Bibelvers der Woche 08/2022

…von Syrien, von Moab, von den Kindern Ammon, von den Philistern, von Amalek, von der Beute Hadadesers, des Sohnes Rehobs, König zu Zoba.
2 Sa 8,12

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. Der gezogene Vers ist ein Fragment. Hier ist der vollständige Satz, 2 Sa 8, 1+12:

Auch diese heiligte der König David dem HERRN samt dem Silber und Gold, das er geheiligt hatte von allen Völkern, die er unterworfen hatte, von Aram, von Moab, von den Ammonitern, von den Philistern, von Amalek und von dem, was er erbeutet hatte von Hadad-Eser, dem Sohn Rehobs, dem König von Zoba.

David sammelt Geld und Güter für den Bau des Tempels… bei anderen! Für den Zusammenhang siehe auch den Kommentar zum BdW 27/2021, eine Parallelstelle aus der Chronik.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 51/2021

Gaal zog aus vor den Männern zu Sichem her und stritt mit Abimelech.
Ri 9,39 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Höllenmaschine

Wer war der erste König in Israel? David? Saul? Nein: er hieß Abimelech. Und er herrschte drei Jahre.

Es ist eine dunkle Geschichte. Gideon, auch Jerubbaal genannt, war als charismatischer Führer sehr erfolgreich. Das Königtum wurde ihm angetragen, doch er lehnte ab. Später jedoch herrschten Gideons siebzig (!) Söhne gemeinsam in der Nordregion, eine Art Oligarchie. Wenn nicht Ri 8,30 darauf bestünde, dass dies alles leibliche Söhne waren, könnte man annahmen, dass sich hier eine ganze Führungselite auf den legendären Gideon zurückführte.

Einer aber ist unzufrieden — Abimelech, der Sohn einer Nebenfrau Gideons. Er wiegelt die Einwohner der Stadt Sichem auf, ihn zum König zu machen, wenn er die siebzig aus dem Weg räumt. Sichem war der Ort eines Heiligtum und Zentrum des nördlichen Siedlungsgebiets der Israeliten. Da er aus der Stadt stammt, hat er Anhänger unter den Bürgern und sie stimmen zu. Abimelech schreitet zur Tat. In Ofra lässt er alle siebzig auf demselben Stein hinrichten — bis auf einen, der entrinnt, Jotam mit Namen, der jüngste der Söhne Gideons. 

Abimelech lässt sich zum König krönen. Jotam aber, sein Bruder, ruft den Bürgern von Sichem vom heiligen Berg Garizim aus mit lauter Stimme zu: erst die Fabel vom Dornbusch als dem König der Bäume (hier Wikipedia zur Jotamfabel) und dann einen Fluch:

Habt ihr nun heute recht und redlich gehandelt an Jerubbaal (Gideon, d.V.) und an seinem Hause, so seid fröhlich über Abimelech, und er sei fröhlich über euch. Wenn aber nicht, so gehe Feuer aus von Abimelech und verzehre die Herren von Sichem und die Bewohner des Millo, und gehe auch Feuer aus von den Herren von Sichem und von den Bewohnern des Millo und verzehre Abimelech.  (Ri 9,19f) 

Abimelech und die mörderischen Bürger von Sichem werden sich gegenseitig vernichten, sagt der Fluch. Nach drei Jahren der Herrschaft Abimelechs zieht mit Gaal eine weitere Führungsfigur in die Königsstadt. Gaal wiegelt die Bewohnder gegen Abimelech auf, und sie unterstützen ihn bei einem Feldzug gegen ihren ungeliebten König. Das ist unser Vers — der Bürgerkrieg beginnt. 

Abimelech schlägt seinen Widersacher mit Täuschung und überlegener militärischer Führung und drängt ihn fort. Die jetzt schutzlosen Bürger von Sichem lässt er töten, soweit sie nicht vorher schon in der Schlacht gefallen sind. Das ist nicht das Ende. Auch die Nachbarstadt Tebez hatte sich aufgelehnt. Abimelech erobert sie zurück und ist im Begriff, die in der Stadt gelegene Festung zu nehmen, als er von einem Mühlstein getroffen wird, der vom Dach der Burg auf ihn gekippt wird — von einer Frau. Abimelech befiehlt seinem Schwertträger, ihn zu töten, damit niemand sagen könne, dies wäre einer Frau gelungen. Der Schwertträger führt den Befehl aus. Damit endet das erste Königtum in Israel. Abimelechs Tod hat erstaunliche Parallelen zum Tod Sauls in 1. Sam 21. 

Ich kannte die Geschichte nicht. Als ich sie las, fiel mir Macbeth ein, das Drama von Shakespeare, mit dem ich vor vielen Jahren unvermittelt und unvorbereitet in der Schule konfrontiert wurde, und das ich nie vergessen habe. Wie Macbeth macht sich Abimelech zum König durch einen brutalen Mord und sieht sich mit einer Prophezeiung konfrontiert, die auf unerwartete Weise wahr wird und ihn zerstört. Und wie im Drama der Wald von Birnham auf Schloss Dunisane vorrückt, setzen sich im Buch Richter beim Sturm auf Sichem Bäume in Bewegung, die in Wahrheit Soldaten sind. Nichts ist, was es zu sein vorgibt, schließlich führt eine verzweifelte Frau in einer fast schon gefallenen Burg eine überschwere, tödliche Waffe. 

