Bibelvers der Woche 52/2023

Alle Köpfe werden kahl sein und alle Bärte abgeschoren, aller Hände zerritzt, und jedermann wird Säcke anziehen.
Jer 48,37

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Weihnachten? Weihnachten!  

Der letzte Bibelvers für dieses Jahr. Er spricht vom Fall Moabs. Vor fünf Jahren hatten wir mit BdW 44/2018 den herzzerreißenden Vers gezogen, der unmittelbar vorangeht und der BdW 14/2019 gibt gleichfalls tiefe Einblicke. Schauen Sie mal hinein.

Der gezogene Vers ist hart und kompromißlos. Das verhaßte Brudervolk, Moab, geht unter. Niemand kann es wenden und Gott wird nicht retten. An Versen dieser Tonlage ist die Bibel nicht arm, und wenn man zufällig zieht, kann man auch in der Weihnachtswoche einen erwischen. Das weiß ich, aber ich freue mich, wenn es einen Zweiklang gibt zwischen den großen Festen und ihren Versen, und häufig geschieht das auch. In der vergangenen Woche saß meine jüngere Tochter neben mir, als ich den Weihnachtsvers zog, und wir waren beide etwas enttäuscht, und sie sagte mir tröstend, dass ich doch wisse, dass die Bibel kein Orakel ist —  sie kennt das Wort nicht, aber das hat sie gemeint. 

Ja, das weiß ich. Die Bibel ist kein Orakel. Aber sie steckt voller Bezüge, innerhalb ihrer Texte, zu Gott und zu unserer Wirklichkeit. Und nach diesen Bezügen darf ich suchen. 

Der Prophet ist verzweifelt, aber der Untergang Moabs, das übergroße Leid seiner Einwohner, ist Realität. Der Bezug zu unserer Welt ist sehr deutlich zu sehen. Und dort, genau dort gehört Weihnachten hin! Unsere Welt ist gefallen. Gott kommt zu uns, weil sie gefallen ist, und weil nichts dies noch ändern kann. Gott wird Mensch, wird geboren, leidet mit den Menschen und stirbt schließlich von ihrer Hand einen entsetzlichen Tod. 

„Welt ging verloren, Christ ist geboren“. So heißt es im alten Lied, und eigentlich ist das zu schwach. Es müsste heißen: Christ ist geboren, weil die Welt verloren ging. Die gefallene Welt ist Voraussetzung für Weihnachten, Weihnachten ist gewissermaßen ihr Ausdruck. Weihnachten überwindet dies Fallen, ohne es aufhalten zu können. Jesus rettet die Welt nicht, er überwindet sie. Nicht umsonst feiern wir Weihnachten, wenn es kein Licht mehr gibt. Wenn man genau hinguckt, sieht man es: Sie umkreisen einander, die fallende Welt und ihr Weihnachtsstern.

Ein Zweiklang also, rauh und elementar! Ich wünsche uns allen ein frohes Weihnachtsfest, froh im freien Fall, trotz aller Feinde Toben, und viel Kraft für die Zeit, die vor uns liegt. 

Der Herr sei mit uns!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 29/2023

Dies ist die Last über Arabien: ihr werdet im Walde in Arabien herbergen, ihr Reisezüge der Dedaniter
Jes 21,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Eine volle Runde

Es ist etwas geschehen, auf das ich längere Zeit schon warte. Ich habe einen Vers gezogen, den wir schon einmal hatten: es war der BdW 49/2019!

Die Bibel mit all ihren Büchern ist ein sehr großer Text, und so scheint das fast unmöglich, aber wenn man darüber nachdenkt, ist es alles andere als das. In den letzten sechs Jahren, seit Beginn der Reise, habe ich 323 Verse gezogen. Der gesamte Korpus, die Lutherübersetzung (ohne Apokryphe), hat 31173 Verse. Während bei der zweiten Ziehung die Wahrscheinlichkeit, einen bereits gezogenen Vers noch einmal zu ziehen, bei verschwindenden 0,0032% lag, beträgt sie nun bereits mehr als 1 Prozent, und das Woche für Woche, und ständig weiter wachsend. Das Jahr hat 52 Wochen, irgendwann muß es also passieren. 

