, so wird mein Knecht gesund.
Luk 7,7

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Von ‚Abstandsregeln‘ und ihrer Überwindung

Der Hauptmann von Kapernaum, ein römischer Zenturio, bittet Jesus, seinen Knecht zu heilen, den er sehr liebt. Als Jesus in die Nähe des Hauses kommt, bittet er ihn ausserdem, nicht näherzutreten, sondern die Heilung aus der Entfernung zu bewirken, nur durch sein Wort.

Die Geschichte wird in Matthäus 8 und in Lukas 7 erzählt. Der parallele Vers aus Matthäus ist eine wichtige Formel in der katholischen Abendmahlsliturgie. Bei Lukas tritt das Motiv des Abstands viel deutlicher hervor. Hier bittet der Hauptmann nicht selbst, sondern lässt jüdische Freunde, Älteste in der Gemeinde, ein Wort für ihn einlegen. Die haben guten Grund, der Bitte Folge zu leisten: der Hauptmann hatte den Bau der Synagoge in Kapernaum finanziert. Jesus selbst hat dort schon gepredigt. Und als Jesus in die Nähe des Hauses kommt, spricht wiederum nicht der Hauptmann selbst ihn an. Er schickt vielmehr Freunde, die Jesus bitten, die Heilung aus der Ferne zu bewirken. Diesen Inhalt trägt unser Vers.

Der Hauptmann ist Zenturio, Chef einer Garnison der verhassten römischen Besatzungsmacht. Ihm sind selbst Beschränkungen im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung auferlegt — wie in jeder Besatzungssituation gab es in der römischen Armee Fraternisierungsverbote. Aber das Problem ist wechselseitig: Juden durften nur sehr eingeschränkt Umgang mit Menschen haben, die nicht dem jüdischen Volk angehörten. Dabei galt der Umgang mit den römischen Besatzern in besonderer Weise als unmoralisch, schlimmer noch als der Kontakt mit Prostitutierten, Zöllnern und Dieben, die dem eigenen Volk angehörten.  

Für den Zenturio war dies zum Trauma geworden. Er „liebte“ die jüdische Gemeinde, schreibt Lukas. Der Zenturio war Proselyt, ein Mensch, der den Gott der Hebräer als seinen Gott anerkannte, ohne selbst Jude zu sein und ohne vollgültig der Gemeinde angehören zu können — und dies, obwohl er ihren Versammlungsort finanziert hatte. Er dürfte seine Erfahrungen mit religiösen Lehrern gemacht haben. Auch heute behandeln ultraorthodoxe Juden in Israel Andersgläubige gelegentlich mit ablehnender Indifferenz. Das kann verletzend sein, und diese Art Verletzung kann sich der Führer der Kommandantur am See Genezareth nicht leisten, auch aus politischen Gründen nicht. 

In seiner Verzweiflung versucht der Hauptmann die Quadratur des Kreises. Er bittet Jesus, an dessen Wirkmacht er glaubt, um Hilfe, und gleichzeitig um sicheren Abstand. Er selbst macht es vor: Älteste der jüdischen Gemeinde bitten für ihn, und dann Freunde. Jesus soll den Knecht aus der Entfernung heilen!

Sonst heilt Jesus mit körperlichem Kontakt. An dieser Stelle könnte die Handlung aus mehreren Gründen kippen. Der Hauptmann geht sehr weit, indem er Jesus sagt, wie dieser die erbetene Hilfe zu leisten hat. Ausserdem hat Jesus selbst sich um ‚Abstandsregeln‘ nie gekümmert und durch seinen unterschiedslosen Umgang mit Prostituierten, Zöllnern und anderen Sündern viel Anstoß erregt. Mit der Frage, warum denn der Zenturio es nicht ebenso halte, könnte er die Bitte mit einer klaren Botschaft abweisen. Stünde die Geschichte so im Evangelium, würde es nicht auffallen.

Aber frei wählt Jesus eine andere Interpretation. Er sieht die Not des Hauptmanns und erkennt, dass dieser das Unmögliche versucht. Jesus staunt, schreibt Lukas! Und er sagt laut: Ja, du hast recht, das Unmögliche ist möglich. Und genau darauf kommt es an. Dein erstaunlicher Glaube ist besser und tiefer als derjenige der rechtgläubigen Umstehenden. Und dann bewirkt er die Heilung, ganz genau so, wie der Hauptmann sie sich wünscht. 

