Bibelvers der Woche 19/2021

Wenn ein Ochse einen Mann oder ein Weib stößt, dass sie sterben, so soll man den Ochsen steinigen und sein Fleisch nicht essen; so ist der Herr des Ochsen unschuldig.
Ex 21,28

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Haftung — in Exodus und im BGB 

Achtung: in dieser Woche wird’s juristisch, aber trotzdem ziemlich spannend, finde ich! In den Büchern Exodus, Leviticus und Numeri finden sich Elemente nicht nur für ein eisenzeitliches Strafrecht, sondern auch für ein Zivilrecht. Unser Vers steht im „Bundesbuch“, unmittelbar im Anschluß an die zehn Gebote. Es wird die Frage geregelt, ob und unter welchen Umständen der Besitzer eines Rinds für einen etwaigen Personenschaden haftet, den das Tier anrichtet. Erstaunlicherweise ist die Antwort aus dem Buch Exodus im wesentlichen dieselbe wie im modernen BGB. Hier noch einmal unser Vers, gemeinsam mit den beiden darauf folgenden (28-30).

Wenn ein Rind einen Mann oder eine Frau stößt, dass sie sterben, so soll man das Rind steinigen und sein Fleisch nicht essen; aber der Besitzer des Rindes soll nicht bestraft werden. Ist aber das Rind zuvor stößig gewesen und seinem Besitzer war’s bekannt und er hat das Rind nicht verwahrt und es tötet nun einen Mann oder eine Frau, so soll man das Rind steinigen, und sein Besitzer soll sterben. Will man ihm aber ein Lösegeld auferlegen, so soll er geben, was man ihm auferlegt, um sein Leben auszulösen.

Der Besitzer haftet nicht, wenn er seinen Sorgfaltspflichten nachkommt. Verletzt er diese jedoch, so wird er zur Verantwortung gezogen. In der Torah ist bekanntlich grundsätzlich ein Leben der Preis für ein Leben, aber oft — und in diesem Fall sogar explizit — ist als Ersatz die Zahlung eines Lösegeldes möglich. Das Rind aber wird in jedem Fall getötet (gesteinigt), und sein Fleisch darf nicht gegessen werden. Ersteres verhindert, dass der Vorfall sich wiederholt und letzteres, dass der Eigentümer den ihm dadurch entstehenden wirtschaftlichen Schaden durch Verkauf oder Verzehr mindern kann. 

Und hier die entsprechende Norm im BGB: 

§ 833
Haftung des Tierhalters

(1) Wird durch ein Tier ein Mensch getötet oder der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist derjenige, welcher das Tier hält, verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. (2) Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Schaden durch ein Haustier verursacht wird, das dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt ist, und entweder der Tierhalter bei der Beaufsichtigung des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet oder der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde.

In Deutschland haftet grundsätzlich der Eigentümer für die „Tiergefahr“, und zwar verschuldungsunabhängig, es gilt Gefährdungshaftung. Absatz (2) schränkt diese für den Eigentümer sehr ungünstige Regel allerdings auf sog. Luxustiere ein, die ohne wirtschaftlichen Hintergrund gehalten werden, z.B. Haushunde. Für Nutztiere, deren Haltung wirtschaftlichen Zwecken dient, gilt hingegen die Regel aus Exodus: wenn der Halter die Sorgfaltspflichten beachtet, ist er frei, wenn nicht, ist er ersatzpflichtig. Die Unterscheidung soll die gewerbsmäßige Haltung von Tieren, insbesondere in der Landwirtschaft,  von den unkalkulierbaren wirtschaftlichen Risiken bei Gefährdungshaftung freistellen. Anders als der Eigentümer eines Luxustieres kann der Landwirt die Tiergefahr nicht ganz vermeiden, will er seinen Beruf nicht aufgeben. 

Es ist spannend zu sehen, dass die „Privilegierung“ der Landwirte modernen Juristen ein Dorn im Auge ist. In einem einschlägigen Fall ließ das OLG Schleswig im Jahr 2008 eine Revision beim BGH zu, weil §833(2) möglicherweise den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes verletze. Die Besserstellung von Landwirten werde in der Literatur als unzeitgemäß betrachtet, diese könnten sich schließlich versichern — hier ein Link.

Die jüdische Schriftgelehrsamkeit zählt 613 Ge- und Verbote (Mitzwot) auf, die aus den Texten der Torah folgen, hier ist ein Link zur Liste von Maimonides. Unser Vers kommt in dieser Liste gleich zweimal vor: Als Verbot, vom Fleisch des gesteinigten Rinds zu essen (#189), und als Gebot an die Richter, den Fall gebührend zu untersuchen (#463). Auf Maimonides und die Bibel kann der OLG Schleswig sich in seinem Kampf gegen unzeitgemäße Privilegien also nicht berufen. So sah es 2009 auch der BGH: er verwies den Fall an das Oberlandesgericht zurück, weil es in seiner Entscheidung versäumt habe zu prüfen, ob der beklagte Landwirt die erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt habe. Dies, statt der Erwägungen zum Gleichheitsgrundsatz, wäre seine Aufgabe gewesen. 