Was tun mit dieser Geschichte? Wo ist die frohe Botschaft? Ein Happy End, einen strahlenden Sieger gibt es nicht. Alle Schauplätze der Handlung verwandeln sich in Leichenfelder. Man kann immerhin annehmen, dass Jotam überlebt hat, und wohl auch die namenlose Frau: „Als aber die Israeliten sahen, dass Abimelech tot war, ging ein jeder heim“, heisst es in Ri 9,55. Wäre dies ein Film, könnte man die beiden Überlebenden einander finden lassen…

Die Musik in den Erzählungen des Buchs Richter hat andere, dunklere Leitmotive und Rythmen als der biblische „Mainstream“, das konnten wir bei den BdWs zu Jeftah und Gideon/Jerubaal sehen. Aber auch hier können wir über Gott und Menschen lernen. Ich denke, Macbeth ist ein Schlüssel. Das Böse kreist um sich selbst und geht schließlich unter, einer geheimen Dramaturgie folgend. Die Gewalt, die von Abimelech und den Bürgern von Sichem ausgeht, ist wie eine dunkle Energie. Mit dem Massaker an der alten Führungsschicht hat sie sich nicht entladen, sie besteht fort und richtet sich gegen die Parteien selbst. Einmal angestoßen — durch unseren Vers — spult die Geschichte sich ab wie eine Höllenmaschine, mit großer Präzision. Kein Wort ist überflüssig. 

Vielleicht ist dies die „frohe“ Botschaft dieser uralten Geschichte: dem Bösen wohnt eine Dynamik inne, die sich ihr Ende selbst bereitet. Auch darauf kann man hoffen. Diese Perspektive kommt ganz ohne die Figur eines starken Retters aus. Und sie ist realistisch, wenn man an das Ende der DDR und anderer Gewaltherrschaften denkt.

Nur in der Dunkelheit kann ein Licht hell strahlen! Ich wünsche uns allen eine gesegnete Adventszeit.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 35/2021

Und der HErr sprach zu Mose: Fürchte dich nicht vor ihm; denn ich habe ihn in deine Hand gegeben mit Land und Leuten, und du sollst mit ihm tun, wie du mit Sihon, dem König der Amoriter, getan hast, der zu Hesbon wohnte.
Num 21,34

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Fürchte dich nicht!

Die Wüstenwanderung ist zu Ende. Fast vierzig Jahre lang ist das erwählte Volk durch den Negev gezogen, in einer großen Kreisbewegung um das Seïr-Gebirge. Nun macht es, noch unter Mose, einen Ausbruch nach Osten, um dann auf der transjordanischen Seite nach Norden zu ziehen.  

Die Landnahme beginnt. Die Israeliten wollen das Land von Sihon durchqueren, dem König eines Amoriterreichs. Sie versprechen, nur durchzuziehen und auf der Königsstraße zu bleiben und für das Wasser zu zahlen, dass sie nutzen. Einige Zeit vorher waren sie mit demselben Anliegen bei den Edomitern gescheitert, diese hatten den Durchzug verweigert. Auch Sihon weigert sich und zieht den Israeliten entgegen. Mose greift an und Sihon wird furchtbar geschlagen. Die Israeliten nehmen sein Land ein und ziehen weiter Richtung Norden nach Baschan, einem anderen Amoriterreich östlich des Jordan. Auch dessen König, Og genannt, stellt sich ihnen entgegen. 

Die Heere stehen sich gegenüber. Das der zwölf Stämme und das Heer König Ogs, letzteres kleiner wohl, aber vielleicht besser geordnet und bewaffnet. An dieser Stelle steht der Bibelvers: Mose wird den Kampf gewinnen, sagt der Herr, und er soll das Land Baschan einnehmen, gerade so, wie er es mit dem Land König Sihons in Heschbon getan hat. Und so geschieht es. Aus dem Land der beiden Amoriterreiche erhalten die Stämme Ruben und Gad sowie der halbe Stamm Manasse ihr Erbteil — noch vor der Überquerung des Jordan bei Jericho.

Auch das Deuteronomium berichtet von den Geschehnissen. Dtn 2 und 3 sind zugespitzter als Num 21. Man erfährt, dass König Og einer der letzten der vorzeitlichen Riesen war, und man liest auch, dass die Israeliten an allen Bewohnern beider Königreiche den Gottesbann vollstreckten: Männern, Frauen und Kindern.

Die Länder Sihons und Ogs waren organisierte Reiche mit festen Städten, hier ist ein Link. Eine Eroberung „im Vorbeigehen“, unter Auslöschung der gesamten Bevölkerung gar, ist schwer vorstellbar. Ich möchte aber auf etwas anderes aufmerksam machen: den erstaunliche Kontrast zum Beginn der Wüstenwanderung. Die Ägypter hatten ein Volk von Bausklaven in die Wüste getrieben und mit ihrer Armee verfolgt, gerade so wie es die Deutschen mit den Hereros taten. Nur ein Wunder konnte das wehr- und hilflose Volk retten. In existenzieller Gefahr rief Mose den Israeliten zu: 

Fürchtet Euch nicht. Steht fest und seht zu, was für ein Heil der Herr heute an euch tun wird. Denn wie ihr die Ägypter heute seht, werdet ihr sie niemals wieder sehen. Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein (Gen 14,13f).