Später, lange nach Jesu Tod, verbreitete seine Lehre sich besonders schnell und leicht unter den Proselyten der griechisch-römischen Welt. In gewisser Weise war der Hauptmann von Kapernaum der erste von vielen. Unten sind zwei Bilder, von den Resten des Fischerdorfs Kapernaum und vom See Genezareth. Es war Anfang April 2017. Bei diesem Licht fällt es leichter als anderswo, das Unmögliche für möglich zu halten! 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 46/2020

…dass er viel Gut hatte an kleinem und großem Vieh und ein großes Gesinde. Darum beneideten ihn die Philister.
Gen 26,14

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Vom Zuschütten und vom Wiederausgraben 

Hier zunächst die Ergänzung des Fragments: Und er [Isaak] wurde ein reicher Mann und nahm immer mehr zu, bis er sehr reich wurde, sodass er viel Gut hatte an kleinem und großem Vieh und ein großes Gesinde. Darum beneideten ihn die Philister.

Isaak, einer der Stammväter Israels, macht sich in Kanaan heimisch, das Land, in das sein Vater Abraham eingewandert war. Man sollte sich Abraham, Isaak und Jakob in diesen Erzählungen nicht (nur) als Einzelperson vorstellen: in den Vätergeschichten stehen viele Akteure für größere Gruppen, manchmal ganze Völker. Abraham, Isaak und Jakob sind Protagonisten einer Einwanderung, die zumeist friedlich verläuft, in einer manchmal kritischen, manchmal kooperativen Koexistenz mit dem Völkergemisch Kanaans. Das ist eine Alternative zur Erzählung von der Landnahme mit Feuer und Schwert, siehe den Vers der Woche 33/2019

Die Geschichte, die der Vers einleitet, führt uns mitten hinein. Der steil ansteigende Reichtum Isaaks führt bei der einheimischen Bevölkerung zu Widerstand und Neid. Ein embryonales Pogrom ist die Folge: die Philister schütten Isaaks Brunnen zu, die er braucht, um sein Vieh zu tränken, und König Abimelech zieht seine schützende Hand von ihm ab. Isaak und seine vielen Knechte müssen fortgehen, nach Gerar. Dort gräbt er die Brunnen seines Vaters Abraham wieder aus, die nach dessen Tod gleichfalls zugeschüttet worden waren. Und um die neuen, alten Brunnen gibt es sofort wieder Streit…!

Liest man diese Geschichte von Einwanderung, zunehmendem Reichtum, gewaltsamer Reaktion und erzwungenem Ausweichen im Deutschland der Gegenwart, dann stellen sich unweigerlich Assoziationen ein. Da ist ein uralter Mechanismus, der in vielen Konstellationen und in allen Zeiten funktioniert. Aber nicht immer auf dieselbe Weise: Isaaks Leben unter den Philistern bleibt auf prekäre Weise stabil. Philisterkönig Abimelech schützt ihn wieder, es kommt gar zu einem feierlich beeideten Bund, und Esau, sein erster Sohn, heiratet zwei Töchter aus hetitischen Familien. Das hat seinen Preis: Die Bibel berichtet, dass diese Ehen Anlass für bitteren Gram bei den Eltern Isaak und Rebekka sind. 

Die Vätergeschichten erzählen, wie Einwanderer auf sehr vielfältige Weise auf den Druck der Umwelt reagieren, mal angstvoll oder ausweichend, mal mit Integration, mal auch selbstbewusst und konfrontativ. Gott lässt sie nicht in großen Schlachten siegen, lässt keine Mauern einstürzen. Er hilft beim Überleben in den Gemeinheiten des Alltags und den Rückschlägen einer Existenz am Rand der Mehrheitsgesellschaft. Das Narrativ der Vätergeschichten hat sich in der Bibel nicht durchgesetzt. Der Rest der Thora berichtet von der Zeit mit Gott in der Wüste, einfach und rein, erhaben fast, und ohne Berührung mit den Einwohnern Kanaans. Die Väter und die komplizierte erste Zeit im Heiligen Land voller Kompromisse sind vergessen. Die Landnahme wird schließlich zu einem reinen Gewaltakt. 

In welcher der Großerzählungen können wir Gott klarer sehen? Wenn Menschen meine Brunnen verschütten, möge mich Gott an andere Brunnen erinnern und mir dann die Kraft geben, sie wieder auszugraben!