In der Sammlung von Maimonides sind viele der Mitzwot direkt als Forderung an Richter und Gerichte formuliert. Sollen Gesetze wirksam sein, muß es Menschen geben, die sie durchsetzen. Die neuere ökonomische Forschung zeigt, dass Rechtsstaatlichkeit einen großen Teil des Unterschiedes zwischen armen und reichen Ländern ausmacht. Die Bibel sieht das Gesetz als „Gottesgabe“, und unser Vers mag uns daran erinnern.

Der Herr behüte uns in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 04/2021

Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.
Joh 3,36

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Nur Gott weiß, wie…!

Aus Joh 3 haben wir schon in der letzten Woche gezogen. Das ist bemerkenswert. Laut Wikipedia hat die christliche Bibel (ohne die Apokryphen) 1189 Kapitel in 66 Büchern. Die Wahrscheinlichkeit, dass man zweimal hintereinander aus demselben Kapitel zieht, beträgt also — wenn alle gleich lang wären — rund 1/1200.  So etwas geschieht im Durchschnitt alle 23 Jahre.

Auch inhaltlich schließt der gezogene Vers eng an den der letzten Woche an, obwohl der Kontext ein ganz anderer ist. Der Vers wird gesprochen von Johannes dem Täufer. Dieser äußert sich hier ein letztes Mal zu Jesus. Jesus gewinnt Jünger, mehr als Johannes, und diese Jünger taufen viele Menschen. Die Jünger des Johannes wenden sich besorgt an ihren Meister. Was ist davon zu halten? Johannes betont noch einmal, dass er selbst nicht der Christus ist, sondern dass er den Christus verkündet. Der vom Himmel kommt, so sagt er, ist über allen. Der Sohn sagt, was er gesehen hat, und sein Zeugnis nimmt auf Erden niemand an. Wer es doch annimmt, der besiegelt die Wahrhaftigkeit Gottes, eine Entsprechung zu Joh 1,11f. Dann schließt Johannes seine Worte mit dem gezogenen Vers. 

Ganz wie in der letzten Woche: der Mensch erzeugt seine Realität selbst durch die Glaubensentscheidung. Das Licht kommt in die Welt und an ihm schieden sich die Geister. Gott schafft in Christus einen Weg aus der Verstrickung in Schuld. Wer den Weg geht, ist frei, wer ihn nicht geht, bleibt unter dem Zorn des Herrn. So einfach. Und so schwierig.

Denn was ist aus dem Gesetz geworden? Hat es sich aufgelöst? Genügt es, an den Christus zu glauben und alles ist gut?

Der Vers ist hier, in der Lutherbibel 1912, mißverständlich übersetzt. Das Wort „glaubt“ taucht zweimal auf. Beim ersten Mal steht im griechischen Original pisteuein, das bedeutet ‚glauben‘ im Sinne von ‚vertrauen‘, es steht für eine Haltung, nicht für Meinung. Bei der zweiten Nennung steht apeithon, ’nicht gehorsam sein‘, und so gibt es auch die Einheitsübersetzung wieder, ebenso wie die Lutherbibel 2017. Es geht also darum, Jesus zu folgen, seine Lehre ernst zu nehmen und den Versuch zu machen, sie im eigenen Leben umzusetzen. Jesus fordert Nachfolge, auch wenn das heute politisch unkorrekt klingt, siehe auch Joh 8,51.

Jesus hat eine hohe Affinität zum mosaischen Gesetz. Dabei destilliert er die Essenz, und die Essenz ist ihm wichtiger als der Wortlaut. Er ruft dazu auf, in eigenen Leben Platz zu schaffen, den Bedürftigen zu geben, er fasst das Gesetz im Liebesgebot zusammen: Gott zu lieben über alles und den Nächsten wie sich selbst. Das ist nicht jedermanns Sache. 

Nun tauschen aber die Jünger Jesu nicht einfach einen Kodex gegen einen anderen, in mancher Hinsicht schwierigeren. Der Vers spricht die rauhe Sprache des Täufers, aber sein Kern ist die Heilszusage:, die Frohe Botschaft: Wenn du es ernst meinst und Jesus folgst, so wirst du versuchen, seinen Weg zu gehen. Dabei wirst du immer wieder scheitern und in die Irre gehen. Kläglich gar oder lächerlich. Aber Gottes Gnade macht, dass du doch dein Ziel erreichst. Nur Gott weiß, wie…!

Ja. Diese Gnade des Herrn sei mit uns in dieser Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 53/2020

Er hat von Angesicht zu Angesicht mit euch aus dem Feuer auf dem Berge geredet.
Dtn 5,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Theophanie

Wenn wir beten, sprechen wir aus, was wir von Gott wollen. Aber was will Gott von uns? Auf diese Frage stoße ich zur Zeit immer wieder, auch in mir selbst.