Das wusste ich vorher schon — schließlich bin ich Statistiker –, und ich hatte mir vorgenommen, den zweimal gezogenen Vers genau zu betrachten und nach Aspekten zu suchen, die ich übersehen hatte. Nun, was ich 2019 geschrieben hatte,, war schön und voll und fast poetisch. Ich kann dem nichts hinzufügen. Hier ist der Link:

BdW 49/2019

Eigentlich stand ich vor dem gleichen Problem schon in der letzten Woche. Da hatte ich zwar nicht exakt denselben Vers schon einmal gezogen, aber einen anderen, unmittelbar benachbarten, der dem gezogenen zum Verwechseln ähnlich sah.

Das Wort Gottes veraltet nicht und nutzt sich nicht ab. Pfarrer und Priester sprechen ihr ganzes Leben lang über dieselben Texte und gewinnen immer Neues daraus. Ich habe nun aber eine Sozialisation als Wissenschaftler durchlaufen, das schafft innere Vorbehalte gegenüber Wiederholungen. Und mein Horizont ist nicht weit genug, in denselben Versen immer mehr, immer neues zu sehen.

Nach sechs Jahren der Datenerhebung könnte nun aber die Zeit gekommen sein, die große Stichprobe auszuwerten. Ich möchte die Betrachtungen zu den 323 Versen gern kondensieren, zusammenstellen und den Rhythmus darunter suchen, die Melodie darin finden, vielleicht in Form eines kleinen Buchs. Das habe ich mir schon länger vorgenommen, aber die Energie zum letzten Schritt fehlte immer.

Ich werde also in den nächsten Monaten keine neuen Betrachtungen schreiben, ausser wenn es sehr wichtig scheint. Ich werde aber den Bibelvers der Woche weiter ziehen und die Website pflegen. Mit der gewonnenen Zeit will ich die Wegskizze finden, die meine Stichprobe vielleicht enthält.

Ich halte Sie auf dem Laufenden und wünsche uns allen eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 14/2023

Dies ist die Last über Damaskus: Siehe, Damaskus wird keine Stadt mehr sein, sondern ein zerfallener Steinhaufe.
Jes 17,1

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Zerfallende Steinhaufen…

Dies ist einer der sogenannten „Fremdvölkersprüche“. So nennt man Passsagen in den Büchern der Propheten, die sich aus dem engen Bezug zum Volk Gottes in den beiden Staaten Juda und Israel lösen und die Nachbarvölker in den Blick nehmen. Unser Vers ist der Einstieg in einen Abschnitt, in dem Jesaja den Untergang des Reichs Aram-Damaskus (Syrien) prophezeit — oder vielleicht auch kommentiert: die Ereignisse, von denen die Rede ist, haben zu seiner eigenen Zeit stattgefunden. Meine Bibel verweist auf die in 2. Kö 17 berichteten Geschehnisse, den ephraimitisch-syrischen Krieg. Auch das Jesajabuch spricht über diesen Krieg, in Kap. 7 und 8. Es geht um eine Kette aus Bündnissen und Gegenbündnissen, die schließlich das Ende aller schwächeren Beteiligten bedeuten.

Ich will es ganz kurz machen. Über Jahrhunderte existierten zwei Reiche nebeneinander her, in denen Gott der Herr verehrt wurde, das Nordreich Israel und das Südreich Juda — nicht besonders friedlich und manchmal offen kriegerisch gegeneinander, obwohl die Einwohner sich als Angehörige desselben Volkes betrachten. Im achten Jahrhundert v. Chr. verbündet sich das reichere und mächtigere Nordreich mit Aram-Damaskus (Syrien), einem selbständig gewordenen ehemaligen Vasallen. Die vereinten Armeen marschierten gegen die Hauptstadt des Südreichs, Jerusalem. König Ahas von Juda kann sich mit knapper Not halten. Er ruft das mächtige Assyrien unter Tiglat-Pileser III zu Hilfe, zahlt Tribute und gelobt Vasallentreue, um den Schutz des Assyrers zu erhalten. Tiglat-Pileser geht darauf ein und schlägt die Verbündeten vernichtend. Damaskus legt er in Trümmer und das Nordreich wird zu einem auf einen kleinen Kern reduzierten Vasallenstaat. Beide, Nord- und Südreich, sind nun im Orbit Assyriens.  