Fürchtet Euch nicht! Fast ebenso beginnt im gezogenen Bibelvers Gottes Wort an Moses, aber was für ein Unterschied im Kontext! Den Amoritern hilft kein Wunder. Etwas Großes, etwas Grundsätzliches ist geschehen während des jahrzehntelangen Zugs durch die Wüste. Unter der Führung eines Mannes und seines Gottes ist aus einem Volk von Sklaven ein Heer kampferprobter Eroberer geworden. Die Landnahme hat begonnen. Das Buch Josua berichtet, mit welch furchtbarer Effizienz sie sich weiter vollzieht. Vieles kann man darin sehen. Auch den Segen und die Treue des Herrn und die Erfüllung eines Versprechens. Keine Frage, der Text verlangt diese Lesart. Mir fällt sie schwer.

Ich wünsche uns allen den Frieden Gottes, in dieser Woche und immer,
Ulf von Kalckreuth

Nachtrag, 28. August:
Vielleicht muß ich nicht immer auf den ganz großen Zusammenhang schauen. Ich bin ja kein Theologe. Man kann den Vers auch einfach als Ermutigung in einer bevorstehenden Auseinandersetzung lesen, nicht wahr? Wie es sich wohl anfühlt, im Auftrag Gottes unterwegs zu sein?

Bibelvers der Woche 27/2021

Auch schlug er die Moabiter, dass die Moabiter David untertänig wurden und Geschenke brachten.
1 Ch 18,2

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Von Siegen erzählen

Der Text berichtet von den Eroberungszügen, mit denen David sein neu erworbenes Großkönigtum festigt und erweitert. Unser Vers geht auf das Schicksal der Moabiter ein — mit militärischer Gewalt werden sie in einen Vasallenstatus gebracht und tributpflichtig gemacht. Andernorts, bei Samuel, wird genauer erzählt, und grausamer: 

Er schlug auch die Moabiter und ließ sie sich auf den Boden legen, und maß sie mit der Messschnur ab, und er maß zwei Schnurlängen ab, so viele tötete er, und eine volle Schnurlänge, so viele ließ er am Leben. So wurden die Moabiter David untertan, dass sie ihm Tribut bringen mussten. (2 Sam 8,2)

Bei Samuel steht die Geschichte im Kontext eines wiederkehrenden Wechsels von Maßlosigkeit und Buße — wie in einem Computerspiel lernt David in der Auseinandersetzung mit Gott und der Umwelt seine Möglichkeiten und Grenzen kennen. 

In der Chronik ist der Bezugsrahmen ein ganz anderer. Der Autor interessiert sich ausschließlich für den Jerusalemer Tempel, der noch gar nicht gebaut ist. Vorher wird berichtet, wie David Gott einen Tempel bauen will und jener das Ansinnen ablehnt: erst Davids Sohn Salomon sei dazu bestimmt. Dennoch tut David alles, das große Werk vorzubereiten: er führt viele Kriege, darunter auch den gegen Moab, und füllt mit den Siegen die Staatskasse (Kap 18-20). Nach einer großen, selbstverschuldeten Katastrophe, die beinahe sein Untergang gewesen wäre, findet David den Platz, an dem der Tempel gebaut werden soll (Kap 21) und läßt Steine behauen und Zedernholz heranbringen für den großen Bau. Wenn Salomo der Vater des Tempels ist, dann ist David sein Großvater, kann man der Schilderung entnehmen. 

Manche machen die Bibel für den Inhalt des Berichteten verantwortlich, für eisenzeitliche Eroberungszüge und Massaker. Das ist nicht sinnvoll. Im vorliegenden Text der Chronik ist für mich allerdings die Erzählhaltung schwer erträglich. Das Schicksal der Moabiter und vieler anderer kleinerer und größerer Nachbarvölker wird unter rein fiskalischen Gesichtspunkten gesehen, das eigentliche Geschehen ist der Tempelbau. Das Buch Genesis sieht die Moabiter als Abkömmlinge von Abrahams Neffen Lot, gezeugt durch einen widerlichen Samenraub der Töchter an ihrem betrunkenen Vater. Das bringt die enge Verwandtschaft der Völker zum Ausdruck und ist gleichzeitig morgenländischer Ausdruck allerhöchster Verachtung. Die Verachtung zieht sich durch das ganze Alte Testament, eine Ausnahme ist die Erzählung von Rut, einer Moabiterin, die Urgroßmutter Davids wurde. 

Dabei ist die Bibel ungeheuer ehrlich, all das gibt es ja wirklich. Man kann Erzählungen und Erzählhaltungen ertragen, wie man Menschen ertragen kann. Denn es gibt andere Perspektiven, auf die wir auf der Reise durch die Bibel schon gestoßen sind. Von Jeremia und Jesaja sind „Fremdvölkersprüche“ — Untergangsprophezeihungen — gegen Moab überliefert. Die Moabiter werden das Schicksal Israels und Judas teilen, sagen die Propheten, und sie sagen dies mit größter Trauer, siehe die BdW 4/2018 und 44/2018. Die beiden Seher sind zerrissen: der Herr setzt Vernichtung ins Werk — wie können wir damit umgehen? Jesaja fragt an dieser Stelle noch weiter: wie kann Gott damit umgehen?  

