Bibelvers der Woche 01/2020

In der Gegend des Jordans ließ sie der König gießen in dicker Erde, zwischen Sukkoth und Zaredatha.
2.Ch 4,17

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Den Tempel bauen

Die Abschnitte rund um den Vers handeln davon, wie König Salomo den Tempel baut. Er macht es natürlich nicht selbst. Hunderttausende arbeiten zeitweilig daran, wie berichtet wird. Unter anderem werden alle „Fremden“ herangezogen, von mehr als hundertfünfzigtausend wird berichtet, um im Gebirge die Steine für den Tempel zu hauen und nach Jerusalem zu bringen. 

Die Einrichtung des Tempels, Bronzegefäße, Leuchter, der Altar, das „Meer“, in dem die Priester sich wuschen, die Cherubim im Allerheiligsten, und so viel anderes mehr, stand unter der Aufsicht von Hiram aus Tyrus. Diesen Baumeister, Kunsthandwerker und Berater schickte der König von Tyrus seinem Verbündeten Salomo für das große Werk. Der König, gleichfalls Hiram mit Namen, machte das Werk auch durch umfangreiche Lieferungen von kostbaren Hölzern aus dem Libanon möglich. Seine Stellung in der biblischen Erzählung kontrastiert sonderbar stark mit dem, was Jesaja über einen späteren König von Tyrus schreiben wird, siehe den BdW 50/2019. 

Hiram, der Baumeister war nur mütterlicherseits Hebräer, sein Vater kam aus Tyrus. Für die Freimaurer ist Hiram eine Art Heiliger, der besondere Einsichten hatte, und ein besonderer Mensch muss er in der Tat gewesen sein. Das Opfer war Gemeinschaft mit Gott, der Ort dafür war der Jerusalemer Tempel, und um diesen Tempel kreisen die Schriften des Alten Testaments in fast schon obsessiver Weise. Und die Geräte, immer wieder einzeln aufgezählt, wurden geschaffen von einem Ausländer. 

Ich selbst befinde mich gerade laut Google Maps rund 1600 Meter Luftlinie von der goldenen Kuppel des Felsendoms entfernt. Dort stand vermutlich das Allerheiligste des Tempels, mit den zwei großen Cherubim, die Hiram schuf. Der Tempel ist Vergangenheit und doch auch nicht — irgendwie kreist diese Stadt weiter um das Areal. Für Juden ist er als geistiges Objekt höchst präsent, und für Muslime ist der Felsen unter dem Dom der Ort, auf dem die Welt gegründet ist. 

Es ist dies ein schöner Vers für den Beginn des neuen Jahres. Ich habe trotz Internetrecherche nicht verstanden, wozu beim Bronzeguss „dicke Erde“ oder „fester Lehm“ nötig ist. Manche Bibelübersetzungen, so auch die neue Lutherbibel, halten „dicke Erde“ (‚avi ha’adama) gar für einen Ortsnamen. Wie dem auch sei, wer einen Tempel einrichten will, braucht nicht nur Genie und fast unbegrenzte Ressourcen, sondern er muss sein Werk auch gut gründen, in dicker Erde eben. So ungefähr verstehe ich die Wendung.

Ich wünsche uns allen für das kommende Jahr dicke Erde genug, dass wir unsere Aufgaben und unseren Auftrag erfüllen können, was immer diese auch seien, und darin glücklich sind!
Jerusalem, 29. Dezember 2019, Ulf von Kalckreuth

Jerusalem Altstadt, Jahreswende 2019/2920
Jerusalem, Altstadt, Jahreswende 2019/2020

Bibelvers der Woche 52/2019

Ein Knecht aber des Herrn soll nicht zänkisch sein, sondern freundlich gegen jedermann, lehrhaft, der die Bösen tragen kann…
2. Tim 2,24

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Die „Bösen tragen“

Hier ist der letzte BdW in diesem Jahr. Er richtet sich an diejenigen, die Führungsaufgaben in der Gemeinde haben, im weiteren Sinne aber auch an jeden, der geistliche oder weltliche Führung übernimmt: nicht nur Politiker und Manager, auch Eltern, Lehrer und Leiter von Arbeitskreisen.  

Zum besseren Verständnis hier zunächst den vollständigen Satz in der Fassung von 2017: 

Ein Knecht des Herrn aber soll nicht streitsüchtig sein, sondern freundlich gegen jedermann, im Lehren geschickt, einer, der Böses ertragen kann und mit Sanftmut die Widerspenstigen zurechtweist. Vielleicht hilft ihnen Gott zur Umkehr, die Wahrheit zu erkennen und wieder nüchtern zu werden aus der Verstrickung des Teufels, von dem sie gefangen sind, zu tun seinen Willen.

Die Aufforderung enthält drei Elemente: 

  1. Wir sollen das, was wir gelernt und erfahren haben, weitergeben, in Paulus Worten: „lehrhaft“ sein. Unser Wissen und unsere Erfahrungen sind ein Schatz, den Gott uns anvertraut. Wir sollen den rechten Gebrauch davon machen 
  2. Wir sollen freundlich dabei sein, nicht „zänkisch“. Das steht mit Absicht sogar an erster Stelle. Und es ist schwer. Wenn ich von einer Wahrheit überzeugt bin und noch dazu den Auftrag habe, sie weiterzugeben — wie soll ich die Geduld bewahren, wenn andere nicht interessiert sind, nicht zuhören, nicht verstehen, gar spotten? Wie soll ich ruhig bleiben, wenn andere aus guten oder weniger guten Gründen das gerade Gegenteil behaupten?
  3. Das, was uns dennoch an Unwillen entgegenschlägt, sollen wir ertragen und standhaft bleiben. Auch das ist schwer. 

Ein Vers für mich, denke ich. Als ich ihn las, dachte ich nicht zuerst an Führung im Gemeindekontext, sondern an meine Rolle als Vater. „Lehrhaft“ bin ich, sicher, diesen Auftrag habe ich immer ernst genommen. Aber bei den anderen beiden Forderungen sieht es viel schlechter aus. Ich musste auch an meine Arbeit denken. Vor einigen Jahren bin ich an den Forderungen 2 und 3 gescheitert, weil für mich Forderung 1 über allem stand.