Das ist leider nicht das Ende. Das Nordreich versucht, mit Hilfe von Ägypten seinen Verpflichtungen zu entkommen. 722/20 v. Chr. fällt Assyrien im Nordreich ein und verschleppt die Einwohner Samarias und der umliegenden Gebiete. Ihre Spur verliert sich. Nicht viel später, im Jahr 705 v. Chr., hätte Juda um ein Haar dasselbe Schicksal ereilt. Auch der König in Jerusalem wollte mit Hilfe der Ägypter dem Würgegriff der Assyrer entkommen. Eine gewaltige assyrische Armee zerschlägt die Städte und Festungen Judas und belagert Jerusalem. Nur ein Wunder — möglicherweise eine Pest im Lager der Assyrer — kann die Verteidiger retten.

Recht betrachtet ist unser Vers also gar kein Fremdvölkerspruch. Assyrien ist in dieser traurigen Erzählung die große Krake, die alles verschlingt. Aber es sind Uneinigkeit und Taktieren der Kleinen, die ihr die Beute in die Fangarme treiben. Jesaja warnt Ahas eindringlich vor dem Gegenbündnis mit Assyrien. Aber vielleicht hatte der judäische König zu diesem Zeitpunkt bereits keine Wahl mehr. Damaskus macht den Anfang; am Ende ist die ganze Levante gefüllt mit Blut und zerfallenden Steinhaufen.

Eine frohe Botschaft sehe ich hier nicht. Der Herr lasse uns gerade durchs Leben gehen!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 03/2023

Ich will sie mit ihrem Trinken in die Hitze setzen und will sie trunken machen, dass sie fröhlich werden und einen ewigen Schlaf schlafen, von dem sie nimmermehr aufwachen sollen, spricht der HErr.
Jer 51,39

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Becher des Zorns

Ich glaubte schon, wir hätten diesen Vers bereits gesehen. Aber nicht dieser Vers, sondern sein unmittelbarer Nachfolger, Jer 51,40, hatten wir im vergangenen Frühling gezogen. Bitte gucken Sie kurz auf den Kommentar zum BdW 13/2022 — das wichtigste zum Kontext ist dort gesagt. Die beiden Verse, der frühere und der für diese Woche, gehören zusammen und auf der ersten Ebene machen sie dieselbe Aussage: Babylon, das Großreich, das Juda vernichtet und seine Bewohner deportiert hat, soll nun seinerseits vernichtet werden, das Werkzeug Gottes wird von Gott bestraft. 

Die Strafe, und das ist das Besondere hier, wird bewirkt durch Trunkenheit. Trunkenheit steht für Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit und die Ausschaltung des gesunden Empfindens. Das wird recht konkret beschrieben: In der größten Hitze setzen die Kämpfer sich nieder zum Trinken. „Hitze“ meint zweierlei: Die Lage der babylonischen Krieger ist zugespitzt und verzweifelt, aber auch die Lufttemperatur ist angesprochen. Hitze beschleunigt den Stoffwechsel, der Alkohol geht „schnell ins Blut“ und ein Mensch kann der aufsteigenden Trunkenheit nichts entgegensetzen. Im Augenblick größter Bedrohung also werden die babylonischen Krieger fröhlich und schlafen ein.

Das Motiv taucht auch in Jer 51,54 auf. In Kapitel 25 (15ff sowie 27ff) gebraucht Jeremia das Bild in verwandelter Form: die Völker des Großraums trinken reihum vom Becher des Zornes Gottes, zuletzt auch Babylon. Hier ist nicht mehr von physisch existierenden Kämpfern die Rede, es geht um Völker und ihre geschichtliche Schicksale in übertragener Form. Jesaja verwendet das Bild vom „Taumelbecher“ ganz ähnlich. In der Offenbarung (14,10 ff) steigert Johannes die Vorstellung des Zornestrunks noch einmal, er wird zum Teil des Weltgerichts,

Das sind keine angenehmen Bilder… Wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit, lautet eine Redewendung aus dem antiken Griechenland. In unserem Vers schlägt Gott die Babylonier mit Trunkenheit. Das erinnert mich an die Geschichte vom Turmbau zu Babel: dort werden die Babylonier durch Verwirrung der Sprache ausser Gefecht gesetzt. Vielleicht hat die Fähigkeit zur koordinierten militärischen Aktion eine besondere Stärke der babylonischen Streitkräfte ausgemacht? 