Der Vers erinnert daran, dass Gott selbst es uns gesagt hat und zwar direkt und unmittelbar, so dass es jeder hören konnte. Vom Berg Sinai aus hat Gott dem Volk Israel die zehn Gebote verkündet. Danach waren die Israeliten so mit Angst erfüllt, dass sie die weitere Auseinandersetzung mit dem mächtigen und unheimlichen Gott dem Mose überliessen — er sollte mit Gott sprechen und seinen Willen weitergeben. Die zehn Gebote aber waren von Gott dem Volk unmittelbar verkündet. Ex 20 und Dtn 5 enthalten leicht unterschiedlichen Fassungen. Hier ist Dtn 5, 6-21 aus der Lutherbibel 2017:

Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Du sollst dir kein Bildnis machen in irgendeiner Gestalt, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist. Du sollst sie nicht anbeten noch ihnen dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.
Den Sabbattag sollst du halten, dass du ihn heiligst, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Rind, dein Esel, all dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt, auf dass dein Knecht und deine Magd ruhen gleichwie du. Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst und der Herr, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm. Darum hat dir der Herr, dein Gott, geboten, dass du den Sabbattag halten sollst. 
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat, auf dass du lange lebest und dir’s wohlgehe in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird. 
Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht ehebrechen.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Acker, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was sein ist.

Gott erscheint und spricht. Nicht zu einzelnen, die sich dann Fragen zu ihrer geistigen Gesundheit gefallen lassen müssten, sondern zu allen gleichzeitig, so dass jeder seinen Nachbarn fragen kann, ob er dasselbe gehört hat. Und dass auch in Zukunft kein Zweifel aufkommt, schreibt Gott das Gesprochene eigenhändig auf zwei Steintafeln, als Bundesurkunde. Noch stärker lässt sich die Bedeutung dieser Gebote nicht unterstreichen. Die Tafeln wurden in der Bundeslade getragen und im Allerheiligsten zunächst der Stiftshütte, später des Tempels aufbewahrt. Sie standen für die Gegenwart Gottes selbst. Im Tempel wurden sie jeden Morgen rezitiert. Viele der Ge- und Verbote in den fünf Büchern Mose lassen sich unmittelbar aus den zehn Geboten ableiten. Die zehn Gebote sind Kern auch der christlichen Ethik, so unklar sonst auch das Verhältnis zum mosaischen Gesetz ist. Jesus nennt sie ausdrücklich als Voraussetzung für ein gottgefälliges Leben (Mk 10,19) und er zitiert sie immer wieder einzeln. Das Doppelgebot der Liebe kann als Zusammenfassung der zehn Gebote betrachtet werden.

Die zehn Geboten sind uns direkt gegeben, ohne jede Vermittlung. Wenn man sich fragt, was denn eigentlich Gott von uns will, geben sie eine gute, praktische, aber auch verbindliche Antwort. Vielleicht ist es nicht für die ganze Antwort, aber wie immer diese lauten mag: die zehn Gebote sind ein wichtiger Teil. Die Beziehung mit Gott ist ein Bund, und ein Bund hat zwei Seiten. In den Tagen, seit ich den Vers gezogen hatte, habe ich sie jeden Morgen gelesen, sozusagen als Morgengebet.

Heute ist Weihnachten. Das Jahr endet und ein neues beginnt. Worauf kommt es an, worauf soll es ankommen? Ich wünsche uns schöne Feiertage und eine gute und ruhige Woche bis zum Jahresende, in Gottes Schutz,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 41/2020

Wer bei einem Vieh liegt, der soll des Todes sterben.
Ex 22,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Der Weg des Gesetzes

Der Vers ist eine typische Mitzwah, eine Bestimmung der Torah. Im Judentum bestimmen die fünf Bücher Mose die Regeln für ein gottgefälliges Leben — Gott hat seinem Volk gesagt, welchen Weg es gehen sollen. Diese Regeln sind eine Gnadengabe Gottes am Sinai, in ihrer Gesamtheit beschreiben sie einen Heilsweg. Rabbinische Gelehrte zählen in den fünf Büchern Mose insgesamt 613 Bestimmungen: 248 Gebote und 365 Verbote. Die Mitzwot haben oft keinen im engeren Sinne religiösen Charakter, sondern regeln Fragen des Lebens, die in modernen Gesellschaften unter das Zivilrecht, das Strafrecht, das Familienrecht oder die Sozialgesetzgebung fallen könnten. Unter diesem Link finden Sie die Auflistung der Mitzwot nach Maimonides, dem großen jüdischen Religionsgelehrten des Mittelalters.

Die rabbinische Tradition hat Prinzipen entwickelt, diese Gebote auszulegen und auch das zu regeln, wofür es keine ausdrücklichen Bestimmungen gibt. Die 613 Mitzwot spannen damit einen normativen Raum auf, der das Gottgefällige vom Sündigen unterscheidet. „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (3. Mose 19,2). Die Befolgung der Mitzwot ist eine lebenspraktische, tägliche Übung, die uns näher zu Gott bringen und an seiner Seite halten sollen. 

Daraus ergibt sich unmittelbar, wie unser Vers als Mitzwah zu lesen ist: Du bist ein Mensch, sollst heilig sein und dich nicht selbst zum Tier machen.

Die Haltung der christlichen Kirchen zur Torah und den Mitzwot ist nicht einfach zu verstehen. Die Torah wurde nicht in Gänze übernommen und verbindlich gemacht — Paulus legt dar, dass der Versuch, sich durch Befolgung aller Gebote das Heil zu sichern, in die Irre führen muss. Die jüdischen Speisegebote etwa haben im Christentum keine Geltung, die Gebote zu den Feiertagen nur ansatzweise. Aber auch ein Leben mit und aus Christus braucht am Ende Wegweiser und Jesus selbst verweist oft auf die Torah. Die zehn Gebote und das Doppelgebot der Liebe sind Kern christlicher Ethik. Und mit ihnen wurden viele Wertungen des Judentums übernommen, anderes wurde ergänzt. Der Weg des Gesetzes wird auch im Christentum gegangen, bei den Katholiken mehr als bei den Protestanten, und das richtige Maß ist bis heute Stein des Anstoßes. 