Da gibt es Rückkopplungen. Je schlechter es um Forderung 3 bestellt ist, umso schwerer ist Forderung 2 zu erfüllen. Und umgekehrt — je gereizter jemand auftritt, umso eher wird er Reaktionen ernten, die schwer zu verdauen sind. 

Wir müssen unsere Aufgaben ernst nehmen. Und ohne Freundlichkeit, und ohne die Fähigkeit, ungerechte und verletzende Reaktionen anderer zu ertragen, können wir sie nicht erfüllen. Das weiß jeder, der mit Kindern zu tun hat. Warum ist es denn dann so schwer? Wenn wir unfreundlich werden, und wenn wir uns zu leicht verletzen lassen, geht es eigentlich nicht mehr um unsere Aufgabe, sondern um unsere Eigenliebe. Ist sie verletzt, so hindert uns dies an allem anderen. Im Grunde lädt uns also Paulus ein, unsere Eigenliebe zu vergessen und NUR an die Aufgabe zu denken. Denn dann dienen ja die zweite und dritte Forderung der ersten, es gibt keinen Widerspruch und kein Problem! 

Aber ist das denn möglich? Ich selbst bin gescheitert, ich darf das fragen. Auch Paulus hatte seine Probleme. Bei Forderung 2 hilft uns, dass wir uns als Erlöste sehen dürfen. Wir müssen nichts beweisen, wir müssen nicht unbedingt recht behalten, wozu? Und Forderung 3 zu erfüllen ist dann nicht schwer, wenn und solange wir uns als Kinder Gottes sehen und den anderen auch. Und wenn es um das Wort Gottes geht, steht Forderung 1 für „Knechte Gottes“ über allem.  

So kann es gehen, aber man muss stark bleiben. 

So kann man die drei Forderungen auch in anderen Situationen erfüllen. Immer dann jedenfalls, wenn wir ehrlich überzeugt sind, dass die Aufgabe wichtiger ist als unsere Eigenliebe. Stellen wir fest, dass es nicht so ist, können wir uns guten Gewissens einer neuen Aufgabe zuwenden — wir müssen uns nicht allem zur Magd machen!

Es freut mich, dass ich das alte Jahr mit diesem Vers abschließen durfte. Ich wünsche uns eine gute Woche, in der wir freundlich sind zu jedermann und von anderen nichts Böses ertragen müssen. Und mitten darin in dieser Woche liege ein fröhliches Weihnachtsfest für alle! 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 50/2019

Und weil sich dein Herz erhebt, dass du so schön bist, und hast dich deine Klugheit lassen betrügen in deiner Pracht, darum will ich dich zu Boden stürzen und ein Schauspiel aus dir machen vor den Königen.
Hes 28,17

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Wer ist Luzifer? 

Der Abschnitt, in dem unser Vers steht, Hes 28, 11-19, ist schön und schrecklich zugleich. Vielleicht lesen Sie ihn erst einmal. 

Die ersten drei Jahre meiner Grundschulzeit war ich Schüler an einer katholischen Konfessionsschule, seinerzeit der einzige evangelische Schüler. Der Religionsunterricht wurde von Ordensschwestern erteilt. Sie erzählten mir eine Geschichte, die ich nie vergessen habe. Unter den Engeln Gottes war einer, der schöner und klüger war als die anderen, ein Engelfürst wie Michael und Gabriel. Sein Name war Luzifer, Morgenstern, „Lichtbringer“. Berauscht von seiner Schönheit und Klugheit wollte er mehr sein als die anderen, wollte er sein wie Gott. Er vermochte es, viele andere Engel auf seine Seite zu ziehen, und es kam zum Kampf unter den Engeln Gottes. Gegen Luzifer stritten Michael und seine Getreuen. Luzifer wurde überwunden und in die Hölle gestürzt, nun war er Satan und steht für die dunkle Seite der Welt. 

Die Geschichte ist wichtig. In der Nussschale erklärt sie, wie das Dunkle in die Welt kommt, obwohl Gott hell ist. Dass es real ist und mächtig, trotz Gottes Allmacht. Dass des Bösen Kraft aber nur vorläufig ist. Wie es verlockend sein kann und schön, auch beim dritten Hinschauen. Und selbstverständlich habe ich angenommen, dass die Geschichte in der Bibel steht. 

Aber dort steht sie nicht. Jedenfalls nicht im Buch Genesis, wo sie zu vermuten wäre. Als ich das irgendwann merkte, begann ich, sie zu suchen. Man erzählt sie sich überall bei den Christen, und sie wird auf drei Bibelstellen zurückgeführt. Eine davon ist Hes 28, aus der unser Vers stammt. Die beiden anderen sind Jes 14,12-14 und Off 12,3ff, der Kampf des Drachen mit den Engeln.

Aber sonderbar: der Text in Offenbarung bezieht sich auf die Endzeit, ist Apokalypse, nicht Genesis, er erzählt das Ende der Welt, nicht ihren Ursprung. Und die Texte von Jesaja und von Hesekiel behandeln lebende Menschen, Jesaja den König von Babylon, Hesekiel in unserem Vers den König von Tyros. Der Prophet stimmt sogar ein Klagelied für den König an, von Gott befohlen. Das wäre sehr viel „sympathy for the devil“, um es mit den Stones zu sagen. 

Recht betrachtet steht die Geschichte vom Höllensturz nicht in der Bibel. Aber wir kennen sie, und auch Johannes, Hesekiel und Jesaja könnten sie gekannt haben. Vielleicht haben sie die Geschichte bewusst genutzt, zitiert, um „ihren“ jeweiligen Gegenstand — die Endzeit und die Könige von Tyros und Babylon — zu beleuchten. In ihren Grundzügen wird sie im äthiopischen Henochbuch erzählt, dessen alte hebräische Fassung in Qumran aufgetaucht ist. Wenn es aber in unserem Vers nicht in erster Linie um Luzifer geht, um was dann? Es muss wichtig sein, Tyros empfängt mit drei Kapiteln bei Hesekiel enorme Aufmerksamkeit.