Der Herr bewahre uns die Fähigkeit, unser Unglück zu sehen und gemeinschaftlich das Notwendige zu tun. 
Ulf von Kalckreuth


Nachtrag: Seit Juni 2017 ziehe ich jede Woche einen Vers. Bislang sind es 292. Zusammengenommen ist das immerhin schon fast ein Prozent des gesamten Korpus der Lutherbibel 1912, rund 0,974%! So hoch ist derzeit die Wahrscheinlichkeit, einen der bereits gezogenen Verse ein zweites Mal zu ziehen. Ich warte schon eine ganze Weile darauf, dass dies geschieht. Aber wer kurz nachdenkt, sieht, dass die Wahrscheinlichkeit, so wie in dieser Woche den unmittelbaren Nachfolger eines der bereits gezogenen Verse zu ziehen, genau denselben Wert hat, fast ein Prozent…! So oder so, allmählich entsteht ein Bild, stark verpixelt noch, aber erkennbar

Bibelvers der Woche 44/2022

Und will das Recht gehen lassen über Moab; und sie sollen erfahren, dass ich der HErr bin.
Hes 25,11

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 1984.

Vom Verurteilen

Ein „Fremdvölkerspruch“ von Hesekiel. Moab, Edom und eine Reihe anderer Völker haben zum Untergang Judas beigetragen, und sie sollen, so wünscht und prophezeit es Hesekiel, ihre Strafe erhalten. Auf seiner Reise ist der ‚Bibelvers der Woche‘ schon einige Male auf Sprüche zu anderen Völkern gestoßen. Die Tonlage kann sehr unterschiedlich sein. Mal weint der Prophet über das Unglück, das er sieht, siehe die BdW 4/2018 und 44/2018 zu Moab, mal sieht er Israel gleichrangig im Verbund mit den großen Völkern, siehe BdW 17/2021 zu Israel, Assur und Ägypten, und mal steht Vernichtung im Vordergrund, wie in BdW 13/2018 und auch in diesem Vers.

Ich bin in einem interreligiösen Chor, genannt ‚Tehillim‘, nach dem hebräischen Wort für ‚Psalmen‘. Wir singen zur Zeit den Psalm 137, in unterschiedlichen Vertonungen, hebräisch, deutsch, lateinisch, englisch. Er beginnt mit den bekannten Worten „An den Wassern von Babel saßen wir und weinten…“ Der Psalm kreist um die Erfahrung der Hilflosigkeit im erzwungenen Exil, und die Bedeutung des Festhaltens an der eigenen religiösen Identität. Und dann, am Ende des Psalms, kommen diese Worte: 

HERR, vergiss den Söhnen Edom nicht, was sie sagten am Tage Jerusalems:
»Reißt nieder, reißt nieder bis auf den Grund!«
Tochter Babel, du Verwüsterin
wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast
Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt
und sie am Felsen zerschmettert!

Wie singt man das eigentlich? Es ist eine Vernichtungsphantasie, hier spricht der blanke Hass gegen die Eroberer, die den Exilanten ihre Lebenswelt nehmen, um ihnen die eigene aufzudrücken. 

Die Bibel ist nicht nur Wort Gottes. Sie ist Transkript eines Gesprächs Gottes mit den Menschen — vielen Menschen, verschiedenen Menschen. Menschen in sehr unterschiedlichen Lebenslagen, über vielen Hunderten von Jahren. Manche können verzeihen, andere nicht. In der Sprache der Musik ist das, was da gen Himmel steigt, nicht ein volltönender Akkord, sondern ein Cluster. Wenn ich Psalm 137 immer wieder lese und auch singe, verstehe ich den Menschen, der ihn geschrieben hat. Auch meine Familie wurde vertrieben, auch wir haben alles verloren. Seine Phantasie aber muß ich für mich nicht übernehmen

Gott will Recht über Moab sprechen, sagt Hesekiel. Es ist klar, welches Urteil der Prophet erwartet — immerhin aber bleibt offen, ob Gott nicht vielleicht zu einem ganz anderen Ergebnis kommt. Wer nicht selbst verurteilt werden will, sollte Verurteilungen anderer nicht herbeisehnen. Es gibt einen anderen Psalm, er singt die Worte: „So du willst, HERR, Sünde zurechnen — Herr, wer wird bestehen?“

Ich wünsche uns allen eine Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

P.S. : In wenigen Wochen, am 23. November um 19:30 Uhr, findet im jüdischen Gemeindezentrum von Frankfurt ein Konzert von „Tehillim“ zu Psalm 137 statt — hier ein Link.