Die Wertungen der Torah zur Sexualethik wurden im Christentum vollständig übernommen. Paulus verweist auf sie als Ganzes, vgl. den BdW 2018/42. Viele davon sind auch heute vertraut und natürlich — die Bestimmungen zum Verkehr unter Verwandten etwa oder das Verbot, die eigene Tochter zu Hurerei anzuhalten — aber es sind darunter auch Bestimmungen wie die folgende (Lev 20,15):

Wenn jemand bei einem Mann schläft wie bei einer Frau, so haben sie beide getan, was ein Gräuel  ist, und sollen des Todes sterben; ihre Blutschuld komme über sie. 

Die Strafbarkeit von Sodomie wurde in der alten Bundesrepublik 1969 aufgehoben, wegen Bedeutungslosigkeit. Im Jahr 2012 wurde Sodomie wieder verboten — als Ordnungswidrigkeit im Rahmen der Tierschutzgesetzgebung. Eine Verfassungsbeschwerde zweier Sodomisten wegen Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung scheiterte im Jahr 2016. Der Schutz des Tiers habe seinerseits Verfassungsrang. 

Noch einmal zurück zum Weg des Gesetzes. Ich bin tief gespalten. Sodomie mag in unserem Leben keine Rolle spielen. Der Vers und sein Umfeld illustrieren aber, dass der Weg des Gesetzes keine Autobahn ist, einfach zu fahren und schnelle Verbindung zum Ziel. Wir steinigen keine Ehebrecher (Lev 20,10) und wir töten keine Zauberinnen (Ex 22,19). Ich habe nicht gelernt, ein Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert nach Regeln aus der Eisenzeit zu führen. Um das tun zu können, mit einem akzeptablen Ergebnis, braucht man eine lange und ganzheitliche religiöse Erziehung. Dazu muss gehören, die Bestimmungen als Richtschnur für das eigene Leben anzunehmen, nicht aber als Basis für das Urteil über andere. Auch verstehe ich die Warnung Paulus‘ vor den Fallstricken der Gesetzlichkeit gut.

Aber die Torah kann Gottes Willen erhellen wie ein Schlaglicht! Nur zwei Beispiele: den Vers der Woche 41/2018 — aus demselben Abschnitt wie der Vers dieser Woche vor genau zwei Jahren — und den Vers der Woche 48/2019. Wie will man darauf verzichten?

Wenn nun Gott sich uns Menschen zweimal in Gnade zugewandt hat: mit seinem Gesetz und mit dem Erlöser, seinem Sohn, und wenn dieser Erlöser immer und immer wieder auf das Gesetz verweist — wie schön wäre es dann für mich, genauer zu wissen, was denn Gottes Wille in meinem Leben ist! Nicht alles ist ja so leicht zu entscheiden wie die Frage, ob Sodomie einen Platz darin hat… 

Heute ist Tag der Deutschen Einheit und Sukkot, das Laubhüttenfest. Der Herr möge mit uns sein!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 40/2020

…auf dass die Gerechtigkeit, vom Gesetz erfordert, in uns erfüllt würde, die wir nun nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist.
Röm 8,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Treffpunkt Tod

Harter Stoff. Aber bleiben Sie bei mir, vielleicht lohnt es sich! Der Vers ist ein Fragment — hier ist der vollständige Satz im Wortlaut der Übersetzung von 2017:

Denn was dem Gesetz unmöglich war, weil es durch das Fleisch geschwächt war, das tat Gott: Er sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verdammte die Sünde im Fleisch, damit die Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, in uns erfüllt werde, die wir nun nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist

Der Vers und sein Kontext gehören zum Kern christlichen Glaubens. Ich will, was da steht, zunächst mit meinen Worten wiedergeben. Das Angebot Gottes, die Menschen mit seinem Gesetz zu sich zu führen, läuft auf unserer Seite ins Leere. Ein Leben nach der Thora ist mit der Natur des Menschen unvereinbar. Es gelingt ihm auch dann nicht, wenn der Geist willig ist. Der Mensch braucht eine neue Natur — er muss sein „fleischliches“  Wesen, wie Paulus es nennt, gegen ein „geistiges“ Wesen tauschen, gegen ein Leben aus dem Geist Gottes. Die frohe Botschaft ist, dass Gott seinen Geist denen schickt, die er liebt. Dafür sandte er seinen Sohn: in der Gestalt des Fleischs, selbst aber Träger des Geistes.

Für diejenigen, die aus dem Geist leben, wird das Gesetz irrelevant, als Weg zu Gott ist es nicht nötig. Dennoch muss es — Gesetz Gottes — erfüllt sein. Die Lücke füllt der Tod Jesu am Kreuz. Mit diesem Tod werden Fleisch und Sünde verurteilt und hingerichtet. Wir können unser Leben vom Geist leiten lassen. Der Weg ist frei. Pfingsten! Ein Bild, so groß, dass einem der Kopf zerreißen will. 