***

Zwei Szenen mit meinen Kindern. In der vergangenen Woche ging ich abends nach der Kinderoper mit Mathilde durch die Taunusanlage. Es war dunkel und die Hochhäuser ringsum waren hell erleuchtet und neigten sich wie Giganten über uns. Mathilde war begeistert von der blendenden Pracht. Ich auch, aber ich dachte an den Bibelvers und stellte mir vor, sie stürzten über uns zusammen. 

Meine ältere Tochter, Esther, hat mich in der vorvergangenen Woche in die Welt von Instagram eingeführt. Ich habe jetzt einen eigenen Account und kann sehen, wie Menschen sich und ihr Leben darstellen. Überall Ästhetik — manche stellen das dar, was sie sehen und wie sie es sehen, manche andere schamlos immer wieder sich selbst. Alles ausweglos hochselektiv. Die Accounts wachsen organisch und verweisen aufeinander, sind miteinander verflochten. Instagram und Facebook sind Teil der „echten“ Welt geworden, die Menschen leben darin und ein wenig auch dadurch. Auch hier lässt mich etwas nicht los: Was geschieht, wenn der Träger des Accounts stirbt? Seine Bilder, seine Kommentare, seine Nachrichten bleiben, was sie sind, sie wachsen nur nicht weiter. In der virtuellen Welt bleiben sie stehen, glänzend und schön, abgelöst von unserer Körperlichkeit. Wir entgrenzen.

Dann verstand ich, worauf ich Abschnitt und Vers beziehen kann. Der Text von Hesekiel passt auf uns, viel besser noch als auf die Menschen, die der Prophet selbst kannte. Nach den Maßstäben des Altertums sind wir von Engeln und Göttern kaum zu unterscheiden. Viele von uns jedenfalls. Das Internet, die sozialen Medien und der Flugverkehr machen uns fast allwissend und allgegenwärtig. Manche von uns richten ihr ganzes Leben auf diesen Feenglanz. 

Wenn wir uns vergessen und zu Göttern werden, gehen wir unter. Wie der König von Tyros und die Frau des Fischers im Märchen. Und könnte es nicht sein, dass auch die uralte Geschichte vom gefallenen Engel, die mir die Ordensschwester weitergegeben hat, eigentlich uns meint, schön und schrecklich zugleich, unentwirrbar, und die Kämpfe in unserem Inneren?
Ulf von Kalckreuth 

Mathilde vor der Alten Oper

Bibelvers der Woche 24/2019

Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen.
Joh 12,32

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten und das Reich Gottes

Der Countdown läuft. Sechs Tage vor dem Pessachfest, an dem er sterben würde, kommt Jesus nach Betanien und besucht Lazarus, den er von den Toten auferweckt hatte. Seine Schwester Maria salbt ihn mit unglaublich teurem Nardenöl. Am folgenden Tag zieht er unter dem Jubel der Menschen nach Jerusalem ein. Sie haben Palmzweige auf den Boden gestreut, wie für einen König, und rufen die Worte aus Psalm 118: Hosianna, gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn. Palmsonntag. Ich stelle mir einen strahlend hellen Tag vor. 

Jesus bekommt Angst vor dem, was in den nächsten Tagen auf ihn zu kommt. Er betet, aber es fehlen ihm buchstäblich die Worte. „Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde? Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen.“ Dann findet er sein Gebet: „Vater, verherrliche deinen Namen!“ Da kommt eine Stimme vom Himmel: „Ich habe ihn verherrlicht und will ihn abermals verherrlichen!“

Die Menschen um Jesus herum hören Donner. Jesus sagt den Menschen, dass ihnen dies gelte: jetzt in diesem Moment beginne die letzte Zeit, der Fürst dieser Welt werde nun hinausgestoßen. „Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen“. 

Es ist ein Vorgriff. Auf Jesu Tod, denn in Todesangst hatte Jesus gebetet, und Gott hat geantwortet. Johannes greift interpretierend ein und deutet das Wort „erhöht“ mit Blick auf das Kreuz: wie die Schlange von Moses erhöht wurde, um Heilung zu spenden. Aber man kann auch Auferstehung darin lesen, Himmelfahrt und das Königtum Jesus an der Seite seines Vaters. Also alles: Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten und das Reich Gottes auf Erden. 

Alle zu mir ziehen… Eine traumschöne Vorstellung. Ich kannte den Vers nicht, und als ich ihn las, legte er einen Lichtschalter in mir um. Erst nach einer Weile habe ich verstanden, warum. Mein eigener Taufspruch ist das zu diesem Vers gehörende Versprechen aus dem Alten Testament, Jeremia 31,3: „Der HERR ist mir erschienen von ferne: Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte“.

Alle zu mir ziehen… Jesus hat in zwei Welten gleichzeitig gelebt: bei uns und im Reich Gottes. In ihm hatte das Reich schon begonnen. Seit Pfingsten ist Jesus ebenso: nicht bei uns und doch anwesend. Und mit ihm können auch wir schon heute im Reich Gottes leben. Und zugleich in dieser Welt mit unseren Kindern.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle aufhören, Bibelverse zu ziehen?!

Ich wünsche uns eine frohe Pfingstwoche. 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 23/2019

Die ihr den HErrn liebet, hasset das Arge! Der HErr bewahrt die Seelen seiner Heiligen; von der Gottlosen Hand wird er sie erretten.
Ps 97,10

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gottes Schutz

Dieser schöne Vers stammt aus einem Psalm, der das Königtum Gottes besingt. Nach einem Hymnus mit phantastischen Bildern folgt ein Teil, der sich an den Einzelnen richtet, darin auch unser Vers. 

Der Adressat wird aufgerufen, aus seiner Liebe zu Gott emotionale Kraft gegen das Böse zu beziehen. Der Vers ist ein Aufruf zum Kampf, das wird aus dem zweiten Teil klar: Den Kämpfenden wird der Schutz Gottes gegen die gottlosen Frevler zugesagt. Luther übersetzt „Seelen“; das hebräische Wort „nefesch“ bedeutet eher Leben, Existenz, Persönlichkeit, eigentlich nicht eine unsterbliche Entität. 