Bibelvers der Woche 13/2022

Ich will sie herunterführen wie Lämmer zur Schlachtbank, wie die Widder mit den Böcken.
Jer 51,40

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017. 

Die Katastrophe nach der Katastrophe

Der Vers ist aus der Prophezeiung Jeremias zum Untergang Babylons. Sie ist datiert, und zwar auf das Jahr 3 der Regentschaft Zedekias, des letzten König Judas. König Zedekia ist Vasall Babylons und versucht sich in einem Ränkespiel gegen das Großreich. Juda bewegt sich auf einen Abgrund zu, und Jeremia warnt seine Landsleute mit immer schriller werdender Stimme — das ist das Leitmotiv des Buchs.

An dieser Stelle aber, lange noch bevor sich der Untergang Judas tatsächlich materialisiert, sieht Jeremia den Zusammenbruch Babylons. Der gezogene Vers beschreibt den blutigen Untergang der Armee. Eine Rolle mit den Worten dieser Prophezeihung lässt Jeremia an den Euphrat bringen und dort versenken, um sie in Kraft zu setzen.

Es ist nicht klar, wann dieser Text wirklich entstanden ist. Recht deutlich verweist er auf den Sieg der Perser über das babylonische Reich rund fünfzig Jahre später. In jedem Fall enthält er eine Botschaft, die in der Bibel immer wiederkehrt: alles trägt den Keim des eigenen Gegenteils in sich, der Anstieg des Pegels heute steht auch für die künftige Ebbe, und Gott allein ist Herr der Geschichte. 

Mir fällt der Krieg im Osten unseres Landes ein, der uns bedrückt. Auch Putin wird sein Ende finden. Bald vielleicht. Was kommt danach? 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 17/2021

Zu der Zeit werden fünf Städte in Ägyptenland reden nach der Sprache Kanaans und schwören bei dem HErrn Zebaoth. Eine wird heißen Ir-Heres.
Jes 19,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Heil im Unheil

Jesaja verkündet Heil und Unheil. Er prophezeit den Untergang beider hebräischen Reiche, aber er richtet das Augenmerk auch auf Gottes Gnade und Gottes Heil — von ihm stammen die ersten Visionen vom Messias und dem künftigen Reich Gottes. Dieser Dualismus von Heil und Unheil gilt für Jesaja nicht allein dem Gottesvolk, sondern der ganzen Erde. 

Wir haben aus einem spannenden Kapital gezogen. Jesaja 19 spricht über das Schicksal Ägyptens. Das Reich im Süden ist ein Pol für die wechselvolle Geschichte Israels. Der kulturelle und wirtschaftliche Austausch mit dem Großreich war stets von existentieller Bedeutung, militärisch war Ägypten manchmal Bedrohung, manchmal wertvoller Verbündeter. Und ebenso wie dem Gottesvolk wird Ägypten ein hartes Schicksal vorhergesagt, das in weitgehende Zerstörung mündet. 

Aber auch für Ägypten gibt es Gottes Heil und Gnade, und beim Lesen des Abschnitts meint man zu hören, wie Jesaja selbst sich wundert über das, was er sieht: „… der HERR wird Ägypten schlagen und heilen, und sie werden sich bekehren zum Herrn, und er wird sich von ihnen bitten lassen und sie heilen“. Jesaja sieht vor sich eine große Straße, die von Ägypten über Juda nach Assyrien führt, und die drei so ungleichartigen und oft verfeindeten Länder sind gleichwertige Partner: 

Zu der Zeit wird Israel der Dritte sein mit Ägypten und Assyrien, ein Segen mitten auf Erden; denn der HERR Zebaoth wird sie segnen und sprechen: Gesegnet bist du, Ägypten, mein Volk, und du, Assur, meiner Hände Werk, und du, Israel, mein Erbe! (Jes 19,24f)

Diese einzigartige Wendung wurde bereits im BdW 7/2019 kommentiert. Hier weitet sich der Blick des Alten Testaments von der Fokussierung auf das Gottesvolk hin zur Welt!