Der Vers selbst lässt offen, wie das Gesetz durch den Tod Jesu ultimativ erfüllt wird. Der Wortlaut bezeichnet eine Art stellvertretende Sühne. Paulus unterscheidet den fleischlichen vom geistigen Aspekt der menschlichen Wirklichkeit. Jesus — ganz Geist — wird Fleisch und empfängt in dieser Gestalt das Urteil für alles Fleisch, obwohl er selbst frei von Sünde ist. Andernorts, bei Paulus selbst und bei Johannes, wird der Tod Jesu spezifisch als Opfer interpretiert. Der Tod Jesu Christi, des Gottessohns, war das ultimative Opfer: ein Opfer dargebracht von einem Menschen und zugleich von Gott selbst. 

Das ist ganz harter Stoff. Für die Menschen damals: Johannes 6,48ff berichtet von der entsetzten Reaktion der Zuhörer, als Jesus das Opfer in der Synagoge von Kapernaum ankündigte. Und auch für die Menschen heute: Wie etwa vermittelt man den Opfertod im Kindergottesdienst? In ihrer Kritik an der „Opfertheologie“ ziehen progressiv denkende evangelische Theologen das ganze Bild in Zweifel — Gott in seiner Größe und unerschöpflichen Liebe könne ein Menschenopfer gar nicht „wollen“, und in seiner Allmacht die Entsühnung auch ohne Opfer bewirken. Heilsnotwendig könne dies Opfer nicht gewesen sein. 

Ich bin nicht Theologe und die Auseinandersetzung mit dem Diskurs fällt mir wirklich schwer. Ich erkenne aber, dass dies das Narrativ ist, das Christen zu allen Zeiten angenommen haben. In der Wirklichkeit der Menschen so vieler Generationen hatte der Tod Jesu diese ungeheure Bedeutung. Auch für Jesus selbst, nach dem Zeugnis der Evangelien. Das Narrativ ist geglaubte Wahrheit — wie will man es nun verschieben? Man mag sich dann fragen, wie alles so falsch laufen konnte, wenn der Tod Jesu keine Erlösungstat war — was würde uns das über Gott sagen? Wie kämen wir denn damit zurecht, dass der Tod Jesu sinnlos gewesen wäre? Warum musste der Messias gehen, kaum dass er gekommen war? 

Vielleicht sollten wir an die eigentliche Bedeutung des Opfers im Judentum denken. Es geht dabei nur in sehr speziellen Fällen um Schuld und Sühne. Im Vordergrund steht immer Kommunikation und Gemeinschaft mit Gott. Siehe die Betrachtung zum Bibelvers der Woche 43/2018. Ganz so, wie auch das Gesetz seinem Wesen nach zu Gemeinschaft mit Gott führen soll. Gesetz und Opfer liegen tatsächlich nahe beieinander. 

Jesus stellt für uns die Gemeinschaft mit Gott her. So verstehe ich Paulus und Johannes. Für uns und mit uns findet er das Licht dort, wo es nicht dunkler mehr werden kann, im abgründigen Nichts. Treffpunkt Tod. Gott hat dieses Opfer nicht verhindert, wie er die Opferung Isaaks durch Abraham verhindert hat. Statt dessen hebt er die Folgen auf, in einer Weise, die den Naturgesetzen spottet. 

Morgen ist Jom Kippur. Mögen wir alle im Buch des Lebens eingeschrieben sein!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 06/2020

Da sprach Mose zu Aaron und seinen Söhnen Eleasar und Ithamar: Ihr sollt eure Häupter nicht entblößen noch eure Kleider zerreißen, dass ihr nicht sterbet und der Zorn über die ganze Gemeinde komme. Lasst eure Brüder, das ganze Haus Israel, weinen über diesen Brand, den der HErr getan hat.
Lev 10,6

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Schuld und Sühne

Die Opfergesetze sind gerade gegeben, die ersten Opfer in der Stiftshütte der Vorschrift gemäß ausgeführt und angenommen worden, da laufen Nadab und Abihus nach vorn, zwei Söhne Aarons, des ersten Hohenpriesters und Bruders von Mose. Die jungen Priester gehören zu den ganz wenigen, die sich Gottes Stätte nähern dürfen. Sie halten sich aber an die neuen Regeln nicht: Vermutlich betrunken (Lev 10,9) bringen sie ein Räucheropfer dar, zum falschen Zeitpunkt, zu zweit statt einzeln und mit Feuer vom heimischen Herd statt vom Altar. Da geschieht es: ein Feuer geht aus vom Herrn und „verzehrt sie“, gerade so wie im Abschnitt vorher das Opfer angenommen wurde.

Mose ist vollkommen hermetisch. Er sagt seinem Bruder Aaron, dass mit der besonderen Nähe zu Gott besondere Pflichten einhergehen, dass sich Gott heilig zeigen kann auch gegen seine Diener, wenn diese ihre Pflichten nicht erfüllen, so jedenfalls verstehe ich Vers 3. Und in Vers 6, dem gezogenen Vers, verlangt er von seinem Bruder, der schweigend dasteht und es nicht fassen kann, dass er und die verbliebenen Söhne Eleasar und Itamar auf die üblichen Trauerrituale gänzlich verzichten sollen, da sie im Dienste des Herrn stehen. Weil Trauer als Bekundung von Missfallen gedeutet werden könnte? An Aarons Stelle soll das Volk um Nadab und Abihus trauern.