Ich bin mit meiner Tochter Mathilde im Schwimmbad. Sie hat gesehen, dass ich schreibe und wollte den Vers erklärt bekommen. Ich sagte ihr, der Vers mache Mut, gegen das Böse zu kämpfen, wenn man es sieht. Zunächst wollte sie wissen, was denn das bedeute, gegen das Böse zu kämpfen. Ich sagte ihr, sie könne einschreiten, wenn sie sieht, wie etwas Böses geschieht. Ein Beispiel: Ein großer Junge wirft einen kleinen zu Boden und nimmt ihm etwas weg. Da könne sie dazwischen gehen. Sie meinte, dass solle sie doch gar nicht, das wäre doch Einmischen. Hm. Ich meinte, es gebe aber Fälle, wo es sehr wichtig ist, dass wir uns einmischen. Und dann könnten wir auf Gottes Schutz vertrauen. Sie meinte dann, der Vers sei doch nicht wahr. Die Heilige Katharina habe doch auch gekämpft, und Gott habe sie zwar erst beschützt, dann aber sei sie doch gestorben. Mathilde hat in der Schule gerade ein Referat über die Katharinenkirche geschrieben, daher kennt sie die Heilige. 

Ich habe nachgedacht und ihr den Psalm 91 vorgelesen und ihr gesagt, dass es damit dasselbe Problem gebe. Gott sagt seinen Schutz zu, und doch macht der Psalm selbst klar, dass dieser Schutz nicht allen gilt oder nicht immer. „Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite / und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen.“ Wem gilt der Schutz, und warum nicht Katharina oder Stephanus oder Paulus und vielen andere? Ich sagte ihr, dass Katharina sicher in den Himmel gekommen sei. Damit war sie nicht zufrieden, sie meinte, jeder würde schließlich in den Himmel kommen. Ich antworte nein, die bösen Menschen nicht unbedingt. Die ganz bösen nicht, sagte sie, aber jemand wie sie selbst ja wohl schon, obwohl sie manchmal böse sei. 

Ja, und dabei habe ich es bewenden lassen. Man soll diesen Vers und Psalm 91 sicher nicht als Versicherungspolice gegen Unbill aller Art verstehen. Unser Dasein ist endlich, sagt meine Frau, und Schutz kann daher nicht bedeuten, dass wir immer vom Tode verschont bleiben. Die Psalmworte bedeuten auch, dass man sich um sein eigenes Wohlergehen nicht übermäßig sorgen soll, nicht so sehr jedenfalls, dass alles andere aus dem Blick gerät. Es gibt Wichtigeres als unser Wohlergehen, denn wir dürfen vertrauen, dass wir im Heilsplan unseren Platz haben. Aber Mathildes Frage bleibt: wem gilt der Schutz, und worin besteht er? Was auch immer die Antwort ist: wer sich beschützt weiß, der lebt und stirbt auch beschützt, und bleibt frei und handlungsfähig bis zum Ende.

Ich wünsche uns eine Woche unter Gottes Schutz
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 15/2019

… wenngleich über ihm klingt der Köcher und glänzen beide, Spieß und Lanze.
Hiob 39,23

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Momente mit Gott im Grenzbereich

Weiterhin Passionszeit… ein Vers aus Hiob. Diesmal nicht aus dem Teil, in dem Hiob klagt und fragt, sondern aus Gottes Antwort aus dem Sturm. Zum Buch und seiner existentiellen Frage siehe den Text zum BdW 19/2018

Am Mittwoch sprach ich mit meiner Hebräisch-Lehrerin über den Text eines Lieds von Hanan Ben Ari. Hier ist ein Youtube-Link zu „Mah ata rozeh mimeni? — Was willst Du von mir? Die Schlüsselzeilen lauten: 

Genug geschwiegen. Jetzt sprich:
Was willst Du von mir? Was? Was?
Wer hat Dich gebeten, mir eine Seele zuzuwerfen?
Warum kommst Du nicht zur Mittagszeit? 
Halt mich fest. Sieh mir in die Augen.

Meine Tochter Mathilde hörte das Lied und wollte wissen, was der Text bedeutet. Ich übersetzte ein wenig und sagte, dass der Mann wohl mit Gott redet. Sie meinte, so dürfe man doch mit Gott nicht sprechen. Aber so ähnlich fragen Hiob, Jeremiah und manche der Psalmisten, und am Ende seines Lebens auch Jesus. 

Gottes Antwort aus dem Sturm: Vordergründig geht es um Gottes inkommensurable Macht und seinen über aller Vernunft stehenden Ratschluss, die es unsinnig machen, Rechte einzuklagen. Dahinter handelt der Text aber auch davon, wann und wo man Gott begegnet. 

Zum Beispiel zur Mittagszeit! Die Umgebung unseres Verses liest sich wie folgt: 

Kannst du dem Ross Kräfte geben oder seinen Hals zieren mit einer Mähne? Kannst du es springen lassen wie die Heuschrecken? Schrecklich ist sein prächtiges Schnauben. Es stampft auf den Boden und freut sich, mit Kraft zieht es aus, den Geharnischten entgegen. Es spottet der Furcht und erschrickt nicht und flieht nicht vor dem Schwert. Über ihm klirrt der Köcher und glänzen Spieß und Lanze. Mit Donnern und Tosen fliegt es über die Erde dahin und lässt sich nicht halten beim Schall der Trompete. Sooft die Trompete erklingt, wiehert es »Hui!« und wittert den Kampf von ferne, das Rufen der Fürsten und Kriegsgeschrei.

Ein Pferd, das mit seinem Reiter mit voller Kraft und gänzlich angstfrei auf die gegnerische Schlachtreihe zustürmt — in der gleißenden Mittagssonne blitzen die Waffen und die Welt ist angefüllt von unglaublichen Tönen: donnernde Hufe, Trompeten, überall Rufe und Kriegsgeschrei. Ein Kavallerieangriff, Sekunden vor dem blutigen Zusammenprall. Die Bewegung wird zur Zeitlupe, dann zum „Still“. Da also ist Gott. 