Wie bei einem Menschen müssen wir uns bei der Bibel — und auch bei Gott — manchmal an das erinnern, was wir schon gesehen haben…

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 22/2021

…was zu meiner Haustür heraus mir entgegengeht, wenn ich mit Frieden wiederkomme von den Kindern Ammon, das soll des HErrn sein, und ich will’s zum Brandopfer opfern.
Ri 11,31

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Abgründe und Trauer

Unser Vers ist der zweite Teil eines Gelübdes, er sagt, was geschehen soll, wenn die im ersten Teil genannte Bedingung eintritt. Jeftah (oder Jiftach) ist regionaler Führer und will den Widerstand gegen einen Einfall der Ammoniter in die Landschaft Gilead in Gad organisieren. Er ist Sohn des Fürsten von Gilead, gezeugt allerdings mit einer Hure und daher von der Familie verstoßen. In der Verbannung lebt er als Freibeuter, ähnlich wie David nach seiner Flucht vor Saul.

In der Not nun rufen ihn die Ältesten von Gilead und bieten ihm Herrschaft an: militärische Herrschaft jetzt und politische Herrschaft später. Jeftah hat wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Vor den Schlachten wendet er sich an den Herrn, hier ist das ganze Gelübde im Zusammenhang (in der Übersetzung von 2017): 

Und Jeftah gelobte dem Herrn ein Gelübde und sprach: Gibst du die Ammoniter in meine Hand, so soll, was mir aus meiner Haustür entgegengeht, wenn ich von den Ammonitern heil zurückkomme, dem Herrn gehören, und ich will’s als Brandopfer darbringen. (Ri 11, 30+31)

Er gewinnt die Schlachten und demütigt die Ammoniter, er kehrt siegreich heim. Und es kommt ihm seine Tochter entgegen, sein einziges Kind, eine junge Frau in heiratsfähigem Alter, tanzend, mit der Handpauke, dem Musikinstrument der jungen Mädchen!

Jeftah muß mit einem solchen Ausgang gerechnet haben — der hebräische Text wäre besser mit „wer mir entgegenkommt“ übersetzt. Sonderbar genug aber macht er seiner Tochter Vorwürfe. Sie weist seine Klage zurück und erinnert ihn, dass er es war, der das Gelübde getan hatte. Sie akzeptiert ihr Schicksal, bittet aber, zwei Monate lang in die Berge gehen zu können, um mit ihren Freundinnen zu trauern. Danach könne das Opfer gebracht werden. Und so geschah es.  Wenn ich richtig lese, starb sie von des Vaters eigener Hand.

Der Vers und die Geschichte treffen auf eine Tiefenschicht unseres kollektiven Unterbewusstseins. Ganz ähnliche Begebenheiten werden aus sehr unterschiedlichen Quellen berichtet. Das singende springende Löweneckerchen ist ein Märchen der Gebrüder Grimm, und Idomeneus eine griechische Sagengestalt. 

Ein Führer im vorstaatlichen Israel, ein Richter, opfert dem Herrn sein Kind. Es gibt in der Bibel einige Parallelen. In 2. Kö 3 ist es ein moabitischer König, der in höchster Not seinem Gott Kemosch den ersten Sohn opfert, um die Israeliten zurückzuschlagen — gleichfalls mit Erfolg. Ahas und Manasse, Könige von Juda, opfern ihre Söhne fremden Göttern. Auf Gottes Geheiß soll Abraham seinen Sohn opfern und er ist bereit dazu, nur Gottes Eingreifen rettet Isaak. In Sam 21 liefert David sieben Söhne Sauls den Gibeonitern aus, einem nichtisraelitischen Sassenvolk, damit diese ihre Feinde Gott zum Opfer bringen können. Und die Schilderung des furchtbaren Feldzugs der Israeliten gegen die Midianiter in Num 31 ist an einer wichtigen Stelle ambivalent, siehe den BdW 19/2019.

Menschenopfer sind in der hebräischen Bibel streng untersagt, und sie werden als Greueltaten dargestellt. Es ist jedoch möglich, dass dies nicht immer so gesehen wurde. Im kulturellen Umfeld Israels waren Menschenopfer etwas Natürliches: Opfer ist Kommunikation mit der Gottheit und die höchste Opfergabe war ein Mensch. Wie Baal erhebt der Gott der Israeliten an vielen Stellen des Tanach Anspruch auf den erstgeborenen Sohn, anders als für Baal muss dieser Anspruch allerdings durch ein Tieropfer ausgelöst werden. 

Es fällt mir nicht leicht, darüber zu schreiben, und ich kann für mich nicht klären, ob und mit welcher Regelmäßigkeit in frühester Zeit auch Menschen für Gott geopfert wurden — ganz sicher aber spielten menschliche Opfer eine Rolle in den vielfältigen Vorstellungen, aus denen sich erst die jüdische und dann die christliche Religion herausbildete. Ohne diese uralten Muster im spirituellen Genom könnten Christen nicht in einem Opfer die höchste Erlösungstat erkennen, dem Tod eines eingeborenen Sohns.