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 20/2020

Urim und Thummim

Und der Landpfleger sprach zu ihnen, sie sollten nicht essen vom Hochheiligen, bis ein Priester aufstände mit dem Licht und Recht.
Esr 2,63

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Das Los werfen

Ein besonderer Vers für jemanden, der zufällig Bibelverse zieht, um dadurch über die Zeit ein neues Bild zu gewinnen! Es geht um die Orakelsteine Urim und Thummim, mit denen der Hohepriester direkt Gottes Wille erfragen konnte, siehe 2.Mose 28,30. Ihr Name wird von Luther etwas ungenau mit „Licht und Recht“ übersetzt, richtiger wäre „Lichter und Vollkommenheiten“.  

Als die Judäer sich siebzig Jahre nach der Verschleppung durch die Babylonier in Jerusalem wieder sammeln durften, mussten sie das Judentum neu konstituieren. Hierfür steht das Buch Esra. Wer gehörte dazu, wer nicht? Siehe hierzu BdW 2/2018, aus demselben Abschnitt gezogen. Besonders kritisch musste diese Frage bei den Leviten gestellt werden. Nur Abkömmlinge des Stammes Levi durften Tempeldienste verrichten. Der Abstammungsnachweis gelang nach so langer Zeit nicht allen Familien mehr. Es war aber durchaus möglich, das der Anspruch der betroffenen Familien berechtigt war. Der Landpfleger zieht sich aus der Affäre: Der Anspruch wird nicht abgelehnt, sondern nur suspendiert, bis die Frage mit Hilfe der beiden Orakelsteine durch ein Gottesurteil gelöst werden konnte. Diese waren nach dem Exil leider verschwunden. Bis sie wieder auftauchen, durften die fraglichen Familien also an der Durchführung der Opfer nicht mitwirken.

Der Landpfleger zeigt Führung, wie man heute sagt — irgendwie müssen Sachfragen eben beantwortet werden. Aber wenn es nun die Orakelsteine noch gäbe? Beim Werfen waren drei Ausgänge möglich: „ja“, „nein“ und „keine Antwort“. Wer die Steine besaß, hatte große Macht: einen unmittelbaren Zugang zu Gottes Wille und zur Wahrheit, dann jedenfalls, wenn die beiden Steine auf die gestellte Frage tatsächlich antworten, mit „ja“ oder „nein“. 

Eine faszinierende Vorstellung! 

Wie würden wir die Steine nutzen? Man müsste lange über die Formulierung der Frage nachdenken, das zur Entscheidung stehende Problem so gut wie möglich vorbereiten und sich dabei ganz auf dasjenige konzentrieren, was wichtig und offen ist, und zwar gegeben alles relevante Wissen — Unwichtiges oder im Grunde Bekanntes hat in einer Frage an die mit göttlicher Kraft begabten Steine keinen Platz. Bereitet man sein Anliegen in dieser konsequenten Weise auf, kann man so viel lernen, dass die Steine vielleicht gar nicht mehr nötig sind…

So können wir aber auch ohne Urim und Thummim vorgehen und dann, falls am Ende doch eine Frage übrig bleibt, auf Gottes Antwort warten. Sie wird zu uns gelangen — wenn es denn sein soll, denn auch die Steine haben am Ende ja nicht jede Frage beantwortet. 

Ich wünsche uns in dieser Woche die Antwort auf eine Frage, die wichtig und offen ist, und dabei Gottes Segen. 

Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 09/2020

Wandelt weise gegen die, die draußen sind, und kauft die Zeit aus.
Kol 4,5

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Drinnen und draußen

Der Kolosserbrief ist ein Lehrschreiben des Paulus. Er handelt in erster Linie vom „Drinnen“ — wie soll man als Christ die Rettung, die Erlösung annehmen, wie sich stellen zu seinen Mitmenschen. Der Kern ist ein Bild: wir sind mit Christus gestorben und neu geboren. Gestorben der Welt und ihren Prioritäten, ihren Werten, ihren Kämpfen, Eifersüchteleien, ihrer Unreinheit und ihren Affekten; Zorn, Grimm, boshafte Worte. Neu geboren zu Christus hin und damit hin zur Fülle Gottes sind wir nicht mehr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie. Die alten Unterscheidungen werden unwichtig, und auch die überlieferten kultischen Vorschriften. Der Begriff fällt nicht, aber es geht um das Reich Gottes, das mit Christus und in uns bereits begonnen hat. Die folgende Stelle, Kol 3,12-16, sagt, wie wir uns „drinnen“ verhalten sollen:

So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut und Geduld; und ertrage einer den anderen und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Christi, zu dem ihr berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen und seid dankbar. Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. 