Politisch höchst inkorrekt natürlich. Ich ging mit dem Lied von Ben Ari im Kopf auf meinen Arbeitsplatz zu, in einem Frankfurter Büroturm. Noch ein paar Meter. Ja, warum zeigst du dich nicht, wo bist du? Und auf einmal war da das Morgenlicht, der Aprilhimmel, ich spürte den kühlen Wind, sah die vielfältige Bewegung auf der Straße, die Menschen, die Autos um mich her. Da also! Die Welt als Interface. Der Vers aus Hiob fiel mir ein, ich verstand ihn auf einmal und spürte den Donner der Schlacht und das unaufhaltsame Stürmen des Pferdes unter mir. So betrat ich die vollsynthetische Welt des Frankfurter Trianon, die keine Außenluft kennt. Was für ein Absturz! Und ich wusste, dass das Bild richtig ist, auch wenn ich’s nicht erklären kann.

Momente mit Gott im Grenzbereich. Wollen wir sie eigentlich? Was wollen wir?
Ulf von Kalckreuth

PS: Die erste Antwort Gottes aus dem Sturm (ab Kap 38!) ist von ungeheurer poetischer Kraft. Ich habe erlebt, wie ein Prediger sie einfach nur vorgelesen hat. 

Bibelvers der Woche 03/2019

Zu der Zeit war Moses geboren, und war ein feines Kind vor Gott und ward drei Monate ernährt in seines Vaters Hause.
Apg 7,20

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017.

Stephanus vor dem Sanhedrin, Beit Gemal, Israel

Stephanus Rede

Ein eigentümliches Dokument: Apg 7 ist eine Zusammenfassung wichtiger Teile der biblischen Geschichte im Neuen Testament, gut und anschaulich geschrieben. Wie kommt es dazu? Stephanus, Judenchrist der ersten Stunde, wortgewaltiger und wundertätiger Missionar, wird in Jerusalem vor dem Hohen Rat der Häresie angeklagt. Auf die Frage des Hohepriesters „Ist das so?“ hält er eine Rede. Mit einer Wiedergabe der biblischen Geschichte bis zu den Propheten legt er dar, dass diese zwar, nach dem Willen Gottes, eine Heilsgeschichte ist, dieses Heil aber von den Erwählten wieder und wieder abgelehnt wird. Und nun sei der Träger des Heils, Jesus nämlich, ermordet und die Wahrheit werde verfolgt. Dies ist sehr genau gezielt — sind es doch die Pharisäer selbst, die die biblische Geschichte als Geschichte des Ungehorsams werten. Die Mitglieder des Hohen Rats geraten außer sich. Stephanus aber sieht, wie der Himmel über ihm sich öffnet und bekennt Jesus Christus. Er wird gesteinigt. Ein junger Mann, ein gewisser Saulus, beobachtet interessiert die Hinrichtung.

Der gezogene Vers führt den zentralen Heilsträger der jüdischen Geschichte, Moses, in Stephanus Erzählung ein. Stephanus tut das sehr knapp: Moses war ein „feines Kind“ vor Gott und blieb bei seinen Eltern drei Monate; er war also von Gott erwählt und ein echter Sohn seines Volks, nicht etwa ein Ägypter, wie man seines Namens und der Erziehung am Hof des Pharao wegen hätte meinen können.

Am Freitag bin ich Stephanus begegnet. Meine Tochter Mathilde und ich sind von einem israelischen Freund auf eine kleine Tour durch das Gebirge östlich von Beit Schemesch genommen worden. Einer der Orte, die wir sahen, war Beit Gemal. Dort steht heute ein italienisches Salesianerkloster an der Stelle, wo nach jüdischer und christlicher Tradition bereits im fünften Jahrhundert das Grab von Stephanus, Nikodemus und Gamaliel vermutet wurde. Gamaliel war gemäßigter Pharisäer, Gelehrter, Mitglied des Sanhedrin, Lehrer des Paulus und Mann des Ausgleichs (siehe Apg 5). Nikodemus, ebenfalls Pharisäer und Mitglied des Hohen Rats, wird im Johnannesevangelium mal als versteckter, mal als offener Sympathisant Jesu beschrieben. Hier und oben sind Bilder von Fresken, die Stephanus’ Befragung vor dem Hohen Rat und die nachfolgende Steinigung zeigen.

Stephans wird gesteinigt, Beit Gemal, Israel.

Den Vers dieser Woche hatte ich versehentlich schon vor dem Jahreswechsel gezogen und dann aufgehoben für eine Gelegenheit, bei der ich keine reguläre Ziehung vornehmen konnte. Dies war in der vergangenen Woche der Fall. Umso erstaunlicher für mich die unvermittelte Begegnung mit dem Heiligen und den beiden Pharisäern, die nicht in die Schublade passen — mein Freund hatte mir nicht erzählt, was es mit dem Ort auf sich hatte, und er wusste seinerseits nichts vom Bibelvers der Woche.

Ich schreibe diese Zeilen im Flugzeug von Jerusalem nach Frankfurt. Das Flugzeug setzt zur Landung an. Was tun mit diesem schönen Vers? Moses war ein feines Kind vor Gott — „Dieser ist’s, der in der Gemeinde in der Wüste stand zwischen dem Engel, der mit ihm redete auf dem Berg Sinai, und unseren Vätern. Er empfing Worte des Lebens, um sie an uns weiterzugeben“ sagt Stephanus (Apg 7,38f). Ohne Moses sind Stephanus, Gamaliel, Paulus und Jesus selbst nicht denkbar. Stephanus weiß das sehr gut, kurz vor seinem Tod. Als Geschenk habe ich von dem Salesianerkloster eine Bibel in hebräischer Sprache mitgenommen, Altes und Neues Testament in einem Band… 

Ich wünsche uns allen eine gute Woche,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 37/2018

Und die Kinder Israel sprachen zu Mose: Siehe, wir verderben und kommen um; wir werden alle vertilgt und kommen um.
Num 17,27

Hier ist ein Link für den Kontext, zur Übersetzung von 2017. 

Furcht vor Gott

Für diesen Bibelvers gibt es einen engeren Kontext und einen weiteren. Im engeren geht es um den Konflikt zweier rivalisierender Eliten, die das Priestertum und die Führungsrolle unter den Leviten beanspruchen: die Kohaniter und die Korachiter. Die Kohaniter führen sich auf Aaron zurück, den Bruder Mose, und im Jerusalemer Tempeldienst stellen sie die Priesterkaste — andere Leviten durften nur niedere Dienste verrichten. Die Korachiter — „die Rotte Korach“ — tauchen auch später noch als Lyriker und Musiker auf, im Buch der Psalmen werden sie immer wieder genannt. Der Abschnitt erzählt, wie Gott in den Konflikt zwischen den beiden Gruppen in brutaler Weise eingreift und ihn für die Kohaniter entscheidet. 