Wenn man nun die Geschichte von Jeftah und seiner Tochter noch einmal liest, mag man diese vielgestalte Vorstellungswelt erfühlen, und dann verschwimmen plötzlich die Grenzen zwischen „unserem“ Gott, dem Gott der Israeliten, und den anderen Göttern dieser Zeit. Und da ist sie, die schöne Tochter Jeftahs, wir kennen ihren Namen nicht, wie sie ihrem Vater lachend mit der Handpauke entgegentanzt und sich damit um ihr junges Leben bringt. Ich kann sehen, wie sie mit ihren Freundinnen in die kargen Berge Gileads zieht, um Abschied zu nehmen vom Leben — unendlich kostbar, mit dunklen Augen und schmalem Gesicht unter der Sonne Palästinas, auf einem Esel, angetan mit dem Goldschmuck ihres Vaters und begleitet von seinen bewaffneten Knechten, sie zu schützen und zu bewachen.

Am Ende des biblischen Berichts ist die Rede von alljährlichen Trauertagen für die namenlose Tochter Jeftahs, ausgerichtet von den jungen Mädchen Israels. Ja, manchmal ist es gut zu trauern. Gerade auch über das, was auf dem Weg liegt, der dorthin führt, wo wir stehen. Jetzt und hier.  

Der Herr behüte diesen Weg,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 05/2021

Aber ehe sie sich legten, kamen die Leute der Stadt Sodom und umgaben das ganze Haus, jung und alt, das ganze Volk aus allen Enden,…
Gen 19,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Straft Gott?

Im Buch Genesis stehen viele der schönsten und einige der furchtbarsten Geschichten in der Bibel, zu letzteren gehört die Vernichtung von Sodom. Ihre grobe Struktur ist ganz ähnlich der Sintflutgeschichte. Gott hört von den unseligen Taten und dem sündigen Leben der Einwohner dieser Stadt und will sie als Kollektiv vernichten. Er spricht mit Abraham davon, und dieser wendet ein, es könnte doch auch Gerechte unter den Bewohnern geben. Sicher denkt er dabei auch an seinen Bruder Lot, der in Sodom lebt, seitdem er sich von Abraham getrennt hat. Und Abraham handelt regelrecht mit Gott darum, wieviele Gerechte die Vernichtung der ganzen Stadt zu einem Unrecht machen würden — siehe den Bibelvers der Woche 40/2019. Gott verspricht, sich die Stadt und ihre Einwohner anzusehen, aus der Mikroperspektive. Zwei Engel Gottes besuchen die Stadt, Lot lädt sie ein, bei ihm zu speisen und zu nächtigen. 

An dieser Stelle steht der Vers. Hier soll ein Exempel statuiert werden, auch für den Leser. Deshalb macht die Bibel den Fall ganz klar: Die Einwohner der Stadt, ALLE ohne Ausnahme, versammeln sich um Lots Haus, um schreckliches Unrecht zu begehen: gemeinschaftlich wollen sie die beiden Engel des Herrn vergewaltigen. Dabei wird ganz irdisch das Gastrecht verletzt, mit einer sexuellen Aberration, welche die Bibel zutiefst verabscheut. Die Engel aber stehen stellvertretend für Gott selbst, daher ist das Vergehen nicht mehr zu steigern.

Obwohl Lot über das Wesen seiner Gäste im Unklaren bleibt, tut er alles — wirklich alles — das Gastrecht zu verteidigen, sein Schutzversprechen einzulösen. Er bietet der Meute als Ersatz seine beiden Töchter an, und macht sich dabei selbst schuldig. Die Städter wollen statt dessen über ihn, den Fremden herfallen, da ziehen die Engel ihn ins Haus und schlagen die Anwohner mit Blindheit. Im Schutz der Dunkelheit flieht die Familie: die Engel führen Lot, sein Weib und die beiden Töchter aus Sodom, bevor sie die Stadt mit Feuer und Schwefel vernichten, und später auch die umliegenden Siedlungen.

Der Vergewaltigungsversuch, von einer ganzen Stadt getragen, ist an sich vollkommen unplausibel. Die Geschichte hat Lehrcharakter und will nicht wörtlich verstanden werden. Die Aussage ist: Gott straft, wenn es zu viel wird, und er straft auch kollektiv. Dabei ist er gnädig, sieht auf das Verdienst und er gibt auch zweite und dritte Chancen, aber es gibt einen Punkt, an dem alles zu spät ist. Das ist im Vers der letzten Woche übrigens auch die Aussage des zweite Teils, über den ich nicht so viel gesprochen habe. Diese Aussage zieht sich nicht nur durch das Alte Testament — in einer großen Zahl apokalyptischer Bilder wird das Gericht auch im Neuen Testament ausbuchstabiert. 

Das Gericht ist unmodern geworden. Evangelische Theologen halten heute meist dafür, dass Gott sich aus der Geschichte herausgezogen habe und uns Menschen die Verantwortung dafür überlasse. Wie man früher hinter jedem Übel eine Sünde gesehen hat, die damit ihrer gerechte Strafe zugeführt wird, sieht man heute gern gesellschaftliche Missstände aller Art, nicht aber Gottes Wirken. 