Es fällt mir schwer, über diesen Abschnitt zu schreiben, und ich war versucht, ihn unkommentiert zu lassen. Ich weiß nicht, ob richtig ist, was ich schreibe.

Es geht hier konkret um das Verhalten derjenigen, die stellvertretend für das Volk Gottes sich ihrem Gott nahen durften, für die Handlung allergrößter Intimität, dem Opfer. Das Heilige, Gott zugehörige, musste streng vom Unheiligem geschieden bleiben. Im Judentum unterscheidet man zwischen Geboten, die Verhältnis zwischen Menschen und Gott regeln und solchen, die das Verhältnis der Menschen untereinander betreffe. In der Thora ist die erste Gattung die wichtigere. Eine beachtenswerte jüdische Interpretation des Neuen Testaments besagt, dass Jesus, ohne die Gebote zu ändern, die Reihenfolge ihrer Wertigkeit vertauscht habe.

Ein Gesetz wurde gegeben und mutwillig und für alle sichtbar gebrochen. Die Strafe erfolgt sofort und mit maximaler Härte. Was Gott hier tut, entspricht nicht den Bildern, die wir uns machen, um die Präsenz einer unendlichen Macht in unserer Nähe ertragen zu können. Es ist nicht väterlich — man muss es sich versuchsweise als Handlung eines realen Vaters vorstellen. Es ist auch nicht gütig, barmherzig, gnädig, geduldig (2. Mose 34,5). 

Vor einiger Zeit habe ich ein Video gesehen. Marshall B. Rosenberg, der Schöpfer des Konzepts der gewaltfreien Kommunikation, sprach darüber, wie gewalttätige Sprache entstanden ist. Vor viertausend Jahren, sagt er, entwickelten Menschen in Palästina die Vorstellung, dass Fehlverhalten „Schuld“ bedeute, die von Gott gesühnt werde. Damit, sagt er, ist es buchstäblich lebensgefährlich, an irgendetwas „schuld“ zu sein, und Menschen werden alles tun, Schuld von sich selbst abzuwälzen und beim anderen zu suchen. Ich habe seither oft beobachten können, wie real die Angst ist, mit der das geschieht. Vielleicht dachte Rosenberg auch an diese Bibelstelle? 

In der Bibel, zumal im Alten Testament, ist oft die Rede davon, dass Gott eine strafende Handlung bereut oder bereuen könnte. Im Zusammenhang mit einem allmächtigen und allwissenden Gott ist das eigentlich eine sonderbare Vorstellung, aber ich halte sie für wichtig. So etwas muss es geben, wenn Gebete helfen können, wenn das Gespräch mit Gott etwas bewirkt. Ich frage mich nun: Hat es Gott gereut, was damals geschah? 

Die Bibel gibt darauf keine direkte Antwort, aber vielleicht einen Hinweis. Am Ende des Abschnitts erstarrt die Szene vollkommen. Mose macht Aaron Vorhaltungen, er habe das Opferfleisch entgegen der Vorschrift nicht gegessen und hält einen Vortrag über die Kategorien, um die es dabei geht. Aaron antwortet, es habe ein Sündopfer und ein Brandopfer gegeben, und nun sei geschehen, was geschehen sei — wie habe er nun von den Opfern essen können? Nun schweigt auch Mose, der Text vermerkt dies ausdrücklich. Aarons Söhne sind ja zu Sündopfern geworden.

Die Szene endet in völliger Hilflosigkeit. Sie erinnert jedoch assoziativ an den Opfertod Jesu, das ganz große Bild in der Bibel, das wir immer noch nicht in Gänze verstehen. Ich bewege mich auf schwierigem Grund: können wir den Tod des Sohns so lesen, dass Gott selbst ein Opfer bringen wollte? 

Die Gnade des Herrn sei mit uns in dieser Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 21/2019

Liebe Brüder, so ein Mensch etwa von einem Fehler übereilt würde, so helfet ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest.
Gal 6,1

Hier ist der Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gesetz und Geist

Noch einmal Paulus. Der Vers kann für sich selbst stehen, ich muss nicht viel schreiben. Er steht am Ende des Galaterbriefs, einer sehr engagierten, streckenweise enttäuschten Diskussion über den Wert der Gesetzlichkeit bei den Christen, speziell denen „aus den Völkern“. Bei den Galatern gibt es Bestrebungen, nun doch den ganzen Weg zu gehen, sich beschneiden zu lassen, die jüdischen Feiertage und Speisegebote einzuhalten, im Ergebnis: Juden zu werden, um so Jesus von Nazareth besser nachfolgen zu können. Zur Zeit Jesu und danach war dies möglich und üblich. Nun war Paulus Mission vor allem unter Proselyten erfolgreich, Nichtjuden also, die in der Nähe jüdischer Gesetzlichkeit lebten. Paulus ist von der Vorstellung regelrecht entsetzt. Nicht die Gesetzlichkeit macht gerecht, sondern der Glaube allein. 