Von dem Streit wird an einer Stelle berichtet, in der es zu einer Krise im Zusammenleben des in der Wüste wandernden Volks mit ihrem Gott gekommen war. Das ist der weitere Kontext. Die „Langfassung“ des Aufschreis des Volks könnte wie folgt lauten:

„Mose, was sollen wir tun? Die Kundschafter sind aus dem Geloben Land zurückgekommen und hatten schreckliche Neuigkeiten: Das Land starrt vor Waffen und seine Einwohner sind unbesiegbar. Wir können nicht sehenden Auges ins Verderben rennen. Und unser Gott, der uns herausgeführt hat aus Ägypten, sagt uns, dass wir alle, jeder einzelne von uns, verrotten sollen in der Wüste, dass keiner das Land sehen wird, erst unsere Nachkommen sollen dorthin gelangen. Wir wurden furchtbar geschlagen, als wir dennoch den Angriff wagten. Und dann tat sich die Erde auf und verschlang die Korachiter, 150 Mann, unsere Vorbeter, Sänger, und Musiker, sie sind in eine glühende Felsspalte gefallen. Und als wir dann schrieen in Zorn und Angst, brachte Gott die schreckliche Pest über uns, die in Windeseile über vierzehntausend von uns hinwegraffte! Wir sind hier in der Steinwüste,  haben alles verloren, wissen nicht wohin, wir sind verurteilt, hier zu sterben. Mose, Gott tötet uns!!“

Da fällt einem vieles ein. Krieg, Vertreibung, Erdbeben, Krankheit, Tod. Die Zerstörung Lissabons im Jahr 1755 hat unauslöschliche Spuren in der europäischen Geistesgeschichte hinterlassen: es fiel vielen schwer, danach noch an einen gütigen Gott zu glauben. 

Und wie kann man denn angstfrei sein vor Gott? Diese Welt ist sein Werk. Sie ist das Interface, über das er mit uns spricht. Man muss man ihm also all dasjenige zutrauen, was diese Welt an Martern zu bieten hat, und das ist eine ganze Menge. Das Alte Testament ist nicht sparsam darin, Gewaltakte des Höchsten zu beschrieben: die Sintflut, die Zerstörung Sodoms, die schreckliche Bestrafung der Ägypter, der Babylonier, immer wieder auch des eigenen auserwählten Volks, der furchtbare Genozid an den Völkern in Kanaan. Und die in den Prophetien des Alten wie des Neuen Testaments manifestierten Erwartungen übersteigern diese Bilder noch!

Mich überfordert dieser Vers. Luther hat der Frage, wie man einen gnädigen Gott bekommt, sein Leben gewidmet. Ich bin kein Theologe, und hier braucht es mehr als Theologie. Aber ich habe diesen Vers gezogen, also will ich mich stellen!

Die Frage, die der Vers stellt, ist so groß, dass es mehrere Antworten gibt, und vielleicht ist keine davon stets und immer gültig. Die erste Antwort folgt in den darauf folgenden Abschnitten. Der Herr gibt dem Volk über Moses seine Regeln (hier: die des Tempeldiensts), und wer sich daran hält, hat nichts befürchten. Das ist eine (!) klassische Antwort des Judentums. Eine zweite Antwort gibt Psalm 91: „Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite / und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen.“ Das Grauen wütet in der Welt, aber es trifft nicht die, die unter Gottes besonderem Schutz, die mit ihm im Bund stehen. Eine dritte Antwort gibt Num 14, wo die Israeliten verurteilt werden, Zeit ihres Lebens in der Wüste zu bleiben. Gott hat sich geäußert, wir kennen ihn, er ist keine blinde Naturgewalt. Im Gespräch mit Gott erinnert Mose ihn daran, wie er selbst sich vorgestellt hat: »Der HERR ist geduldig und von großer Barmherzigkeit und vergibt Missetat und Übertretung« Die Christen können auf Jesus vertrauen, der uns in Gott den gütigen Vater zeigt. Eine vierte Antwort steckt im gezogenen Vers selbst: Ja, so ist es. Das Leben ist Verzweiflung, die Entfernung zu Gott ist nicht zu überbrücken, das Ende ist Dunkelheit und es gibt kein Entrinnen. So sagt es Psalm 88, ein Psalm der Korachiter übrigens, und als Möglichkeit scheint diese Antwort in vielen anderen Stellen der Bibel auf. Diese Antwort ist ernst zu nehmen und wert bedacht zu werden, sie bleibt stets bestehen, und sei es als Referenz.

Eine fünfte Antwort steckt in den Lobpreispsalmen und in Hiob: Die Welt ist, wie sie ist, aber Gott ist so unermesslich groß, dass sie bedeutungslos wird. Liebhaber der Mathematik können an eine Folge denken, die den Nenner gegen unendlich gehen lässt und jeden noch so großen Zähler ins Nichts wirft. In Gottes Größe ist die Welt aufgehoben. Wir verstehen nicht warum, aber in Gott ist die Welt gut. Diese Antwort kenne ich von Juden, es ist aber, so glaube ich, auch die Antwort, die Jesus uns gibt, wenn er im Leiden der Welt auf das Reich Gottes verweist. Das Reich Gottes ist nirgendwo und nirgendwann, es ist in Gott selbst, in dem das Leid der Welt aufgehoben und bedeutungslos ist. Das Reich Gottes anzunehmen, wirft Licht bereits in diese Welt. Eine Christin sagte mir einst, sie denke an Gott, wenn die Sorgen zu groß werden. Das hilft wirklich, und das fast augenblicklich, es hilft immer, wenn ich daran denke, es zu tun!