Und unser Vers steht genau an der Nahtstelle zwischen Heil und Unheil. Ägypten wird von Katastrophen heimgesucht, aber in sich selbst birgt es die Rettung: In fünf Städten gibt es große hebräische Kolonien. Dort wird Gott der Herr verehrt und sein Kult breitet sich aus im ganzen Land. Die Ägypter schreien zum Herrn und dieser sendet einen Erretter. 

Es ist ein Prozess der kulturellen Diffusion, den Jesaja hier vor sich sieht. In der Tat waren in späterer Zeit an mehreren Orten Ägyptens Hebräer ansässig. Und obwohl das Jerusalemer Zentralheiligtum einzigartig sein sollte, gab es mindestens zwei Tempel des Herrn in Ägypten, einen älteren in Elephantine und später einen anderen in Leontopolis, bei Heliopolis. Die Stadt Heliopolis wird in unserem Vers mit „Ir Heres“ explizit genannt, sie war eine Tempelstadt für den Sonnengott, ein zentrales Heiligtum der Ägypter am Ausgangspunkt der Karawanen zum Sinai. Ausgerechnet diese Stadt wird in Jesajas Vision zur Keimzelle für die religiöse Wende. 

Ägypten verlor im Lauf der Jahrhunderte in mehreren Krisen an Bedeutung und geriet unter fremde Herrschaft, zunächst der Ptolemäer, dann der Römer. Einen vernichtenden Zusammenbruch gab es dabei nicht. Tatsächlich aber betete in späteren Jahrhunderten ein Großteil der Bevölkerung Ägyptens zu Gott dem Herrn: Vor der Islamisierung im 7. Jahrhundert als Christen, und bis heute als Muslime.

Mich spricht die Ambivalenz an, die blaue Stunde zwischen Unheil und Heil, in der unser Vers sich bewegt. Das Unheil birgt in seinem Kern das Heil. So können wir die Welt betrachten — wenn wir es denn wollen. Und vielleicht ist das gar der Kern unseres Glaubens.

Ein anderer Vers Jesajas fällt mir ein: 

Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde. (Jes 43, 18f)

In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine gesegnete Woche,
Ulf von Kalckreuth

Blaue Stunde, 20. Feb 2021, Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 14/2019

Wie dürft ihr sagen: Wir sind die Helden und die rechten Kriegsleute?
Jer 48,14

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Vom Umgang mit Unglück — anderer und eigenem

Passionszeit — und wieder Jeremia, wie vor zwei Wochen. Der neue Vers ist aus der Weissagung des Propheten gegen Moab. Aus demselben Abschnitt hatten wir im vergangenen Jahr in der Woche 44/2018 einen anderen Vers gezogen. Die Textumgebung habe ich damals ausführlich beschrieben.

Jeremia steht unter enormem Druck, gleich doppelt. Juda ist dem Untergang geweiht. Der König hat sich verspekuliert — er hatte sich mit Ägypten verbündet, um sich der Oberhoheit der Babylonier zu entledigen, aber sein Bündnispartner erwies sich gegen Nebukadnezar als militärisch schwach. Nach der katastrophalen Schlacht von Karkemisch muss Ägypten sich weiträumig zurückziehen. Jeremia erkennt die Zeichen der Zeit nicht nur früh, er benennt sie auch sehr laut und sehr deutlich. Viel zu deutlich für die Herrschaft im immer weiter schrumpfenden, bald auf die Hauptstadt reduzierten Juda. Wie im eingeschlossenen Berlin muß das Leben in der Stadt sich angefühlt haben. Auf Jerusalem lastet der malmende Druck Nebukadnezars, auf Jeremia außerdem der Druck der verzweifelnden Führung. 