Die Aussage der Bibel ist klar eine andere: Gott sieht, was geschieht und reagiert darauf. Geschichte entsteht in einem Wechselspiel der Aktionen Gottes und der Menschen. Auch die Bibel betont eine Verantwortung des Menschen, aber nicht direkt einer abstrakten Schöpfung oder „der“ Menschheit gegenüber, sondern konkret vor Gott. Diese Überzeugung hat sich in den beiden Katastrophen der Geschichte Israels gebildet, der Vernichtung erst des Nordreichs, und dann des Südreichs. Sie durchtränkt alle Fasern der jüdischen Bibel, deren Texte während und nach dem Exil kompiliert und redigiert wurden. Die Vernichtung Jerusalems und des Tempels durch die Römer hat die Sicht bestätigt, auch für die sich bildende christliche Kirche. 

Was ist wahr? Offen gestanden, ich weiss es nicht. Warum eigentlich sollte Gott permanent die Verletzungen seiner Gebote verfolgen? Tut er das wirklich? Das fragen oft auch die Psalmen. Sie fragen, weil das Gegenteil Unrecht wäre. Wenn Putin nun für seine Taten einfach ein gutes Leben hätte, in einem riesigen, königlichen Palast am Schwarzen Meer, dazu blendende Gesundheit und schöne Frauen? Werden nur manche Menschen bestraft, nicht aber alle? 

Uns muss klar sein, dass der christliche Glaubenskern — von der Gnade, die der Tod des Sohns für die erwirkt, die die Gnade annehmen — ausgesprochen sinnfrei ist, wenn es nichts gibt, das diese Gnade wichtig und not-wendig machte. Das Christentum ist eine Antwort auf die Vorstellung vom strafenden Gott. Die sozialdemokratische Vision Gottes verträgt sich nicht mit dem Bild des sterbenden Christus, er muß einen schrecklichen Fehler gemacht haben, er hat offenbar etwas ganz  Wichtiges nicht verstanden.

Noch einmal, wie ich hier sitze und schreibe, weiss ich es nicht. Zieht Gott uns zur Verantwortung? Um es an einem konkreten Beispiel festzumachen: ist Corona Ausdruck einer überzogenen Globalisierung und Interaktionsdichte, ganz hydraulisch sozusagen, oder steckt eine Botschaft darin? Eine Aufforderung? Lassen Sie uns mit dieser Frage in die nächste Woche gehen, ich glaube, die Antwort ist wichtig, auch wenn sie nur vorläufig, partiell und persönlich ist. 

Vielleicht hilft der folgende Test: ich selbst habe durchaus das Gefühl, ein Gegenüber zu haben, wenn ich über Corona nachdenke.

Gottes Segen sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 06/2020

Da sprach Mose zu Aaron und seinen Söhnen Eleasar und Ithamar: Ihr sollt eure Häupter nicht entblößen noch eure Kleider zerreißen, dass ihr nicht sterbet und der Zorn über die ganze Gemeinde komme. Lasst eure Brüder, das ganze Haus Israel, weinen über diesen Brand, den der HErr getan hat.
Lev 10,6

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Schuld und Sühne

Die Opfergesetze sind gerade gegeben, die ersten Opfer in der Stiftshütte der Vorschrift gemäß ausgeführt und angenommen worden, da laufen Nadab und Abihus nach vorn, zwei Söhne Aarons, des ersten Hohenpriesters und Bruders von Mose. Die jungen Priester gehören zu den ganz wenigen, die sich Gottes Stätte nähern dürfen. Sie halten sich aber an die neuen Regeln nicht: Vermutlich betrunken (Lev 10,9) bringen sie ein Räucheropfer dar, zum falschen Zeitpunkt, zu zweit statt einzeln und mit Feuer vom heimischen Herd statt vom Altar. Da geschieht es: ein Feuer geht aus vom Herrn und „verzehrt sie“, gerade so wie im Abschnitt vorher das Opfer angenommen wurde.

Mose ist vollkommen hermetisch. Er sagt seinem Bruder Aaron, dass mit der besonderen Nähe zu Gott besondere Pflichten einhergehen, dass sich Gott heilig zeigen kann auch gegen seine Diener, wenn diese ihre Pflichten nicht erfüllen, so jedenfalls verstehe ich Vers 3. Und in Vers 6, dem gezogenen Vers, verlangt er von seinem Bruder, der schweigend dasteht und es nicht fassen kann, dass er und die verbliebenen Söhne Eleasar und Itamar auf die üblichen Trauerrituale gänzlich verzichten sollen, da sie im Dienste des Herrn stehen. Weil Trauer als Bekundung von Missfallen gedeutet werden könnte? An Aarons Stelle soll das Volk um Nadab und Abihus trauern.

Es fällt mir schwer, über diesen Abschnitt zu schreiben, und ich war versucht, ihn unkommentiert zu lassen. Ich weiß nicht, ob richtig ist, was ich schreibe.

Es geht hier konkret um das Verhalten derjenigen, die stellvertretend für das Volk Gottes sich ihrem Gott nahen durften, für die Handlung allergrößter Intimität, dem Opfer. Das Heilige, Gott zugehörige, musste streng vom Unheiligem geschieden bleiben. Im Judentum unterscheidet man zwischen Geboten, die Verhältnis zwischen Menschen und Gott regeln und solchen, die das Verhältnis der Menschen untereinander betreffe. In der Thora ist die erste Gattung die wichtigere. Eine beachtenswerte jüdische Interpretation des Neuen Testaments besagt, dass Jesus, ohne die Gebote zu ändern, die Reihenfolge ihrer Wertigkeit vertauscht habe.