Ich denke über den Vers und mögliche Antworten nach, während ich schwimme. Es ist ein strahlender Frühherbsttag im Freibad. Ich bin ein guter Schwimmer, eine um die andere Bahn lege ich zurück und denke dabei an Luther, den Tod, der uns alle erwartet, an die Gesetzlichkeit, die Gnade. Mein Kopf ist unter Wasser, ich schaue nach unten, wo auf dem Metall des Beckenbodens die Reflexe der Wellen tanzen und sehe die Blasen aufsteigen, die ich mit meinen Kraulzügen nach unten drücke. Mit jedem vierten Zug drehe ich den ganzen Körper nach rechts, wende mein Gesicht in den blendendblauen Himmel und atme tief. Das Wasser trägt mich und meinen beschädigten Rücken, der Rhythmus, die Kraft und das Licht schaffen eine eigene Welt, der Moment ist unbeschreiblich schön.

Da erkenne ich, dass Angst falsch ist. Obwohl es Gründe genug dafür gibt. Wasser kann tödlich sein — vielleicht nicht im Hausener Freibad, aber an vielen anderen Orten, wo ich schon geschwommen bin. Aber sich zu ängstigen, ist dem Leben nicht dienlich. Beim Schwimmen würde ich sofort den Rhythmus verlieren, und wenn die Angst zu Panik wird, kann ich sogar ertrinken.

Angst ist falsch. Obwohl das Urteil steht. Das Leben reibt unsere Leiber auf, unausweichlich, und auf dieser Welt bleibt uns nichts. Das steht so fest, dass es befreiend wirken mag: wenn es keine Alternative gibt, hat die Angst ihren Hebel, ihren Anspruch verloren! Jetzt, in diesem Moment, trägt mich das Wasser, trägt mich der Herr. Nur das zählt. Vielleicht ist es dies, was Jesus uns mit dem Gleichnis von den Lilien auf dem Feld sagen will.

Was könnte ein Israelit sich damals gedacht haben, wenn er nachts aus dem Zelt blickte, in das Sternenmeer im schwarzen Himmel über der Wüste? Was denken Sie?

Ich wünsche uns eine Woche in Gottes Gnade, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 16/2018

Und daselbst kam des HERRN Hand über mich, und er sprach zu mir: Mache dich auf und gehe hinaus ins Feld; da will ich mit dir reden. 
Hes 3,22

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Ezechiel, auch Hesekiel genannt, war ein junger Tempelpriester, der von den Babyloniern aus seiner Heimat in Juda verschleppt worden war. Es war dies die sogenannte erste Verschleppung, die nur einen Teil der Elite betraf. Nebukadnezar von Babylon hatte zwar dem Großmachtstreben des jüdischen Staates ein brutales Ende bereitet und diesen Staat auf einen Kern rund um die Stadt Jerusalem reduziert. Aber noch stand sie, die Hochgebaute. Ihre Zerstörung in einem weiteren Krieg und die Verschleppung größerer Teile der jüdischen Bevölkerung stand erst bevor. 

Ezechiel lebte mit seinen Gefährten am Fluss Kebar in einer babylonischen Stadt namens Tel Abib —von der viel später die heutige israelische Hauptstadt ihren Namen erhielt. In den Abschnitten vorher wird erzählt, wie Ezechiel seine Berufung als Prophet erhielt: in einer überwältigende Vision begegnet er dem Herrn, der ihn in seinen Dienst nimmt. Nicht als beamteter Tempelpriester, sondern als Prophet. Und nun will der Herr ein zweites Mal das Wort an ihn richten. Der gezogene Satz oben lautet fast gleich wie Eze 1, 3, mit der sich die erste Erscheinung ankündigt. 

Wie mag sich das angefühlt haben? 

Ich wollte es nachspüren. Vielleicht richtete sich der suggestive Vers, den ich gezogen hatte, ja auch irgendwie an mich selbst. Bei der Dichte von Verpflichtungen beruflicher und privater Art kostete es mich fast eine Woche, bis ich überhaupt vor die Tür kam. Am Ende gelang es nur dadurch, dass ich beschloss, den Weg zur Arbeit zu Fuß zu gehen statt mit dem Fahrrad zu fahren. 

Durch das Niddatal, den Niddapark und den Grüneburgpark in die Innenstadt. Eine Stunde und zwanzig Minuten. Die Übersetzung des gezogenen Verses enthält eine Ungenauigkeit: es sollte nicht „Feld“ heißen (hebräisch ßadé) sondern „Ebene“. Eigentlich ungewöhnlich — Gottesbegegnungen in der Bibel haben ihren Platz sonst eher im Gebirge oder in der Wüste. Als ich unterwegs war und über den Vers nachzudenken begann, verstand ich, dass ich vielleicht das richtige getan hatte. Die Verschleppten saßen in einer Stadt, die an einem Fluss lag. Wenn Ezechiel auf die „Ebene“ hinausgehen sollte, war damit gerade nicht Einöde und meditative Ruhe gemeint, sondern die Flussebene —ein zwar offener, aber belebter Raum, in dem Verkehr und Bewegung von und zu der Stadt stattfand. Vielleicht war Ezechiel in seinen Möglichkeiten eingeschränkt; wie ich, der ich nun auf dem Weg zur Arbeit die Nidda überquerte.

Auch in der Ebene allerdings ist man ungeschützt. Schon als ich das Haus verließ, war der Himmel dunkel. Recht bald wurde er schwarz, es begann zu regnen, Blitz und Donner gesellten sich dazu. Ich hatte von vornherein darauf verzichtet, beim Gehen wie sonst Musik zu hören. Das Wasser, die Blitze und die sich in ein Matschfeld verwandelnde Landschaft um mich herum machte nun alles sehr konkret und real.  

Ich erinnerte mich, was ich von Ezechiel wusste. Unter Christen ist er im Vergleich zu den anderen beiden „großen“ Propheten Jeremiah und Jesajah weniger gut bekannt, weil seine Bilder von Gottes Erbarmen für die Zeit nach der Zerstörung nicht recht kompatibel sind mit den heilsgeschichtlichen Vorstellungen des Christentums. Für die Juden aber und ihre mystischen Traditionen sind seine Gottesvisionen von sehr großer Bedeutung, besonders die erste, die er genau beschrieben hat. 