Jeremia sieht, dass auch Moab, Nachbar und Gegner des jüdischen Königreichs, dem Untergang der alten Ordnung anheimfallen wird. Das könnte etwas Entlastendes haben. Für ihn selbst, wie auch im seinem Verhältnis zur Umgebung, die ihm vorwirft, mit seinen Prophezeiungen das Unglück noch zu befördern, siehe den Text zum Vers der Woche 11/2019. Eine Prophezeiung gegen Moab wäre eine großartige Gelegenheit, die Solidarität mit dem eigenen Volk zur Schau zu stellen. 

Aber Jeremia lässt die Gelegenheit verstreichen und verzichtet auf jeden Triumph. Wie im Fall Judas sieht er den herannahenden Untergang Moabs als Folge von Sünde, von Verstrickung. Der Herr greift ein, um Seine Ordnung wieder herzustellen. Jeremia ist in anrührender Weise einfühlend, er leidet die Qualen des Feindvolks in einer Weise mit, dass sein Text expressionistisch-lyrische Qualitäten bekommt. Für einen antiken Schreiber unerhört. 

In Ergänzung zum Vers der vergangenen Woche kann man hier also darüber nachdenken, wie man sich zum Unglück anderer stellen möchte, derjenigen, die in ihren Verstrickungen unterzugehen drohen. In weiten Teilen der Bibel, insbesondere der Psalmen, ist die Antwort einfach: wenn es den Sündigen schlecht ergeht, wird die Welt besser. Das ist nicht nur psychisch entlastend. Die Wertung erklärt sich solidarisch mit dem strafenden Herrn des Himmels und der Erde, und was kann daran falsch sein? Jeremia stellt sich mit seiner Trauer nicht nur gegen das Sentiment seiner Umwelt, oberflächlich hat sie gar etwas Subversives im Verhältnis zu Gott. 

Aber Jeremia hat recht! Gott braucht unsere Solidarität in der Strafe nicht. Ganz und gar nicht. Jesus erklärt uns, dass wir nach dem Maß gemessen werden, mit dem wir andere messen. 

Der gezogene Vers selbst spricht eine sonderbare Warnung aus. Der in Frage gestellte Satz „Wir sind die Helden und die rechten Kriegsleute!“ wirkt eigentlich nicht besonders hochmütig oder verblendet. Selbstvertrauen ist für Soldaten ja nicht nur eine Tugend, sie ist notwendige Voraussetzung. Kämpfer müssen so zu sich sprechen, um kämpfen zu können — man stelle sich kurz vor, Soldaten würden sich vor der Schlacht das Gegenteil sagen. Es scheint, als hielte Jeremiah eben dies für verfehlt oder wenigstens für sinnlos — im Angesicht der unabwendbaren Katastrophe hat rituelles Aufpumpen keine positiven Wirkungen mehr. Es verstellt vielmehr den Blick auf die Wirklichkeit und kann dazu führen, dass die letzten Ressourcen auf sinnlosen Kampf gerichtet werden statt aufs Überleben. Im Vers geht es also um den Umgang mit eigenem Unglück: vor dem Unausweichlichen müssen wir die konventionelle, auf Vermeidung gerichtete Sicht aufzugeben und die Dinge so zu sehen, wie sie sind — das ist notwendige Bedingung für jedes sinnvolle Weiterleben. 

Schaut man noch genauer hin, so wird aus dem Textzusammenhang nicht klar, ob sich das „ihr“ wirklich an die imaginären moabitischen Truppen richtet oder nicht doch an die realen Zuhörer und Betrachter im eigenen Reich, das sich ja in derselben verzweifelten Lage befindet. Die Unbestimmtheit könnte volle Absicht sein. Liest man den Vers als an die eigene Adresse gerichtet, erschließt sich eine völlig neue Dimension — der Vers und der Abschnitt wären dann auch subversiv mit Hinblick auf die Führung von Juda, wehrkraftzersetzend gar. Wie eigentlich hat Jeremia das Verfassen derartiger Texte überlebt? 