Wow! Wem das gelingt, gemeinsam mit anderen, dessen Leben ist gelungen! Auch der letzte Satz spricht mich persönlich sehr an. Aber da ist es doch immer noch, das „Draußen“, das wir eigentlich hinter uns gelassen haben, das doch eigentlich unwichtig ist — „Maya“ hätte Gautama Buddha es vielleicht genannt. Ich denke an mein Büro und all die Menschen, mit denen ich dort zu tun habe, und ich sehe, dass das Draußen fortbesteht mit seinen Forderungen. Es konditioniert unser Leben, auch unser Glaubensleben. Konsistent wäre es vielleicht, sich zurückzuziehen, dem Draußen so wenig Gewicht wie möglich zu geben, etwa Eremit zu werden oder Mitglied einer geistlichen Gemeinschaft, die sich abschottet. Das gibt es in der Tat. Manche Gemeinschaften verbinden es mit Gleichgültigkeit, Geringschätzigkeit und abweisendem Verhalten.

Mit dem Bibelvers dieser Woche weist Paulus uns an, genau dies nicht zu tun. Wir sollen uns weise gegenüber denen verhalten, die draußen sind. Das bedeutet zunächst einmal, dass wir sie wahrnehmen sollen und uns auf sie einlassen. Sicherlich nicht bedingungslos, das wäre nicht weise, aber ebenso wenig sollen uns bedingungslos abgrenzen. Interaktion ist gefordert. Wir sollen die Zeit „auskaufen“, also gut nutzen und nicht teilnahmelos den Dingen ihren Lauf lassen. Der darauffolgende Vers 6 verdeutlicht: Eure Rede sei allezeit wohlklingend und mit Salz gewürzt, dass ihr wisst, wie ihr einem jeden antworten sollt

Paulus fordert, dass wir uns ernsthaft um die anderen bemühen sollen, dass wir kommunikativ sind, gewinnend, nicht abweisend, auch dann nicht hochmütig sind, wenn wir uns einbilden, Grund dazu zu haben. Dabei geht es hier gar nicht um Mission. Es geht darum, wie wir uns gegen unsere Mitmenschen stellen, „drinnen“ und „draußen“. 

Der Vers ist aktuell. Vor hundertfünfzig Jahren hätte man darüber nachdenken müssen, wer denn eigentlich gemeint sei mit „denen, die draußen sind“ — die Sozialisten, die Heiden in den Kolonien, Trunkenbolde vielleicht? Heute nicht mehr. Wie zu Paulus‘ Zeit ist der größte Teil unserer Umwelt „draußen“. 

Also: wir sollen eine Welt ernst nehmen, von der wir wissen, dass sie unwichtig ist!? Ja. Das Reich Gottes ist angebrochen und es ist unter uns, aber die alte Welt besteht fort. Wie Jesus im Reich Gottes lebte und zugleich in unserer Welt und endlich die Grenze gegenstandslos machte, so sollen wir es auch tun. Dem Kaiser geben, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist. Das geht nicht — aber anders geht es nicht…!

Lasst uns, in dieser Woche und darüber hinaus, mit Freude und mit Gottes Segen in beiden Welten leben, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 33/2019

Da kam einer, der entronnen war, und sagte es Abram an, dem Ausländer, der da wohnte im Hain Mamres, des Amoriters, welcher ein Bruder war Eskols und Aners. Diese waren mit Abram im Bunde.
Gen 14,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Einwanderung — zwei Geschichten

Die fünf Bücher Mose stehen am Anfang der Bibel, sie stellen uns nicht nur Gott vor, als Person, in Auseinandersetzung mit den Menschen, sondern auch das israelitische Volk, ebenfalls als Person, in Auseinandersetzung mit Gott, der Umwelt und sich selbst. Sie enthalten den Gründungsmythos: wie kam das Volk Gottes ins Land, wie wurde es zu dem, was es war, in welcher Beziehung steht es zu seinen Nachbarvölkern? 

Wir kennen eine Antwort: nach der Emigration der Stammväter wuchs das Volk in Ägypten heran. Es wurde von Moses herausgeführt, um dann vierzig Jahre durch die Wüste zu ziehen. Unter seinem Nachfolger Josua fiel es in Palästina, das Gelobte Land ein, sengend, brennend und mordend, und zwar von AUSSEN. Verwandtschaftliche Beziehungen gab es zu Völkern des Umlandes: Moabitern, Edomitern, Ammonitern, Arabern — mit den in Kanaan einheimischen Ethnien hatte das Volk Gottes aber rein gar nichts zu tun. 