Nach seiner ersten Begegnung mit Gottwar Ezechiel eine Woche lang „verstört bei seinen Gefährten gesessen“. Vermutlich wäre Ezechiel heute in einer geschlossenen Anstalt untergebracht worden. Direkte Begegnungen mit Gott werden in der Bibel als unerträglich beschrieben. Niemand kann Gott sehen, ohne zu sterben. Selbst Mose durfte (wie Ezechiel) nur ein Bild sehen, die „Herrlichkeit Gottes“. Als nun Gott ihn am Ende dieser Woche zu einem zweiten Treffen nach draußen fordert, weiß Ezechiel noch nicht, was auf ihn zukommt, aber die erste Erfahrung steckte ihm noch in den Knochen.

Ezechiel weicht der — potentiell tödlichen — Begegnung nicht aus. Aber es war mir nun völlig klar, dass er große Angst hatte, und nicht ohne Grund. Diesmal erhält er einen konkreten Auftrag. Er soll die Umgebung vor der drohenden Katastrophe für Jerusalem warnen. Aber dies hatte wortlos zu geschehen: für lange Zeit verlor er die Sprache und war gezwungen, sich pantomimisch und mit Hilfe von Zeichnungen und selbstgebauten Modellen zu äußern. Dabei war Ezechiel ein am Wort orientierter, scharfsinniger und intellektueller Mensch. Sein Text ist verständlich und sprachlich beeindruckend, gut aufgebaut und enthält keine der redaktionellen Brüche und Überblendungen, die das Verständnis anderer Propheten so schwer machen. Und hinter der klaren Sicht spürt man eine große Wärme. In diesem Augenblick stand er mir sehr nahe. 

Gott kann sich auf viele Weisen äußern. Hier ist eine. Mittlerweile war ich durchnässt auf der Fußgängerbrücke über die Stadtautobahn angekommen. U- und Straßenbahnwagenfahrer streikten an diesem Tag. Der Verkehr in Frankfurt war völlig zusammengebrochen. Ich stand hoch oben und im Wolkendunkel war der Weg in die Stadt markiert mit einer unbeweglichen rotleuchtenden Spur aus Rücklichtern. Nach hinten in die Gegenrichtung waren es weiße Lichter, bis zum Horizont. Und ich konnte mich selbst sehen, wie von noch weiter oben, völlig ungehindert und in angenehmen, schnellen Tempo über die Brücke gehend, in den Grüneburgpark hinein. Der Regen war nass, aber weiter kein Problem. Vor mir, im 29. Stock eines dreieckigen Hochhauses, lag eine Arbeit, die oft frustrierend war, oft aber auch interessant, die mir immer wieder neue Möglichkeiten eröffnet hat, und mich jenseits aller relevanten materiellen Sorgen stellt. Zu Hause erwarten mich eine Frau und zwei Kinder, drei komplizierte Menschen, alle auf ihre Weise wertvoll und kreativ, eigene Welten, an deren Werden, Wandeln und auch Vergehen ich beteiligt war. Am Nachmittag würde ich mir freinehmen und auf die Frankfurter Musikmesse gehen. Am Sonntag würde ich im Gottesdienst singen und Gitarre spielen. Auf dem Weg zur Arbeit konnte ich mit meinem Gott sprechen oder auch mit den Propheten, wenn nötig auf Hebräisch, und in einigen Wochen würde ich wieder in Israel sein, in Jerusalem. 

Musik, Familie, Gott, Arbeit, Sprache, Bewegung. Und ich ging weiter durch das dampfende, brodelnde Aprilwetter. Phantastisch! Ich fand mein eigenes Leben auf einmal spannend, reich und interessant. Trotz meiner 55 Jahre. Lange Zeit hatte ich das nicht mehr gefühlt. Wer würde nicht mit mir tauschen wollen? Was hätte denn Ezechiel gewählt —sein eigenes Leben oder meins? Wohl doch sein eigenes, er hätte es für wesentlich und notwendig gehalten, trotz der Unzuträglichkeiten eines Daseins im sechsten vorchristlichen Jahrhundert im Allgemeinen und seiner schwierigen Lage im Besonderen.

Ja, und am Nachmittag wanderte ich im weiter strömenden Regen zum Frankfurter Messegelände und hatte dort drei Begegnungen mit großartigen Gitarristen, von denen ich wichtige Dinge lernte.

Ich wünsche uns eine gesegnete Woche!
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 14/2018

Da sich nun der Philister aufmachte und daherging und nahte sich zu David, eilte David und lief auf das Heer zu, dem Philister entgegen.
1 Sa 17,48

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Patt — und ein Ausbruch

Das judäische Heer König Sauls und das Heer der Philister stehen sich gerüstet auf zwei Bergen gegenüber, dazwischen ein Tal. Man kann den Schauplatz noch heute besichtigen, ich bin dort gewesen, ein Freund hat mich an die Stelle geführt. Die Schlacht ist jederzeit möglich, ein Angriff aber — der Israeliten wie der Philister — wäre mit großen Verlusten verbunden. Der jeweilige Angreifer müsste hinab ins Tal und wäre dort Ziel für die Pfeile und Speere des Verteidigers; dann müsste er bergauf kämpfen. Die Philister fordern die Israeliten zu einem Stellvertreterkampf heraus: einer der ihren, Goliath, soll gegen einen ausgewählten Israeliten kämpfen und so den Krieg entscheiden. Recht eigentlich eine schöne Lösung. Ein solcher Stellvertreterkampf wird auch in der Ilias versucht, zwischen Paris und Menelaos. Aber die Parteien halten sich nicht an die vereinbarten Regeln. Vielleicht gäbe es ja Troja noch, wenn es gelungen wäre…

Keiner der Israeliten wagt es, gegen den gewaltigen Krieger anzutreten, viele Tage lang. Verzweiflung macht sich breit. David, ein Junge noch und ohne Ausbildung an den Waffen, erträgt es nicht länger und meldet sich. Saul akzeptiert das Angebot. David kann die Rüstung Sauls nicht tragen und geht ohne Rüstung in dem Kampf, bewaffnet nur mit einer Steinschleuder. So — jung, schnell und wendig, unerfahren, aber auch unterschätzt, mit großem Vertrauen in Gottes Hilfe und seine eigene Kraft, unglaublich präsent, schön — tritt er dem Goliath entgegen. Der Kampf beginnt.

Frohe Ostern,
Ulf von Kalckreuth