Ich wünsche uns eine Woche, in der wir Zeichen der Zeit richtig sehen und klar benennen können.
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 13/2018

Fliehet, wendet euch und verkriecht euch tief, ihr Bürger zu Dedan! denn ich lasse einen Unfall über Esau kommen, die Zeit seiner Heimsuchung.
Jer 49,8 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Feindliche Brüder

Der Kontext ist derselbe wie in dem Jesaja-Vers in Woche 4 dieses Jahres. Die Zerstörung Jerusalems als Strafe für gottloses Verhalten ist wie angekündigt eingetroffen. Aber auch die Feinde Israels sind gottlos und sollen ihrer Strafe nicht entgehen. Im Jesaja-Vers aus Woche 4 ging es um Moab, ein alter Feind des Südreichs. Hier, bei Jeremia, geht es um einen anderen Erbfeind, Edom. 

Das Volk der Edomiter ist den Hebräern eng verwandt, auch sprachlich. Sie wohnen im Süden und Osten vom Salzmeer, im Gebirge. Ihr Gott Qaus ist dem Gott der Hebräer in vielen Aspekten ähnlich, so ähnlich, dass die hebräische Bibel die Religion der Edomiter vorsichtshalber nirgends explizit verurteilt, und an einer Stelle gar von Edom als einem Ort spricht, an dem der Herr sich zeigt. Das Buch Genesis führt die Edomiter auf Esau zurück, den Bruder Jakobs. In der Torah wird erzählt, dass die Edomitern den Kindern Israels auf ihrer Wüstenwanderung den Durchzug verweigerten. Die Nachkommen von Mischehen zwischen Juden und Edomitern waren daher bis in die vierte Generation von der Volksgemeinschaft ausgeschlossen. Das Brudervolk scheint aktiven Anteil an der Zerstörung des Südreichs und Jerusalem gehabt zu haben — seitens der Propheten gibt es dazu Verurteilungen.

Die Prophezeiung von Jeremia sind wie eine Kurzfassung der Prohezeiungen über Israel. Ein tröstlicher Aspekt ist hier angedeutet mit dem Satz (Jer 49,11) „Doch was übrigbleibt von deinen Waisen, denen will ich das Leben gönnen, und deine Witwen werden auf mich hoffen“. Tatsächlich verschwanden die Edomiter mit der Invasion der Babylonier nicht aus der Geschichte. Zur Zeit Jesu war Idumäa Teil des römischen Besatzungsgebiets, zu dem auch Judäa gehörte. 

Ich wünsche uns eine gute Woche — und ein frohes Osterfest
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 04/2018

Geschrei geht um in den Grenzen Moabs; sie heulen bis gen Eglaim und heulen bei dem Born Elim.
Jes 15,8

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Trauer

Jesaja  und Jeremia sind die beiden großen Propheten, deren Gottesbegriff die heutige komplexe jüdische und christliche Sicht vorbereiten. Was sie beschreiben, ist eine Zumutung.

Einerseits besteht Gott darauf, dass die mit dem Bund eingegangenen Verpflichtungen erfüllt werden und macht die angekündigten Sanktionen wahr. In dieser Hinsicht ist er berechenbar. Andererseits trauert er um sein Volk und versucht, auf der Grundlage von fast verbrannter Erde die Beziehung neu aufzubauen. Unter Bedingungen, die nicht klar sind, ebensowenig wie die zeitliche Verortung. Vergebung, Erlösung, Neuanfang, Umarmung, Trost, die elterliche Beziehung zu kleinen Kindern beschreiben diesen Aspekt. Und dies vor dem Hintergrund unsäglichen Leids, weitgehender Zerstörung und „Umwertung aller Werte“ in der Lebenszeit Jesajas und der mit ihm assoziierten Autoren. Der unüberbrückbare Spalt, der sich hier auftut, prägt Judentum und Christentum gleichermaßen.  

Auch die umliegenden Völker werden vom Untergang erfasst. Der vorliegende Vers ist aus der Prophezeiung des Untergangs Moabs, ein traditioneller Feind des Südreichs auf der anderen Seite des Jordans. Die beiden genannte Orte liegen im Norden (Elim) und vermutlich im Süden (Eglaim) von Moab, wahrscheinlich sind beides Quellen. Bemerkenswert sind die Verse 15,5 und 16,9-11: hier weint Gott, dessen Wort Jesaja wiedergibt, über die Vernichtung der feindlichen Moabiter, die doch er selbst ins Werk setzt. 

Gott sei mit uns in der kommenden Woche,
Ulf von Kalckreuth