Ein Gesetz wurde gegeben und mutwillig und für alle sichtbar gebrochen. Die Strafe erfolgt sofort und mit maximaler Härte. Was Gott hier tut, entspricht nicht den Bildern, die wir uns machen, um die Präsenz einer unendlichen Macht in unserer Nähe ertragen zu können. Es ist nicht väterlich — man muss es sich versuchsweise als Handlung eines realen Vaters vorstellen. Es ist auch nicht gütig, barmherzig, gnädig, geduldig (2. Mose 34,5). 

Vor einiger Zeit habe ich ein Video gesehen. Marshall B. Rosenberg, der Schöpfer des Konzepts der gewaltfreien Kommunikation, sprach darüber, wie gewalttätige Sprache entstanden ist. Vor viertausend Jahren, sagt er, entwickelten Menschen in Palästina die Vorstellung, dass Fehlverhalten „Schuld“ bedeute, die von Gott gesühnt werde. Damit, sagt er, ist es buchstäblich lebensgefährlich, an irgendetwas „schuld“ zu sein, und Menschen werden alles tun, Schuld von sich selbst abzuwälzen und beim anderen zu suchen. Ich habe seither oft beobachten können, wie real die Angst ist, mit der das geschieht. Vielleicht dachte Rosenberg auch an diese Bibelstelle? 

In der Bibel, zumal im Alten Testament, ist oft die Rede davon, dass Gott eine strafende Handlung bereut oder bereuen könnte. Im Zusammenhang mit einem allmächtigen und allwissenden Gott ist das eigentlich eine sonderbare Vorstellung, aber ich halte sie für wichtig. So etwas muss es geben, wenn Gebete helfen können, wenn das Gespräch mit Gott etwas bewirkt. Ich frage mich nun: Hat es Gott gereut, was damals geschah? 

Die Bibel gibt darauf keine direkte Antwort, aber vielleicht einen Hinweis. Am Ende des Abschnitts erstarrt die Szene vollkommen. Mose macht Aaron Vorhaltungen, er habe das Opferfleisch entgegen der Vorschrift nicht gegessen und hält einen Vortrag über die Kategorien, um die es dabei geht. Aaron antwortet, es habe ein Sündopfer und ein Brandopfer gegeben, und nun sei geschehen, was geschehen sei — wie habe er nun von den Opfern essen können? Nun schweigt auch Mose, der Text vermerkt dies ausdrücklich. Aarons Söhne sind ja zu Sündopfern geworden.

Die Szene endet in völliger Hilflosigkeit. Sie erinnert jedoch assoziativ an den Opfertod Jesu, das ganz große Bild in der Bibel, das wir immer noch nicht in Gänze verstehen. Ich bewege mich auf schwierigem Grund: können wir den Tod des Sohns so lesen, dass Gott selbst ein Opfer bringen wollte? 

Die Gnade des Herrn sei mit uns in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 19/2019

Nimm die Summe des Raubes der Gefangenen, an Menschen und an Vieh, du und Eleasar, der Priester, und die obersten Väter der Gemeinde; …
Num 31,26

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Herz der Finsternis

Wenn ich einen Vers ziehe, gibt es einige Abschnitte in der Bibel, vor denen ich mich fürchte. Dieser hier gehört nun dazu. 

Der Herr befiehlt Mose kurz vor dessen Tod einen Rachefeldzug gegen die Midianiter, ein Wüstenvolk, den Arabern verwandt. Die Israeliten überfallen die Midianiter mit 12.000 Kriegern und töten alle Männer, deren sie habhaft werden können. Sie nehmen die Habe der Überfallenen; Frauen und Kinder lassen sie zunächst leben. Mose zürnt — gerade die midianitschen Frauen hätten doch das Unglück über die Israeliten gebracht. Also werden auch die Knaben getötet sowie alle Frauen, „die schon einen Mann erkannt und bei ihm gelegen hatten“. Nur die Mädchen bleiben am Leben. Es sind 32.000. Das erlaubt einen Blick auf die Zahl derer, die nicht überlebt haben.

Genozid also, knapp und präzise geschildert. Von Gott selbst angestoßen und von seinem Erzpropheten organisiert. Der gezogene Vers steht am Beginn der buchhalterisch genauen Regelung für die Teilung der Beute: der geraubten Mädchen, Tiere und Wertgegenstände. Von allem geht die Hälfte an die kämpfende Truppe, von diesem Teil wiederum steht ein festgelegter Satz dem Herrn zu — Gott wird als Kämpfer eingestuft. Er erhält zwei Promille aus der Hälfte, also ein Promille der Gesamtheit, darunter ausdrücklich 32 Mädchen. Die andere Hälfte geht an das ganze Volk, davon wiederum ein Teil an die Priester. 

Was den Anteil Gottes betrifft, so hat mich meine Hebräisch-Lehrerin davon überzeugt, dass es nicht um Menschenopfer geht, sondern dass „Trumah“ hier eine Art Abgabe ist. Das Wort kann zwar ein Opfer bezeichnen, Menschenopfer aber waren explizit verboten, und die in der Auflistung gleichfalls dem Herrn zugeführten Esel sind unreine Tiere, also für Opferhandlungen ungeeignet. 