Die Genesis enthält aber noch eine ganz andere Erzählung. Abraham, ein aramäischer Halbnomade, erhält in der Stadt Haran von seinem Gott den Befehl, alles hinter sich zu lassen und sich aufzumachen in ein Land, das sein Gott ihm zeigen wird. Er folgt diesem sonderbaren Auftrag und macht sich in Kanaan heimisch: er schließt Bündnisse mit den Clans in der Umgebung, siedelt auf einem Eichenhain auf dem Land des Amoriters(!) Mamre und erwirbt schließlich von einem Hethiter(!) namens Efron ein Erbbegräbnis, die Höhle Machpela, damit er dort seine Frau Sarah bestatten kann (Gen 23). Der Kauf des Grundstücks findet vor einer großen Gruppe von Hethitern statt und verschafft dem alten Mann Abraham Anerkennung und notariell beurkundetes Bürgerrecht. Als er stirbt, findet er selbst in Machpela seine Ruhestätte, und nach ihm auch Isaak und Jakob und ihre Frauen. 

Abrahams Geschichte erzählt vom langsamen Heimischwerden in Kontakt, Konflikt und Kooperation mit der gebietsansässigen Umgebung in Palästina. Unser BdW zeigt einen Ausschnitt. Ein kanaanitischer König hat gemeinsam mit einigen Verbündeten seinem Oberherren die Gefolgschaft gekündigt. Dieser zieht, unterstützt von Verbündeten, gegen die Aufrührer zu Felde: vier Könige gegen fünf. Unter den letzteren sind auch die Könige von Sodom und Gomorrha, in deren Land sich Lot, Abrahams Bruder, heimisch gemacht hat. Die vier verbündeten Könige verlieren die Schlacht und Lot wird verschleppt. Abraham ist Oberhaupt eines größeren Clans, und gemeinsam mit dem Amoriter Mamre und seinen beiden Brüdern bildet er einen Stoßtrupp von 318 berittenen Kämpfern. In einer Kommandoaktion befreit er Lot und das den Königen von Sodom und Gomorrha geraubte Gut aus der Gewalt der fünf Könige. Dafür wird er von Melchisedek gesegnet, selbst König und Priester Gottes in Salem (vermutlich Jerusalem), dem er dafür den Zehnten gibt. Diese eigenartige Stelle haben wir in 2019 KW 8 kennengelernt. 

Spätestens mit der Befreiungsaktion und der rituellen Anerkennung durch Melchisedek gehört Abraham, „der Ausländer“, dazu. Er ist Mitspieler in Kanaan mit lokalem Gewicht. Zur Befreiung seines Bruders nutzt er bestehende Bündnisse und geht neue ein. Ganz friedlich verläuft diese Einwanderung offensichtlich nicht, aber — welch ein Gefälle zum Buch Josua. Das Narrativ von Landnahme und Eroberung ist Mainstream des Alten Testaments und hat die Erzählung von Besiedlung durch Infiltration und Integration überlagert. 

Aber ich liebe diese Geschichte. An Abraham denke ich immer gern, wie er dem Ruf Gottes folgt, ins Heilige Land reist, dort auf dem Eichenhain lebt, immer mit seinem Gott und der Verheißung, schließlich sehr spät Kinder zeugt und am Ende stirbt, „alt und lebenssatt“. Seine Urenkel sind die Väter der zwölf Stämme Israels, allesamt Sabras, im Heiligen Land geboren. Und sein erster Sohn ist Ismael, der Stammvater der Araber und Midianiter. Beim Buch Josua hingegen habe ich vor mehr als vierzig Jahren den ersten Versuch abgebrochen, die Bibel ganz zu lesen. Viel später habe ich erfahren, dass die archäologische Evidenz im Grunde auf Seiten der uralten Abrahamsgeschichte liegt. Für eine großflächige Vernichtung kanaanitischer Städte und Siedlungen in kurzer Zeit gibt es keine Belege, wohl aber für eine dauerhafte kulturelle Koexistenz von Kanaanitern und Hebräern. Schön, nicht wahr?

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche, in lebendiger Auseinandersetzung mit unserer Umwelt.
Ulf von Kalckreuth