Nun bleibt der Glaube aber nicht folgenlos. Paulus stellt das „Fleisch“ gegen den „Geist“. Die Werke des Fleisches sind „Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Hader, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Spaltungen, Neid, Saufen, Fressen, und dergleichen“, und weiter: „Die solches tun, werden das Reich Gottes nicht erben“. Die Frucht des Geistes* aber ist „Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit“. Ohne den Geist bedarf es des Gesetzes zum Schutz vor den Werken des Fleisches. Mit dem Geist aber ist das Gesetz nicht nötig — eine Krücke, die man wegwerfen kann. 

Das ist eine schöne Vorstellung, an die ich gern denke. Aber wir sind (noch) keine Lichtwesen, und die genannten Werke des Fleisches sind auch unter Christen nicht unbekannt. Dann also doch: Verfehlung — gegen ein Gesetz, das zwar weniger spezifisch ist, aber nichtsdestotrotz unbedingte Beachtung verlangt? Ja. Aber. An diese Stelle gehört der Vers. Der Fallende braucht Hilfe von außen, und zwar von Leuten, die um ihre eigene Gefährdung wissen und nicht eifern. Es folgt der bekannten Spruch: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi (!) erfüllen“. Hier ist nicht materielle Bedürftigkeit gemeint, sondern moralische Last.

Ich habe diesen Vers sofort „vorab“ einem Pastor geschickt, dem ein Kollege gesagt hatte, er müsse in der Gemeinde nun endlich einmal mit eisernem Besen auskehren. Ich glaube, darüber hat Paulus gesprochen.

Eine Woche mit Geduld, sine ira et studio, wünscht uns
Ulf von Kalckreuth

*Siehe auch Eph 5,8-9: „Wandelt als Kinder des Lichts, die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit“ — der Taufspruch meiner älteren Tochter.

Bibelvers der Woche 23/2018

Das ist’s, was der HERR gebietet den Töchtern Zelophehads und spricht: Laß sie freien, wie es ihnen gefällt; allein daß sie freien unter dem Geschlecht des Stammes ihres Vaters,…
Num 36,6

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Kulturelle Evolution in der Eisenzeit

Der Vers steht am Ende des 4. Buchs Mose. Die vereinigten Stämme liegen am Ostufer des Jordan gegenüber der Stadt Jericho, bereit, in das Heilige Land einzufallen. Die Truppen sind gezählt (vgl. den Vers der Woche 18/2018), das noch zu erobernde Land ist zur Hälfte verteilt, Regeln für die Behandlung von Tötungsdelikten sind aufgestellt, sogar Freistädte sind benannt, in welche Totschläger (nicht: Mörder) vor ihren Verfolgern fliehen können… 

Und dann, im letzten Abschnitt des vierten Buchs, gibt es noch recht unspektakuläre Dinge zu regeln. Im gezogenen Vers geht es um die Fortsetzung eines Falles, dessen Studium in Abschnitt 27 begonnen wurde. Dort war vor Mose das Problem gebracht worden, dass ein verdienter Mann namens Zelophehad ohne Söhne gestorben war — was soll nun mit seinem Erbe geschehen? Zwar hatte er keine Söhne, aber vier Töchter. Mose sprach im Namen des Herrn, dass den Töchtern ein eigenständiges Erbrecht zukomme: das Erbe Zelophhad solle also nicht an weiter entfernte männliche Verwandte gehen, was offenbar die relevante Alternative gewesen wäre. 

In Abschnitt 36 nun wird die Fallstudie fortgesetzt: Wenn nun aber die erbberechtigten Töchter Männer aus einem fremden Stamm heiraten, so falle diesen das Erbe zu und der Stamm Manasse verliere Land, argumentieren die Ältesten. Hier gibt es zwei Rechtsprinzipien, die zu achten sind: zum einen soll jedem Stamm auf alle Zeit das seine bleiben — das war durch eine große Zahl von Regeln abgesichert, zu denen auch der Schuldenerlass gehörte, siehe den Vers der Woche 15/2018. Zum anderen ging das Eigentum der Frau in das Erbe ihres Mannes über, auch dies ein nicht verhandelbares Prinzip. 

Mose Antwort im Namen des Herrn ist durchaus jüdisch: die Prinzipen werden geachtet, aber gangbare Wege werden gesucht. Der gezogene Vers enthält die Lösung. Die Töchter haben (offenbar entgegen älterer Auffassungen) ein eigenes Erbrecht. Dann müssen sie auch mit Einschränkungen leben. Sie können frei heiraten, allerdings muß der Erwählte ein Mann aus dem eigenen Stamm sein. So bleibt das Erbe des Stammes erhalten.