Auch so aber ist das beschriebene Geschehen alptraumhaft genug. Woran können wir uns halten? Die Schilderung der Wüstenwanderung als ganze ist sicher nicht „historisch“. Dennoch mag es Bezüge zu realen Ereignissen geben. Auch in Richter 6-8 wird von einem Krieg zwischen den Israeliten und den Midianitern berichtet, der für letztere verheerend ausging. Und wann und wie auch immer der Text in das Buch Numeri gelangte, aus einer älteren Vorlage oder aus mündlicher Tradition: dem damaligen Redakteur und seinen Lesern erschien er „richtig“ — er entspricht dem Bild des Schreibers und seiner Leser von Gott und der eigenen Geschichte. Davon jedenfalls können wir sicher ausgehen. 

Dabei hat der Feldzug etwas eigentümlich Selbstzerstörerisches. Die Midianiter unterschieden sich in ihrer nomadischen Lebensweise von den Israeliten nicht. Man kannte sich gut. Die Völker waren verwandt, auch die Midianiter galten als Abkommen von Abraham. Mose war seinerzeit aus Ägypten nach Midian geflohen, hatte dort Zippora, eine Midianiterin, geheiratet, und sein Schwiegervater Jethro war midianitischer Priester — vermutlich sogar Priester des Herrn, denn er wohnte am Gottesberg. Die Begegnung mit Gott am Dornbusch hatte Mose, als er Jethros Schafe hütete. Jethro half Mose bei der Organisation des wandernden Volks. Später sollte Bileam, ein Prophet, die Israeliten im Auftrag der midianitischen Könige verfluchen, aber der Fluch geriet dem Volk zum Segen. Noch später (4. Mo 25) ließen sich Midianiterinnen mit den Israeliten ein. Das erregte den Zorn Gottes. 

Sonderbar also: die Völker waren verschwägert und es ist sogar denkbar, dass die Israeliten den Namen ihres Gottes bei den Midianitern kennengelernt haben: die Erzählung vom brennenden Dornbusch, von Jethro, dem Priester, und der Offenbarung am Berg Horeb deuten darauf hin. Wie mag Zippora das Massaker aufgenommen haben, wie Jethro? 

Wie kann man damit umgehen? Gott ist ewig und immer gleich. In dieser Ewigkeit ist er aber für uns nicht erkennbar. Was wir erkennen, sind Bilder von Gott. Diese Bilder sind nicht ewig, sondern wandelbar, wie wir Menschen. Sie haben viel mit uns selbst zu tun. Das ist legitim: wir sind nach seinem Bilde geschaffen, also ist sein Bild in uns.

Im Angesicht dieses furchtbaren Texts ist es verführerisch zu sagen, dass die alten Bilder eben falsch seien. Wissen wir, ob unser Bild heute richtig ist? Wer so verfährt, liest in der Bibel gern nur noch dasjenige, was glatt durch die Filter des Zeitgeistes geht — und das ist nicht eben viel. Die Warnung aus dem BdW der vergangenen Woche (2019 KW 18) vor selbst verfertigter Religion ist hier am Platz. Vielleicht ist es daher besser, einen größeren Abstand einzunehmen und die Bilder zu betrachten, als Bilder eben, nicht als eigentliche und ewige Wahrheit. 

Wir sind nach Gottes Ebenbild geschaffen, also ist sein Bild in uns. Ich habe einen Dominikanermönch sagen hören, er liebe es deshalb so sehr, Menschen zu beobachten, weil sich in allem was sie sind und tun, Eigenschaften des Göttlichen widerspiegeln. Er sagte das mit einem Lächeln, das um den Abgrund weiß. In der Tat: wenn wir und die Welt Gottes Werk sind, verhält sich alles Geschaffene irgendwie zu ihm. Auch die dunklen Seiten, auch die allerschwärzesten. Irgendwie ist alles enthalten und impliziert in dem, was selbst unerkennbar bleibt. 

In diesem Sinne ist der Abschnitt, in dem der Vers enthalten ist, eine Reise in die Finsternis in unseren eigenen Herzen. In Joseph Conrads „Heart of Darkness“ ist eine solche Reise am Ufer des Kongo angesiedelt; eine sehr bekannte Verfilmung spielt im Vietnamkrieg. Joseph Conrads Erzählung kulminiert in Bildern, die denen aus dem Midianiterfeldzug gleichen. 

Ich schreibe diese Zeilen am 2. Mai, dem israelischen Holocaust-Gedenktag, Jom Ha’schoa. Vielleicht ist das ein Schlüssel. Das „wahre“ Bild gibt es nicht, das wäre ein Widerspruch in sich. Was ist, wenn wir eine Verantwortung tragen für diejenigen Bilder des Unkenntlichen, die wir übernehmen, entwickeln, und wirksam werden lassen — in uns und dann auch in der Welt? Die Vielfalt der Bilder zulassen, sehen, begreifen, sich aber dann zu entscheiden und dabei Mitschöpfer werden? Geht das, ohne sich Religion selbst zu verfertigen?

Ich wünsche uns eine Woche, in der die Finsternis in unseren Herzen keine Macht über uns hat.
Ulf von Kalckreuth