In der biblischen Geschichte ist der Text im 13. Jhd. v. Chr. angesiedelt, seine heutige Form hat er spätestens im 6. Jhd. erhalten. Kulturgeschichtlich entstammt er der ausgehenden Eisenzeit. Mir fallen drei Dinge auf. Erstens: Frauen waren mitnichten rechtlos. Oftmals haben im AT die Rechte von Frauen den Charakter von Schutzrechten, wie sie heute dem Bürger gegenüber dem Staat zustehen, nicht jedoch hier. Zweitens: Die in den beiden Abschnitten 27 und 36 gezeigte Rechtsentwicklung mutet verblüffend modern an. Es gab allgemeine Prinzipien. Diese stießen auf konkrete Probleme, in denen sich Widersprüche zeigen. Die aufgefundene Lösung ist dann Synthese und Präzedenzfall, und wird Ausgangspunkt für die Beurteilung der nächsten Probleme etc., ähnlich wie im englischen Recht. Dynamisch und offen — kulturelle Evolution. Drittens: In der Torah, den fünf Büchern Mose, die die Gesetze des Judentums enthalten, geht es nicht nur um Religiöses im heutigen, engeren Sinne. Hier sind unterschiedslos auch Staatsrecht und Zivilrecht Thema, die Schublade „religiös“ scheint nicht zu existieren.

Außer Rechtsetzungen aller Art enthalten Torah und Bibel Ethik, Folklore, Märchen und Legenden, Lieder, Gebete, Geschichtsschreibung, philosophische Diskurse, Propaganda — und immer wieder persönliche und kollektive Begegnung mit Gott. Bei all ihrer normativen Kraft hat sie etwas vertrauenerweckend anarchisches. Kästchendenken ist ihr völlig fremd. Das hält sie lebendig, jung und kraftvoll, wenn die Kästchen um sie herum zusammenbrechen und neue an ihre Stelle treten, die ihrerseits nur von begrenzter Dauer sind… 

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 20/2018

… denn du sollst keinen andern Gott anbeten. Denn der HErr heißt ein Eiferer; ein eifriger Gott ist er. 
Ex 34,14

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Der Vers steht im Buch Exodus und sein erster Teil gehört zum ersten Gebot: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ (Ex 20, 2f).

Das Gebot wird hier wiederholt, und der Grund dafür ist kein günstiger. Während Moses auf dem Berg Sinai die zehn Gebote und viele weitere Weisungen empfängt, bedrängen die Israeliten seinen Bruder Aaron. Sie sind verunsichert wegen der langen Abwesenheit Moses, ihres einzigen Mittlers zum Herrn und wollen etwas Handgreifliches für die Kommunikation mit ihrem Gott. Aaron lässt sie ein goldenes Kalb gießen. Auf dem Berggipfel berichtet Gott dem Mose von den Geschehnissen. Er will das Volk verstoßen und stattdessen Moses zu einem großen Volk machen. Moses nutzt – wie vor ihm schon einmal Abraham – seine besonderen Beziehungen zum Herrn und erinnert ihn an seine Versprechungen. 

Als Moses mit Josua vom Berg Sinai herunterkommt, tanzen sie gerade um das Kalb. Moses zerschlägt die Tafeln. In einem Zornesausbruch lässt er die Leviten 3000 Volksangehörige töten. Es kommt dann zu einem Moment der großen Intimität zwischen ihm und Gott – dieser lässt Moses seine Herrlichkeit schauen. Mose kehrt zurück zum Berggipfel, um den Herrn dazu zu bewegen, wie versprochen den Zug der Israeliten ins Heilige Land anzuführen. 

Wieder hat er zwei steinerne Tafeln dabei. Gott erneuert die Bundeszusage und gibt auch die Gebote aufs Neue. Aber er macht dabei eine Reihe von Feststellungen und Forderungen, die Grundlage sind für diese Erneuerung des Bundes. In dieser Reihung findet sich der Vers. Der erste Teil ist eine Wiederholung. Der zweite Teil ist eine Bekräftigung der besonderen Art. Es gibt einen alten hebräischen Namen für Gott – „El  Qana‘ “ אֵל קַנָּא  –  dessen wörtliche Bedeutung „eifernder Gott“ ist. Auf diesen seinen Namen beruft sich Gott hier. Eifer ist Teil der in seinem Namen festgelegten Identität Gottes.

Man könnte den Vers so schreiben: „Nach allem, was passiert ist, wiederhole ich: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Ihr seid mein Volk und ich bin euer Gott. Wenn ihr etwas anderes wollt – den Preis dafür werdet ihr nicht zahlen wollen. Ich stehe für mein Wort. Anders kann es nicht sein  – ich bin, der ich bin.“

Gott lässt sein Volk nicht fallen. Er erneuert den Bund, aber er verbindet es mit einer Drohung. 

Für Menschen der zweiten Jahrtausendwende hat diese Drohung etwas eigentümlich Tröstliches. Wir haben ja gar keine Furcht vor dem strafenden Gott. Unser Gott hat ein mildes, alles verzeihendes Gesicht. Unsere Angst gilt seit dem neunzehnten Jahrhundert dem gleichgültigen, dem abwesenden, dem nicht existenten Gott. Denn die alles verzeihende Milde sieht der Belanglosigkeit erschreckend ähnlich. Dass nun Gott zu seinem Wort steht und für sein Wort eifert, kann eine gute Nachricht sein.

Nur ein Gott, der sein Wort ernst nimmt, ist ernst zu nehmen. Das ist evident – es gilt sogar für Menschen. Aber wir sind mit diesem Vers auf dünnem Eis. Die beiläufig erzählte Ermordung von dreitausend Volksgenossen erinnert daran, worum es hier auch gehen kann.

Ich wünsche Euch eine gute Woche,
Ulf